Der emotionale und identitätsstärkende Stellenwert, den Fußball, die oft so genannte schönste Nebensache der Welt, hierzulande nach wie vor hat, zeigt sich gegenwärtig, zu Beginn der Europameisterschaft. Die Bilder aus den Stadien und den Fan-Zonen sagen viel aus über einen Mannschaftssport, der für viele Spieler und ihre Anhänger, selbst wenn sie nicht selbst aktiv sind, ein wichtiger Teil ihres Lebens ist. Problematisch wird es nur, wenn es zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen kommt. Dann wird aus der Nebensache schnell ein Ärgernis und Schlimmeres. Die Angst vor Ausschreitungen gehört heute leider zum Alltag des Fußballs. Dennoch ist die Identifikation mit einer Mannschaft oder einem Verein etwas Besonderes und sorgt für viele positive Gefühle.
Wenn man wie ich aus einer Familie stammt, in der seit Generationen der Fußball ein großes Thema war und ist, dann ist nicht nur die Nationalmannschaft, sondern auch der Fußballverein des eigenen Ortes ein wichtiger Teil der Identifikation mit der Heimat. Ein solcher Verein war der Ballsportverein Delbrück (BV Delbrück) im heutigen Kreis Paderborn. In ihm spielten mehrere Brüder meines Vaters und später deren Söhne. Mein Vater selbst stand nicht in der Mannschaft, aber er sollte eine wichtige Rolle in der hier wiedergegebenen Geschichte spielen. Den BV Delbrück gibt es heute nämlich nicht mehr, weil es im Jahr 1949 zu einem unrühmlichen Ende einer erfolgreichen Saison kam.
Aber der Reihe nach: Der BV Delbrück war ursprünglich eine Abspaltung der Deutschen Jugendkraft Delbrück (DJK Delbrück). Von diesem Verein unter dem Dachverband des katholischen Sports hatte sich bereits im Jahr 1925 die Fußballabteilung abgespalten und den BV Delbrück gegründet. Wie in der Chronik des Nachfolgevereins, des Delbrücker Sport-Club (DSC) nachzulesen ist, war nach dem Zweiten Weltkrieg der fußballerische Wiederbeginn mühsam. Allerdings erzielte die A-Jugend des BV schon bald wichtige Erfolge: Im Jahr 1947/48 wurde sie ungeschlagen Kreismeister, daran anschließend ostwestfälischer Jugendmeister und stand schließlich gegen den STV Horst-Emscher aus Gelsenkirchen im Endspiel um die Westfalenmeisterschaft. Dieses Spiel ging jedoch mit 1:2 verloren. Dem Siegtor des Gegners war eine umstrittene Schiedsrichterentscheidung vorausgegangen, wie sich ein Zeitzeuge der damaligen Ereignisse erinnert.
Und damit begann das Ende des BV Delbrück. Denn nach dem Abpfiff gingen einige der Spieler auf den Schiedsrichter los. Das Westfälische Volksblatt, die Heimatzeitung im Kreis Paderborn, schrieb später kurz und knapp: „Durch unliebsame Vorfälle wurde im Jahr 1949 der Fußballsport in Delbrück lahmgelegt“. Der langjährige Vorsitzende des Nachfolgevereins, Heinz Austerschmidt, drückte es in einem Interview mit der Stadionzeitung im Jahr 2020 so aus: „1949 wurde der BVD nach unschönen Szenen mit einem Schiedsrichter für zwei Jahre vom Spielbetrieb im Westdeutschen Fußballverband ausgeschlossen.“ Der DSC-Eintrag bei Wikipedia beschreibt es etwas genauer: „Im Jahre 1949 kam das Ende des BV Delbrück. Nachdem es bei einem Spiel auf dem heimischen Laumeskamp zu einer Schlägerei mit Angriffen auf den Schiedsrichter gekommen war, wurde der Verein zunächst für zwei Jahre vom Spielbetrieb ausgeschlossen.“
Für den Fußball in Delbrück war dies natürlich eine Katastrophe. Als Nachfolger des Ballsportvereins Delbrück gründete sich 1950 der DSC, die Strafe wurde auf ein Jahr verkürzt und während der Zeit der Sperre spielten einige der Nachwuchstalente bei benachbarten Vereinen. Danach gab der Verband für die erste Mannschaft zunächst nur die Spieler der damaligen Jugend frei. Die Annalen des Vereins belegen, dass der Neubeginn erfolgreich verlief und der DSC weiterhin Fußballgeschichte schrieb. Erwähnt sei nur, dass 2004 in diesem Verein die Karriere von Roger Schmidt begann, der hier von 2004 bis 2007 zunächst als Spieler und dann als Trainer wirkte und nach Stationen in Münster, Paderborn, Salzburg, Leverkusen, Peking und Eindhoven heute in Lissabon tätig ist.
Die zitierten Quellen schweigen zu den Hintergründen für die Aggressivität der Delbrücker Spieler nach dem Endspiel um die Westfalenmeisterschaft im Jahr 1949. Sicherlich war das Ergebnis beziehungsweise der Schlusspfiff der Auslöser. Aber zur tieferen Ursache der Attacke auf den Schiedsrichter gibt es bisher wenig konkrete Hinweise. Deshalb ist vielleicht die Erinnerung des bereits erwähnten Zeitzeugen aufschlussreich, der damals dabei war und etwas über die Hintergründe sagen kann.
Dieser Zeitzeuge ist Anton Happe, Jahrgang 1931, der jüngste Bruder meiner Mutter. Er erinnert sich, dass mein Vater, der als Sekretär bei der Kreisverwaltung in Wiedenbrück arbeitete, im Zug von Wiedenbrück nach Delbrück zufällig ein Gespräch mithörte. Mit ihm im Zug nach Delbrück fuhr nämlich der Schiedsrichter der anstehenden Partie. Und dieser Schiedsrichter bekundete seine Absicht, es den Delbrückern, die anscheinend für ihre robuste Spielweise bekannt waren, „ordentlich zu zeigen.“
Mit dieser Information war einer der Brüder meines Vaters, der in der Mannschaft spielte, natürlich vorgewarnt. Ob er seine Mannschaftskameraden entsprechend informiert hat, sei dahingestellt. Auf jeden Fall erinnert sich Anton Happe lebhaft daran, wie die Faust meines Onkels auf den Schiedsrichter niederfuhr. Das Ergebnis ist bekannt: Tumult, Schlägerei, Sperre.
Die Tatsache, dass es dieser Aspekt der Ereignisse nicht in die Vereinschronik geschafft hat, spricht dafür, dass nicht sehr viele darüber informiert waren. Wäre dies der Fall gewesen, hätte die Sperre möglicherweise noch viel drastischer ausfallen können, denn dann wäre ein gewisser Vorsatz nicht auszuschließen gewesen. Aber das muss Spekulation bleiben.
Auf jeden Fall waren mein Vater und einer seiner Brüder mitverantwortlich für eine besondere Wendung in der Vereinsgeschichte des Delbrücker Fußballs. Dass, wie damals, die Emotionen auch manchmal zu weit gehen, war und ist nicht immer zu verhindern. Die Sperre für den Verein war seinerzeit zweifellos gerechtfertigt, vor allem, wenn man noch etwas mehr über die Hintergründe weiß. Eine bis dahin sehr erfolgreiche Fußballsaison endete aber leider unrühmlich. Ein Fall von unkontrollierten Gefühlsausbrüchen. Heute kann man über die Geschichte vielleicht schmunzeln, doch damals bedeutete sie das Ende eine Vereins.
Für die diesjährige Europameisterschaft kann man nur hoffen, dass sich die Emotionen auf und neben dem Spielfeld nur positiv äußern und nicht außer Kontrolle geraten. Fußball ist vielleicht die schönste Nebensache der Welt, aber bei aller Liebe und Wertschätzung eben doch nur eine Nebensache. Und anders als hier geschildert sind es in der Regel nicht so sehr die Spieler, die sich zu Tätlichkeiten hinreißen lassen. Es sind vielmehr die Fanatiker unter den Anhängern einer Mannschaft, die sogenannten Fans, die leider zu oft inner- und außerhalb der Stadien für Tumulte und Ausschreitungen sorgen. Das ist dann bestimmt keine Nebensache mehr, geschweige denn eine schöne.