1. Präsidentschaftswahlen und ihre Legitimität
Wahlergebnisse werden immer mal gefälscht; Wahlsysteme sind nie ideal, sie sind immer mehr oder minder kritikwürdig, weil unfair.
In Staaten mit unabhängiger Wahlaufsicht wird mit Wahlfälschungen wie folgt umgegangen. Ist das Ausmaß der Fälschungen mutmaßlich ergebnis-unerheblich, wird das Ergebnis akzeptiert. Andernfalls wird eine Wahlwiederholung angesetzt. Die Beurteilung der Fairness von Wahlen bei gegebenen Wahlsystemen ist im OSZE-Raum der Spezialorganisation ODIHR überantwortet. Deren stehende Praxis ist, keine absoluten Urteile in digitaler Weise, über den Leisten „fair oder unfair“, zu fällen – ODIHR-Berichte listen lediglich Mängel auf, sagen, wo das System fairer sein könnte. Man beschränkt sich auf komparative Urteile.
In der Außenpolitik war es bislang stehende Praxis, in Übereinstimmung mit diesen Usancen, ein Wahlergebnis in einem Drittstaat im diplomatischen Verkehr anzuerkennen.
Erstmals im Falle Venezuela hat die Bundesregierung und hat auch die EU mit dieser Praxis gebrochen – vorausgegangen war die jetzige Regierung der USA, die sich kaum noch an allgemeine Grundsätze gebunden sieht. Es handelt sich aber um einen Maximen-Wechsel der deutschen Politik. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat ihn so formuliert:[
„Die Anerkennung des Oppositionspolitikers Guaidó als venezolanischen Interimspräsidenten stellt in gewisser Weise eine Abkehr von der bisherigen Anerkennungspraxis der Bundesrepublik Deutschland dar. Bislang war es jahrelange deutsche Staatspraxis, lediglich Staaten anzuerkennen und keine Regierungen oder Präsidenten. So erklärte beispielsweise der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Klaus v. Dohnanyi, im Jahr 1979 auf die Frage nach der deutschen Anerkennungspolitik gegenüber Namibia und Rhodesien: „Die Bundesregierung spricht ausdrücklich Anerkennungen nur gegenüber neuen Staaten nicht aber gegenüber neuen Regierungen aus […].“
Mit der Positionierung Deutschlands und der EU zum Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020 in Belarus ist die neue wertegeleitete Anerkennungspolitik in einem zweiten Fall vollzogen worden. Der Europäische Rat hat am 19. August 2020 geurteilt und entschieden:
„Die Wahlen vom 9. August waren weder frei noch fair, und deshalb erkennen wir die Ergebnisse nicht an.“
Bei diesen Präsidentschaftswahlen ist es anscheinend erneut zu Wahlfälschungen gekommen, und zwar in plumper Weise, wie es in Belarus üblich ist. Erfahrene ODIHR-Beobachter können ein Lied davon singen.
Doch ob die in Belarus bei Präsidentschaftswahlen üblichen Fälschungen diesmal Ergebnis-erheblich waren, darüber hat die EU kein Wort verloren. Die deutlichen Mängel an Fairness bei den Wahlen sind offensichtlich – doch das absolute Urteil, dass die Unfairness diesmal eine Grenze überschritten habe, sodass nun die Anerkennung verweigert werde, ist neuartig und ein Bruch mit bisherigen OSZE/ODIHR-Sitten.
Deutschland und die EU, der Westen allgemein, hat sich mit der neuartigen wertebestimmten Anerkennungspolitik auf ein neues Feld, eigentlich auf eine schiefe Ebene begeben, deren Oberfläche rutschig ist. Eine akademische Analyse dieses bahnbrechenden Vorgangs ist mir bislang nicht vor Augen gekommen. Wohl aber eine Karikatur, die die schiefe Ebene gut zum Ausdruck bringt – es ist ja gelegentlich so, dass kritische Künstler etwas bildhaft ausdrücken, was die Wissenschaftler und Medienvertreter sich scheuen, auf den Begriff zu bringen. Die nächste Wahl steht in den USA an. Da ist zu entscheiden, ob die neue wertegebundene Wahl-Anerkennungspolitik ein drittes Mal in Anschlag zu bringen ist.
2. Meßlatte für die Akzeptanz des Ergebnisses der nächsten Präsidentschaftswahl in den USA?
Vor diesem Hintergrund richtet sich der Blick auf die auf Ende des Jahres 2020 anstehende Wahl des Präsidenten in den USA für die 4-jährige Periode, die mit der feierlichen Inauguration am 20. Januar 2021 beginnt. Nach Einschätzung des außenpolitischen Forschunsginstituts der deutschen Bundesregierung gilt schon immer, „dass die Demokratie in den USA stark oligarchische und plutokratische Züge trägt.“ Hinzu gekommen ist neuerdings die zugespitzte innenpolitische Spaltung in den USA und die durch den demographischen Wandel bedingte zunehmend prekäre Situation für die GOP, die Partei der Republikaner. Sie werden zunehmend strukturell mehrheitsunfähig, weil ihre (weiße) Wählerbasis in die Minderheit gerät. Der Druck, sich über Wahlmanipulation aus der sich zuziehenden Schlinge zu retten, wächst – und das Zerklüftete im US-Wahlsystem bietet eine große Zahl von Optionen, dieser Verführung auch nachzugeben. Die USA verfolgen in dem Maße steigende Anstrengungen, ihre Wahlen gegen Einflussnahme von außen zu schützen, wie sie sich als unfähig erweisen, ihr Wahlsystem gegen illegitime Verzerrung von innen zu schützen. Sie verfolgen die „Haltet den Dieb“-Taktik.
Die Präsidentenwahl in den USA ist in mehreren Akten organisiert. Als Termin für den Akt Volkswahl ist der 3. November 2020 bestimmt – an diesem Werktag wird in Abstimmungslokalen die Möglichkeit geboten, persönlich seine Stimme abzugeben. In diesem Jahr, unter CoViD-19-Bedingungen, wird die Briefwahl einen bedeutenden Umfang ausmachen. Es wird zudem davon ausgegangen, dass unter den Briefwählern der Kandidat der Demokraten, Joe Biden, einen deutlich höheren Stimmanteil gewinnen wird als unter den persönlich zur Wahl gehenden Wählern.
Ausgerechnet in etlichen zentralen sog. „Swing States“ haben die Parlamente in diesen Gliedstaaten bestimmt, dass mit der Auszählung der Briefwahl-Stimmzettel erst am Wahltag, am 3. November, begonnen werden darf. Folge ist, dass ein vollständiges Ergebnis erst etwa vier Tage nach dem Wahltag vorliegen kann. Ergebnis ist eine deutlich veränderte Dramaturgie: Bislang ist man daran gewöhnt, dass am Ende der „Wahlnacht“ ein Ergebnis „steht“, der unterlegene Kandidat bestätigt es durch seine öffentliche Anerkennung, die „Wahlnacht“ hat ein Ende. Dieses Mal ist die „Wahlnacht“ zu einer Periode von bis zu vier Tagen gedehnt. Zwischenergebnisse werden von Tag zu Tag ein „Aufholen“ Bidens gegenüber Trump in der Volkswahl zeigen. In diesen vier Tagen kann viel passieren, welches die Legitimität des schließlichen Ergebnisses der Präsidentenkür erheblich zu beschädigen vemag. Eine Variante, Abbruch der Briefwahl-Auszählung in Swing States, welches republikanisch dominierte Gliedstaaten-Parlamente entscheiden, wurde bereits durchdekliniert. Eine zweite Variante hat der gegenwärtige Präsident der US kürzlich offenbart. Er betonte sein Recht und seinen Willen, in den Tagen nach der Wahlnacht das US-Militär im Inland einzusetzen, wenn es zu gewalttätigen Ausschreitungen kommt. Dass das der Fall sein wird, wenn es zu Entscheidungen auf Staatenebene kommt, welche die Auszählung und Feststellung des Volkswahlergebnisses behindern, ist so gut wie sicher. Ob es zu einem vollständigen Auszählen der abgegebenen Stimmen überhaupt kommen wird, ist somit schon alles andere als sicher. Die EU und Deutschland stehen dann, wenn sie ihre neue wertegeleitete Anerkennungspolitik weiterhin verfolgen wollen, vor delikaten Entscheidungen.
Die Wahl des Präsidenten aber wird nicht durch Volkswahl entschieden. Die USA haben ein indirektes Wahlsystem – die US-Präsident wird, so der erste Folge-Schritt, durch das sog. „Electoral College“ gewählt. Das ist in diesem Jahr für den 15. Dezember terminiert, vorher, am 8. Dezember, werden in den Gliedstaaten die Wahlergebnisse dadurch bestätigt, dass die Elektoren in den Parlamenten bestätigt werden. Für die Wahl im Electoral College gilt das Quorum einer absoluten Mehrheit – es braucht 270 Stimmen. Wenn hinreichend viele Parlamente von Gliedstaaten die Bestätigung der Elektoren verweigern, mit Hinweis auf das ungeklärte Ergebnis im jeweiligen Bundesstaates, so kann das leicht dazu führen, dass kein Präsidentschaftskandidat das Quorum im Electoral College erreicht. Wenn das der Fall ist, dann schliddert der Prozess der Bestimmung des nächsten US-Präsidenten in die sog. contigent election, und da wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine republikanische Mehrheit den republikanischen Kandidaten zum Präsidenten küren.
Kann, will, soll Europa den so, verfassungsgemäß, „gewählten“ nächsten Präsidenten der USA anerkennen?
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