1. Die Verabredung
Bei ihrem Gipfel haben die beiden Staatschefs eine Kooperation zu strategischen nuklearen Waffen vereinbart. Es wurde ein „integrated bilateral Strategic Stability Dialogue“ verabredet. Man bestätigte sich gegenseitig, dass man die folgenden drei Ziele teile
- Vorhersagbarkkeit in der strategischen Sphäre sicherstellen;
- das Risiko bewaffnerter Konflikte reduzieren und
- die Drohung eines atomaren Krieges reduzieren.
Diese von Ambivalenz strotzenden blumigen Formulierungen bedeuten: Die beiden nuklearen Supermächte, um nicht zu sagen die beiden nuklear völlig unverhältnismäßig gerüsteten Mächte, wollen unter sich (bilateral) sicherlich über einen Teil der Nuklearwaffen sprechen, lediglich über die sog. „strategischen nuklearen Waffen“. Die sind dadurch definiert, dass mit ihnen die beiden nuklearen Großmächte sich in ihren Kernlanden (Sanktuarium) gegenseitig auszulöschen vermögen, durch einen transatlantischen Schlagabtausch.
Für die Europäer, insbesondere für die Deutschen mit den US-Atombomben in Büchel, ist wichtig wahrzunehmen: „Ihre“ Atomwaffen, die sog. „substrategischen“, zu denen sie dieselben Wünsche haben bzw. haben sollten wie die Großen zu den strategischen Waffen, könnten ausgeklammert werden, nicht auf den Verhandlungstisch gebracht werden. Das ist nicht endgültig – die Ambivalenz gibt Raum, aber nur für kurze Zeit noch. Die Zeit drängt. Um eine Ausklammerung zu verhindern, müssten die Europäer dieses ihr existentielles Anliegen mit Verve auch vortragen. Das ist bislang nicht zu erkennen. Der Grund dafür dürfte sein, dass sie sich dazu nicht einig sind. Die Spaltung in Europa dürfte konkret gehen entlang der Linie Baltische Staaten plus Polen und Rumänien einerseits und die drei westlichen Stationierungsstaaten Deutschland / Niederlande / Belgien andererseits.
2. Hintergrund: Szenario eines “begrenzten” nuklearen Schlagabtausches in Europa
Die Atombomben in der Eifel, in Büchel, ebenso die in Belgien und in den Niederlanden, haben einen Sinn, es gibt eine fakultative Einsatzplanung dafür. Historisch gesehen sind sie die letzten Reste an US-Atomgefechtsköpfen, die einstmals Hunderten deutscher Trägerwaffen – Kampfflugzeugen, Luftabwehrraketen, Artilleriegeschützen, Kurz- und Mittelstreckenraketen – zugeordnet waren. Westdeutsche Trägerwaffen konnten nicht nur das Gefechtsfeld abdecken; sie vermochten vielmehr darüber hinaus mit Jagdbombern und – als einziger Staat neben den USA – mit Pershing-1a-Mittelstreckenraketen auch das sowjetisch kontrollierte Glacis bis hin zur polnisch-sowjetischen Grenze erreichen. Sinn damals war, die perzipierte konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts in Europa ausgleichen zu können durch den Einsatz solcher taktischer Nuklearwaffen – mit einer Art „Notbremse“.
Das tabubehaftete Problem war nur: Wo, auf welchem Territorium, sollte ein solcher Einsatz gegebenenfalls stattfinden? Das war eine heiße Frage, denn dort würde anschließend verbrannte Erde sein. Klar war, dass ein solcher Einsatz möglichst auf dem „Glacis“ der gegnerischen Seite, nicht auf dem Territorium eines (westlichen) Verbündeten, sprich Deutschland („Fulda Gap“), stattfinden sollte – aber darüber sollten, so der Konsens, die USA nicht alleine entscheiden. Deswegen wurde das Institut „Nukleare Teilhabe“ geschaffen. Es ging darum, bei der Entscheidung für einen Einsatz der westdeutschen Regierung eine Veto-Position einzuräumen.
Der Kalte Krieg mit dieserart Planung des Einsatzes nuklearer Waffen in Europa ist seit dreißig Jahren beendet. In dieser Periode hat der Westen Zweierlei herbeigeführt, was für einen allfälligen Einsatz nuklearer Gefechtsfeldwaffen von zentraler Bedeutung ist.
- Er hat sich zwar von der Perzeption konventioneller Unterlegenheit befreit, es aber dennoch nicht geschafft, den Abzug in dieser Notbremsen-Waffenkategorie in Europa vollständig zu machen.
- Er hat die Position des Siegers im Kalten Krieg für das Vorrücken der nuklearen Allianz gen Osten genutzt, bis an die Grenze Russlands, des „Partners“ bei einem allfälligen Abtausch strategischer nuklearer Waffen. Mit der Verfrostung des Verhältnisses zu Russland ist nun relevant und offenbar geworden, dass die USA bzw. die Allianzstaaten sich des Vorfeldes, des „Glacis“, beraubt haben.
Auf dem Glacis war ein Austausch mit nuklearen Waffen möglich, ohne dass die beiden Heimatmächte strategischer nuklearer Waffen sich selbst betroffen machten. Bei einem Einsatz (substrategischer) Nuklearwaffen auf dem Sanktuarium ist eine Reaktion mit strategischen Waffen wahrscheinlich und also zu befürchten. Das Vorrücken der NATO hat somit eine sehr unangenehme strategische Folge: ein Einsatz substrategischer Nuklearwaffen, z.B. von Deutschland aus, mit Zustimmung des US-Präsidenten, ist eigentlich nur denkbar auf dem Territorium der Verbündeten an der Front im Osten, also der Baltischen Staaten und Polens. Die aber denken bislang nicht in solchen nuklearen „was wäre wenn“-Kategorien. Die dortigen Öffentlichkeiten sehen ihre existentielle Bedrohtheit bislang anscheinend nicht.
3. Ein halber Schritt zur Abkopplung?
Unter Präsident Trump haben die USA, ohne Abstimmung mit ihren Verbündeten in Europa, die beiden zentralen Rüstungskontrollabkommen zu substrategischen Atomwaffen, den INF-Vertrag und das „Open Skies“-Abkommen, gekündigt. Das waren beide Male Akte massiver Unsolidarität.
Das Ergebnis des Gipfels in Genf ist, dass die USA und Russland nun zu strategischen Nuklearwaffen einen Dialog vereinbaren, um sicherzustellen, dass es nicht zu einem Austausch solcher Waffen auf ihrem – und nur ihrem – Territorium kommt. Wenn die Europäer mit ihrem substrategischen Anliegen da ausgeschlossen würden, wäre das die Fortsetzung der von Trump vollzogenen Unsolidarität. Ich sage „wenn“ – entschieden ist das bislang nicht. Das Interesse der europäischen Bündnispartner, dass ihnen nicht dasselbe blüht, was die beiden Großen fürchten, nämlich mit (substrategischen) Nuklearwaffen auf ihrem Territorium belegt zu werden, ist von ihnen nun endlich entschieden zu vertreten. Dass ihr Anliegen unberücksichtigt bliebe, ist naheliegend, wenn die Verbündeten ihr Interesse nicht selbst massiv vertreten. So „kälberhaft“ aber scheint das Verhalten der Europäer bislang zu sein.
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