Es war bitter kalt an jenem 13. Dezember 1981 in Güstrow, der mecklenburgischen Kleinstadt. Es ist der letzte Ort, den der Bundeskanzler Helmut Schmidt bei seiner dreitägigen DDR-Reise gemeinsam mit SED-Generalsekretär Erich Honecker besuchte. Am Morgen des Tages war bekannt geworden, dass Polens Machthaber Jaruzelski das Kriegsrecht ausgerufen hatte, das Land war in großer Unruhe, das kommunistische Regime fürchtete die Gewerkschaft Solidarnosc, die mehr und mehr Anhänger gewann, damals zählte sie rund 9,5 Millionen Mitglieder. Es wurde nicht ausgeschlossen, dass der Kanzler den Besuch abbrechen würde, doch der dachte nicht daran. Wir, die Journalisten aus der Bundesrepublik, die Schmidt begleiteten, zunächst Station in Ostberlin gemacht hatten und dann Richtung Jagdschloß Hubertusstock fuhren, wurden mit Staatsfahrzeugen samt Fahrern in die mecklenburgische Kleinstand gefahren. Auffallend unterwegs die leer gefegten Straßen, leere Brücken, die wir passierten, kein Mensch war zu sehen, nur hin und wieder Sicherheitskräfte. Dann in Güstrow eine Mauer aus uniformierten Kräften der Volkspolizei, wiederum kein normaler Zivilist zu sehen, abgesperrt, abgeriegelt die Stadt Güstrow. Einheimische waren nicht zugelassen. Eine gespenstische Szene.
Auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt das gleiche Bild, kein Zivilist, keine Kinder, keine Frauen, nur Männer in Parkas und alle trugen die selben Taschen in ihren Händen. Ich war als Bonner WAZ-Korrespondent dabei und verabredet mit dem WAZ-Korrespondenten in der DDR, Klaus Kämpgen. Er wies mich sofort auf die Scheinwelt hin, die man uns vorführte. Um das zu beweisen, gingen wir zu einem der Stände, um Bonbons zu kaufen. Der Käufer erklärte, der Stand sei noch geschlossen. Wir verkniffen uns jeden Lacher und bummelten zum nächsten Stand und erhielten eine ähnliche Antwort. Die Verkäufer auf dem Weihnachtsmarkt waren nicht die echten Verkäufer, es warend MfS-Leute, Stasi-Mitarbeiter, die den Eindruck erwecken sollten, als herrsche hier normales Leben.
Wo waren die Menschen?
Die Wege waren verschneit, Lampen, Leuchten und Kerzen brannten. Wo waren die Menschen? Es stellte sich heraus, dass viele Güstrower Bürger mit Bussen zum Kaffeetrinken in benachbarte Orte kutschiert worden waren, Hunderte andere durften ihre Häuser nicht verlassen, sie wurden dabei beobachtet von der Stasi. Rund 35000 Kräfte hatte man aufgeboten, um Schmidt jeglichen Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung zu nehmen. Man wollte Szenen wie bei Brandts Besuch in Erfurt 1970 vermeiden. Damals riefen Tausende DDR-Bürger „Willy Brandt ans Fenster“ und der ging ans Fenster des Erfurters Hofes. Jubel-Sürme, Beifall, für die SED und die Stasi ein Moment des Schreckens, der ihnen deutlich machte, dass sie den eigenen Leuten nicht trauen konnten.
13. Dezember 1981: Hunderte Stasi-Mitarbeiter kontrollierten den Weihnachtsmarkt. Man sah zugezogene Gardinen in den Häusern um den Markt, die Menschen durften nicht rausschauen. Eine beklemmende Situation. Verdächtige waren vorher festgenommen worden, andere wurden nur festgesetzt. Die Stadtteile, die die Kolonne mit Helmut Schmidts Fahrzeug passierte, waren herausgeputzt worden, die Häuserwände entlang der Protokollstrecke gestrichen. Die Stasi hatte sogar, wie sich nach dem Fall der Mauer und der Öffnung der MfS-Archive herausstellte, 1500 Familiengespräche mit Einwohnern geführt, um deren Einstellung zu kontrollieren. Jubelkräfte waren bestellt worden, die Honecker-Rufe von sich geben sollten. Was auch in dem einen oder anderen Fall passierte, aber der Ruf war so dünn, dass er schon peinlich war.
Schmidt ahnte zunächst nichts, dass die Kleinstadt quasi ab sechs Uhr in der Früh abgeriegelt war. Erst später, als wir mit dem Sonderzug Richtung Hamburg fuhren, erfuhr der Kanzler von uns Journalisten das ganze Ausmaß der Überwachungs-Szenerie, die einer Show des MfS gleichkam. Auf eigenen Wunsch besuchte Schmidt den Dom in Güstrow, weil er als Liebhaber des Bildhauers Barlach dessen Werke schätzte und die im Dom über dem Taufbecken hängende Plastik „Die Schwebende“ sehen wollte. Ursprünglich wollte Schmidt auch auf der Orgel spielen, verzichtete aber darauf, weil er sich sorgte, ein solches Spiel könnte angesichts der Lage in Polen missverstanden werden.
Das Knacken in der Leitung
Ich erinnere mich noch, wie wir unsere Texte in die Redaktionen schickten. Damit das niemand vergisst: es gab damals keine Handys. Die DDR hatte aber für uns Telefonhäuschen aufgestellt, von denen wir kostenlos eine Direktverbindung nach Hamburg, München oder ich nach Essen bekamen. Ich rief die WAZ-Aufnahme und diktierte meinen Beitrag. Beim Diktieren knackte es alle zehn Sekunden in der Leitung, der Kollege in Essen stutzte, fragte mich, was da los sei. Ich gab ihm zur Antwort, es sei wohl die Stasi, die mithören wolle, was morgen in der Zeitung über den Besuch von Schmidt in Güstrow zu lesen sei.
Am frühen Abend dann die Abfahrt. Honecker schenkte Schmidt zum Abschied ein Hustenbonbon, der Hamburger nahms lächelnd zur Kenntnis. Der DDR-Staatsratschef winkte ihm zu, leichter Beifall der anderen, es waren alles Honeckers Leute, war erlaubt, verboten war, wie man später erfuhr, der Ruf „Auf Wiedersehen.“ Später lobte Honecker die Genossen der Staatssicherheit, der Betriebskampfgruppen, aus den Reihen der Volkspolizei: „Es ist Euch gelungen, Güstrow nicht zu einem zweiten Erfurt werden zu lassen.“ Gegenüber dem Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Klaus Bölling, Schmidts ehemaligem und Jahre später letztem Regierungssprecher, rügte der SED-Chef Wochen die Medien in der Bundesrepublik: Sie hätten ein „verzerrtes Bild von dem schönen Empfang in Güstrow“ wiedergegeben. Denn, so Honecker, da wäre doch „eine große Herzlichkeit für Ihren Bundeskanzler“ gewesen.
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