Zum Grundgesetz gehört auch dessen Auslegung. Was die Juristen in der Auslegung machen, prägt das politische System. Und da ist es nicht immer gut, was die Juristen, unter Absehung der Funktion im politischen System, an Auslegung betreiben. Hier die Erinnerung an eine zentrale ungelöste Aufgabe.
Die sog. „Politikverflechtung“ ist in Deutschland mehrfach als Falle genutzt worden, um eine Bundesregierung zu ‚Fall‘ zu bringen. Dass sie zum Machthebel pervertieren konnte, wurde vom Bundesverfassungsgericht ermöglicht: Das erfand im Jahre 1958 die sogenannte Einheitstheorie in der Auslegung von Art. 84 (1) GG. Der verlangt eigentlich lediglich ein Zustimmungserfordernis zu den Vorschriften über Behördenorganisation oder das Verwaltungsverfahren, sofern „die Länder … Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen“. Seit 1958 aber ist das Zustimmungserfordernis nicht länger auf die Verwaltungsseite beschränkt, sondern bezieht sich auf das ganze Gesetz. Eine Revolution des Systems durch pure Auslegung.
In den wirtschaftlich schwierigen Zeiten der 1970er Jahre wurde das Urteil erstmals machttaktisch genutzt. Da stand der (sozialliberalen) Regierungsmehrheit zum ersten Mal eine oppositionelle Mehrheit im Bundesrat gegenüber und blockierte die sachlich erforderliche Lösung von Problemen. Franz-Josef Strauß hat sich dieses Machthebels genauso zynisch bedient wie später Oskar Lafontaine und dann wieder die Ministerpräsidenten der Union.
Das wird antizipiert, und folglich ist keines der politischen Lager in der Lage, ein Reformkonzept aus einem Guss zu verwirklichen und dann auch zu verantworten. Die Folgen dieses Machtspiels für die wirtschaftliche Potenz des Landes sind desaströs. Denn nicht jeder Kompromiss macht sachlich noch Sinn.
Nachdem dreimal Ping-Pong gespielt worden war, wurde im Herbst 2003 die sog. ‚Föderalismus-Kommission‘ eingesetzt. Ziel war, so die Formel, ‚Politik zu ermöglichen’. Fritz Scharpf, Autor der einschlägigen Bücher zur „Politikverflechtung“ [1], nahm als Sachverständiger an den Beratungen teil.
Im Ergebnis gab es zwar eine Entflechtung, hinsichtlich der Blockadeoption aber ist alles beim Alten geblieben – ein Formulierungsvorschlag, der die Einheitstheorie explizit ausgeschaltet hätte, wurde in den Verhandlungen nicht aufgegriffen. Der Grund scheint gewesen zu sein: Man will in der politischen Klasse auf diese Option nicht verzichten.
Der Hintergrund des Dysfunktionalen: Die Genese des deutschen Föderalismus ist gegenüber der Entwicklung von politischen Mehrebenensystemen anderswo in der Welt dadurch gekennzeichnet, dass institutionelle und normativ-kulturelle Faktoren einander nicht verstärkt, sondern gegeneinander gewirkt haben. Institutionell galt 1871 wie 1949: Die Gliedstaaten existierten vor dem Zentralstaat. Sie waren es, die ihn schufen. Also prägte ihre Vetomacht dessen Kompetenzen. Normativ-kulturell hingegen herrschte schon im Kaiserreich und erst recht in der Bundesrepublik seitens der Bürger eine unitarische Orientierung. Das Ergebnis dieser Divergenz war eine Konzentration von Regelungskompetenzen beim Bund, der durch Vetopositionen der Länder gebunden blieb.
In dieser Perspektive zeigt sich, dass jene Länder, die in der Föderalismus-Kommission ernsthaft eine Erweiterung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten angestrebt hatten, mit ihrer Forderung nach einer klaren Trennung der Kompetenzen Unmögliches versucht hatten. Deswegen haben sie, so berichtet Scharpf die einhellige (anonyme) Einschätzung auf Länder-Seite, zwar Kompetenzen hinzugewonnen, aber lediglich zu ‚Quisquilien’.
In einem weitergehenden Reformkonzept wären zwei Elemente ins Zentrum zu stellen.
(i) Auflösung der Situation eines ‚Entweder (Bund) – Oder (Länder)’ bei der Kompetenz-Allokation durch Einführung des Instituts „bedingte Abweichungsrechte“ für Bundesländer, verbunden mit einem kurzfristig zu rechtssicheren Ergebnissen führenden Streitentscheidungsverfahren. Diese Rechte sollen gelten für die elf Kompetenztitel, die nach der Föderalismusreform per 1. September 2006 noch der sog. ‚Erforderlichkeitsklausel’ unterliegen – und das sind die wesentlichen Titel, jenseits der ‚Quisquilien’-Kompetenzen;
(ii) Reform der Finanzverfassung mit (Wieder-)Herbeiführung einer (erweiterten) Steuerautonomie der Bundesländer, also in Richtung der von Miquelschen Vorstellungen von 1891.
[1] Fritz W. Scharpf: Föderalismusreform. Kein Ausweg aus der Politikverflechtungsfalle? (Schriften aus dem MPI für Gesellschaftsforschung, Bd. 64) Frankfurt/ New York: Campus 2009