Das Land war endlich gut aufgeräumt. Ein großes Bundesland im Westen, ein starkes im Südwesten, ein weitflächiges im Osten und ein windiges Land im Norden. Nur noch vier. Für den Rest: Ende aus. Das Land war nirgendwo mehr das Schlusslicht, wie Jahre zuvor immer wieder und wieder erklärt oder berichtet worden war. Spitze hier, da ein wenig zurück, Mittelposition anderswo, aber nirgendwo die rote Laterne.
Die 68er endlich zufrieden in der Eigentumswohnung oder in der Senator-Residenz. Dynamo Dresden hielt sich seit einigen Jahren stabil in der 1. Bundesliga. In der ARD kommentierte Herr Boateng das Geschehen in den obersten Etagen der Schiebetreterei. Das Land war tatsächlich endlich gut aufgeräumt.
Freilich: Wer sehr genau hinschaute, der entdeckte einige Ecken, welche unaufgeräumt geblieben waren, die sich der neuen Ordnung einfach entzogen hatten. Da entdeckte man in den Schriften des Erich Loest zum Beispiel Hinweise auf tote Länder und Staaten. Tote Länder? Jahrhunderte lang hatte es Sachsen gegeben. Dann waren die Stalins und Ulbrichts gekommen und hatten Staat und Land der Sachsen den Garaus gemacht. Für 40 Jahre. Dann war Sachsen stolz wieder erstanden und nun, nach der großen Aufräumaktion, der Zusammenlegung, wieder verschwunden. Endgültig. Genauso wie Bremen, wie Hamburg, wie das Saarland, Rheinland- Pfalz und so weiter. Dennoch blieben die Hinweise auf solche Gebilde, die einmal bestanden hatten, aber nun nicht mehr existierten. Was fing man damit an? Ignorieren? Einfach so tun, als sei ein größeres Sachsen entstanden? Das ging nicht. Es wurde ferner aufgedeckt, dass es viele Kinderspiele gab, die wie Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht waren. Mit Murmeln spielen! Einen Kreisel auf Touren bringen – und halten! Hüpfekästchen! Einen Reifen treiben! Sich eine Zwille oder Fletsche aus einer Astgabel und Einmachgummis basteln! Vergessen. Genauso weit weg aus der Realität, wie die Kunst, ein Mammut in ein Loch zu locken. Ja sogar das Mensch- ärgere- Dich nicht! Alles auf dem Weg ins große Loch des Vergessens.
Ein weiteres, ungern in jenen neuen Zeiten aufgeschlagenes Kapitel war Weihnachten. Was sollte man in diesem großteiligen Deutschland mit Weihnachten? Was mit dem Christkind? Das war eben irgendwie aus sich heraus kleinteilig angelegt. Als das einigen Leuten klar wurde, tat man das, was man eben in diesen neuen Zeiten in solchen Situationen tat. Diese Leute unternahmen einen Test: Still sandten sie einen verschwiegenen Experten durchs ganze Land, um heraus zu finden, ob es in irgendeiner Stadt, in einem größeren Dorf, nicht erst hinter den sieben, sondern hinter acht oder gar neun Bergen noch so eine Bildungsanstalt, also ein Gymnasium mit vergleichbaren Lehrern gäbe wie in Kästners „Fliegendem Klassenzimmer“. Wenn ja, so dachten diese Leute, gab’s für Weihnachten noch Hoffnung. Wenn nein…. Tja, dann musste man sich etwas Neues überlegen. Natürlich fand man keine höhere Lehranstalt, wie Kästner sie beschrieben hatte. Nirgendwo mehr in Deutschland. Die Kästnersche Weihnachtsstimmung war unwiederbringlich verschwunden. Das Band aus Fürsorge, Sehnsucht, Tränen, Erinnerung und Stolz, aus Freundschaft und Heimat, welches Weihnachten zusammengehalten hatte, das war zerrissen.
Man tat etwas Neues. Man beauftragte gelehrte Frauen, Männer und Diverse den Gründungserlass eines neuen Ministeriums zu entwerfen, was die taten. Und dann gab es per Gründungserlass ein Ministerium, welches sich ausschließlich um die noch unaufgeräumten Ecken zu kümmern hatte, um die toten Länder- Staaten, um die Murmeln, um Weihnachten, um anderes mehr. Für jeden dieser Bereiche gab es in diesem Ministerium eine eigene Abteilung mit zwei Unterabteilungen und jeweils vier oder fünf Referaten. Man nannte das Ministerium nicht anders als andere und dennoch anders: Zum Ministerium für Wirtschaft oder für Arbeit gesellte sich das Ministerium für Übriges. Wie denn sonst hätte man es nennen sollen?
Besonders ins Zeug legte sich von Anfang an die Weihnachtsabteilung. Sie begann ihre Arbeit mit dem Entwurf der Verordnung, welche festlegte, was Weihnachtszeit zu sein hat und was nicht. Weihnachtszeit war künftig die Zeit vom 1. Advent bis zum Dreikönigs-Tag. Mit jeweils zwei Arbeitstagen zwecks Vor- und Nachbereitung der eigentlichen Weihnachtszeit davor und dahinter. Dazwischen konnten Geschäfte und Warenhäuser sich so phantastisch weihnachtlich schmücken wie sie wollten und so viele weihnachtliche Angebote anpreisen wie sie konnten. Nur: Printen Ende September – das war aus und vorbei! Weihnachtsmärkte schon Mitte November: Vergangenheit. Wer dem nicht folgte, der bekam Mahnung und Strafe, wie seinerzeit zur Corona.
Für Weihnachtsmänner wurde es allgemein schwerer. Eine gemeinsame Entschließung aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, aufbauend auf einer Formulierung der Gelehrten für das Ministerium für Übriges, forderte den grundsätzlichen Verzicht auf den Weihnachtsmann und stattdessen in der Vorweihnachtszeit die umfassende Nutzung des Sankt Nikolaus sowie einer Nikolausine und während der Weihnachtstage die intensive des Christkinds. Neutrale Flügelkinder in weißen Gewändern statt Rauschebärte über rotem Rock. Misstrauisch ließ sich die Botschafterin der USA die Entschließung erklären. War erst dann zufrieden, als sie nichts gegen Santa Claus gerichtetes darin zu entdecken vermochte.
Die Entschließung wurde als gut begründet bewertet. Und daher allgemein im Land in ihren Auswirkungen beachtet. Der deutsche Weihnachtsmann jedenfalls hatte wie der schon legendäre Heizer auf der E-Lok keine Zukunft.
Der heimische Anbau von Weihnachtsbäumen eines Standard- Maßes wurde gefördert. Ebenso die Entwicklung eines leicht zu handhabbaren Christbaumständers mit einem unauffällig integrierten Feuerlösch- Gerät. Beides, Standard-Baum und Kombinationsgerät in korrosionssicherem Grün wurden deutsche Exportschlager. Später in chinesischen Fabriken und auf mongolischen Farmen imitiert, aber in der Qualität nie erreicht. Wie Kölnisch Wasser oder Berliner Curry Wurst.
Die Filmförderung der Bundesregierung unterstützte im weiteren Zusammenhang die Produktion mehrerer teils dokumentarischer Filme, teils auch von Streifen mit Spielfilm- Charakter über Weihnachten. Alle standen dafür an. Vogel, schon leicht mäuselnd und natürlich die Ochsenknecht- Enkelschar. Abteilungsübergreifend wurden im Ministerium für Übriges und in Abstimmung mit Familien- wie Wirtschaftsministerium Vorschläge für pädagogisch wertvolle und zugleich energiesparend zu betreibende alte- neue Spielzeuge entwickelt. Die christlichen Kirchen hielten sich im Übrigen mit Bewertungen dieses gesamten Treibens zurück. Ganz geheuer war es ihnen nicht.
Aber dann ging es richtig los.
Als einige Jahre des Einübens vorbei waren, hieß es an einem 23. Dezember nach der Tagesschau: In ganz Deutschland ist mit weißen Weihnachten zu rechnen. In West und Ost, in Süd und Nord. Das hatte es seit beinahe undenklichen Zeiten nicht mehr gegeben. Und während noch die ersten einfach nur neugierig nach der Tagesschau aus den Fenstern lugten, um zu prüfen, ob das wahr sein könne, begann es tatsächlich überall zu schneien: Im großen Westen sanft und aus einem grauen Himmel. Im starken Südwesten zuerst noch vermischt mit Graupel und Eis. Im weitflächigen Osten dafür so dicht, als sei ein Vorhang gefallen und im Norden heulend und windgepeitscht. Das war so, als lasse ein geschlechtsneutraler Weihnachtsmensch ein aller- aller- aller- allerletztes Mal seine Peitsche über seine Rentiere zucken und ein letztes Mal sein „Hohoho“ am Himmel erschallen. Bevor Weihnachten nur noch weiß und gefördert, sanft und wertvoll in Deutschland war.
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