Seitdem die SPD in den zurückliegenden Jahren bei Wahlen zum Bundestag und zu Landtagen drastisch an Wählerstimmen verloren hat, kam immer wieder die Frage auf, ob sie überhaupt noch Volkspartei sei. Und hier und da wurde sogar in der eigenen Partei darüber spekuliert, dass der Anspruch, Volkspartei sein zu wollen, gar nicht so wichtig wäre. Dabei wurde oft übersehen, dass mit diesem Anspruch die eigene Überzeugung verbunden ist, Politik für die große Mehrheit der Menschen machen zu wollen. Inzwischen ist die Sorge, den Status Volkspartei zu verlieren, in der CDU ausgebrochen und bestimmt die Diskussion um deren Zukunft in erheblichem Maße. Das muss die Sozialdemokratie nicht beunruhigen, sondern vielmehr Ansporn sein, an ihrem Anspruch als Volkspartei festzuhalten.
Spätestens mit dem Ergebnis der Bundestagswahl am 26. September dieses Jahres ist jedenfalls deutlich geworden, dass die SPD in ihrer Rolle als Volkspartei gestärkt und als einzige Partei von Gewicht in die Lage versetzt worden ist, eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Besonders ihre innovative Kraft, ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, ihre enorme sozialpolitische Kompetenz und ihre Fähigkeit, individuelle Vielfalt im gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten, hat die SPD wieder für Wählerinnen und Wähler aus ganz unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbereichen attraktiv und wählbar gemacht. Und mit der klaren Ansprache von Olaf Scholz, politischen Respekt vor der individuellen Lebens- und Arbeitsleistung jedes einzelnen Menschen zu zeigen, ist die Tugend der Sozialdemokratie, Solidarität in der Gesellschaft zu mobilisieren und zu organisieren, wieder deutlich erkennbar geworden. Nicht als Sammlungsbewegung von gesellschaftlichen Minderheiten aufzutreten, sondern als Volkspartei politische Mehrheiten zu organisieren, die dann auch den Schutz von Minderheiten gewährleisten, ist Aufgabe der SPD. Oder anders: Diejenigen, die Solidarität geben können mit denjenigen zusammenzubringen, die Solidarität brauchen, dieser gesellschaftliche Gestaltungsanspruch bleibt ein politisches Alleinstellungsmerkmal der SPD. Starke Schultern können eben mehr tragen. Darauf ist der Sozialstaat gebaut, dadurch wird selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Sicherheit erst möglich.
Eine Volkspartei bestimmt sich also nicht zuallererst durch die Höhe eines Wahlergebnisses, sondern von ihrem eigenen Anspruch, die gesamte Gesellschaft in ihrer Vielfalt, in der Verschiedenartigkeit und Unterschiedlichkeit der Menschen aufzunehmen und zu repräsentieren. Das verlangt ein hohes Maß an Aufnahmebereitschaft und Integrationsfähigkeit in der gesamten Partei und es verlangt nach Ausgleich der unterschiedlichen Interessen und nach Kompromiss. Dabei müssen die Leitplanken durch das Gemeinwohl bestimmt sein. Gemeinwohl ist nicht vorgegeben, fällt nicht vom Himmel, sondern ergibt sich aus Diskussion, auch aus Streit in der Sache, ist also immer auch Ergebnis eines Interessensausgleichs, der niemand überfordert oder gar übergeht, der aber die Interessen der hart arbeitenden Menschen ebenso besonders berücksichtigt wie diejenigen der gesellschaftlich benachteiligten Menschen.
Es ist das Verdienst der Grundwertekommission der SPD, besonders in Zeiten niedriger Wahlergebnisse dafür geworben zu haben, die Rolle als Volkspartei nicht aufzugeben. „Die Zukunft der SPD als Volkspartei“, hat sie 2010 ihr Positionspapier überschrieben und gleich zu Beginn unmissverständlich festgestellt: „Die SPD bleibt Volkspartei“. Ihre Feststellung begründet die Grundwertekommission so: „Die SPD bleibt, was sie seit dem Godesberger Programm von 1959 immer war und sein wollte, eine linke Volkspartei. Unbeirrbar verankert in ihren Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientiert sich ihre Politik an einem auf dieser Grundlage in öffentlichen Debatten zu erringendes Gemeinwohlverständnis, das in besonderer Weise die Interessen der produktiven und innovativen Mittelschichten, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der gesellschaftlich Benachteiligten einbezieht. Die SPD ist keine Klientelpartei, die die Interessen einer gesellschaftlichen Gruppe gegen die Übrigen durchsetzen will. Die SPD begründet ihren Anspruch aufs Neue, auch in der veränderten Parteienkonstellation der Bundesrepublik führende Regierungspartei sein zu können.“
Der Anspruch ist jetzt, 2021, eingelöst.
Und jetzt ist die Fähigkeit zum Interessensausgleich in einer für die Bundesrepublik Deutschland neuen und ungewohnten Koalition aus drei Parteien gefragt. Die SPD wird jedenfalls daran gemessen werden, wie es ihr gelingt, in dieser Koalition ihre Führungsrolle als Regierungspartei so auszuüben, dass die beiden anderen Parteien mit ihren Interessen und Vorstellungen und vor allem gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern erkennbar und anerkannt bleiben können. Kein leichtes Unterfangen. Aber Koalitionen sind nun mal keine Alleinregierungen. Politische Absolutheitsansprüche haben keine Chance. Mit dem Kopf durch die Wand ist keine Lösung. Dabei hilft der SPD ihre jahrzehntelange Erfahrung, als Volkspartei selbst für einen permanenten innerparteilichen Interessensausgleich sorgen zu müssen, der das Gemeinwohl fest im Blick hat. Und es hilft die Erfahrung, diese innerparteilichen Festlegungen anschließend mit Beharrlichkeit und Konsequenz in der Gesellschaft zu vertreten und mehrheitsfähig gemacht zu haben. Das gilt für die Ostpolitik im Einklang mit der Friedens-, Sicherheits- und Entspannungspolitik der Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt in den sozialliberalen Koalitionen genauso wie die grundlegende Reform der Betriebsverfassung und die Einführung der paritätischen Mitbestimmung in den Aufsichtsräten von Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten durch dieselben Regierungen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Exkurs: Ich habe als SPD-Fraktionsvorsitzender im nordrhein-westfälischen Landtag etwa 20 Monate Erfahrungen mit einer Koalitionsregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gewonnen, die keine eigene Mehrheit im Landtag mit fünf Fraktionen hatte. Eine Stimme unterm Durst, so war die Lage. Und dennoch war das Regieren für Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und ihr Kabinett gut möglich und für die Menschen und das Land erfolgreich. Dafür haben neben der Regierung vor allem die Abgeordneten der Regierungsfraktionen gesorgt. Die mussten Mehrheiten mit den Oppositionsfraktionen ausloten, vorbereiten und dann zusammen mit den Fraktionsführungen organisieren. Das ergab bunte Mehrheiten. Mal mit der CDU, mal mit der FDP, mal mit den Linken, nicht selten mit zweien und auch mal mit allen dreien konnten die Regierungsfraktionen ihre Vorhaben im Parlament durchsetzen. Und in diesen Meinungs- und Willensbildungsprozessen half die Erfahrung der SPD als Volkspartei mit ihrem festen Willen zum Interessensausgleich, ohne die eigene politische Führungsrolle aufzugeben. Das war schweißtreibend, nervenaufreibend und zeitaufwendig – aber auch erfolgreich. Der parlamentarischen Demokratie hat es nicht geschadet, im Gegenteil.
Selbstverständlich artikulieren sich heute die unterschiedlichen Interessen in unserer Gesellschaft anders als vor 70, 50, 30 oder auch vor zehn Jahren. Und deshalb muss die SPD ihre Antennen immer wieder neu so ausrichten, dass sie die Signale und Botschaften aus der Gesellschaft auch empfangen kann. Es ist keine Floskel, dass eine Volkspartei wie die SPD nahe bei den Menschen sein muss. Wie sollte sie von deren Hoffnungen und Wünschen, von deren Sorgen und Nöten denn sonst aus erster Hand erfahren?! Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen bildet sich ihre Meinung über Politik und Parteien an ihrem Lebensmittelpunkt und in ihrem familiären und persönlichen Umfeld. Deshalb ist die SPD gut beraten, dort besonders präsent zu sein.
Inzwischen gibt es mit den neuen Medien, dem Internet, den Videokonferenzen und Zoom-Gesprächen auch Kommunikationsformen, die eine physische Präsens der Akteure ergänzen, ersetzen können sie die direkte persönliche Ansprache aber nicht. Politisches Vertrauen entsteht vor allem in Gesprächen, durch Diskussionen von Angesicht zu Angesicht, durch direkte Kontakte – die Volkspartei SPD ist ohne den Einsatz von Menschen für Menschen nicht denkbar. Das drückt sich vor allem durch die Arbeit der vielen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten als ehrenamtliche Helferinnen und Helfer vor Ort aus. Indem sie sich in Sportvereinen, Kirchengemeinden, Elterninitiativen, Wohlfahrtsverbänden, Schützen- und Karnevalsvereinen, Nicht-Regierungsorganisationen, Heimat- und Geschichtsvereinen, Bürgerinnen- und Bürgerinitiativen und in anderen zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen engagieren und mitmachen und sich für andere einsetzen, sorgen sie gleichzeitig für „sozialen Kitt“, ohne den unsere Gesellschaft auseinanderfallen würde.
Die Bedeutung von ehrenamtlicher Arbeit hat der ehemalige NRW-Ministerpräsident und Bundespräsident Johannes Rau einmal so gewürdigt: „Das Ehrenamt ist der Kitt, welcher die Gesellschaft zusammenhält.“ In dem Maße also, wie die SPD durch ihre Mitglieder für Vertrauen bei Menschen wirbt und damit für Anschluss im gesellschaftlichen Umfeld sorgt, bleibt auch die Volkspartei SPD anschlussfähig für andere demokratische Parteien und damit für mögliche Koalitionen.
In der Praxis heißt das, dass die SPD im regelmäßigen Austausch mit den Gewerkschaften, den Unternehmensverbänden, den Kirchen und Religionsgemeinschaften, den Wohlfahrtsverbänden, den verschiedenen Initiativen und gesellschaftlichen Gruppen bleiben muss, wenn sie auf der Höhe der Zeit sein und damit die Grundlage für „glaubwürdige programmatische Bündnisse zwischen dem engagierten solidarischen Bürgertum auf der einen Seite, den Milieus der Arbeitnehmer und den Benachteiligten der Gesellschaft“ (Grundwertekommission) schaffen will. Dabei bleibt das besondere Verhältnis von Sozialdemokratie und Gewerkschaften für die Mehrheitsfähigkeit der SPD von herausragender Bedeutung. Aus der gemeinsamen Entstehungsgeschichte innerhalb der Arbeiterbewegung speist sich jedenfalls bis heute der gemeinsame Einsatz für die arbeitenden Menschen und ihre Stellung in Wirtschaft und Gesellschaft. Und dafür sind die vielen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in den Betriebsräten und Personalräten sichtbares Zeichen und wichtiges Scharnier zwischen Partei und Arbeitswelt. Auch als Volkspartei bleibt die SPD also die Partei der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ohne ihren Charakter als politische Anlaufstelle für alle in unserer offenen und demokratischen Gesellschaft aufzugeben. Ja, die SPD muss als Volkspartei erkennbar bleiben, ihre Programmatik darf nicht in Klientelpolitik abrutschen. Besonders in Phasen der Aufsplitterung im Parteiensystem kommt es also darauf an, dass die SPD an ihrer „großen Fähigkeit zum politischen und gesellschaftlichen Kompromiss innerhalb der eigenen Organisation“ (Grundwertekommission) festhält und damit einen unschätzbaren Dienst für die Stabilität unserer demokratischen Gesellschaft leistet.
Zum Autor: Norbert Römer(SPD) ist seit 2005 Abgeordneter im Landtag von Nordrhein-Westfalen und war von 2010 bis 2018 Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion.