1. Einleitung
„Eigentum“ ist im (kapitalistischen) Westen, traditionsgemäß, ein besonders verfassungsmäßig geheiligtes Recht. Das darf man niemandem nehmen, das muss geschützt werden.
Nun hat Russland die Ukraine überfallen, richtet dort schwere Verwüstungen an, neuerdings gezielt an ziviler Infrastruktur – und der Westen hat in seiner sofortigen Reaktion am 24. Februar 2022 russische Devisenguthaben in der Größenordnung von rd. 400 Mrd. $ konfisziert („eingefroren“: freeze). Der Westen hat zudem Vermögen Privater mit russischen Wurzeln, gemeinhin als „Oligarchen“ tituliert, in Höhe eines zweistelligen Milliarden-Betrags beschlagnahmt.
Die Situation ist binär – es gibt einen Schaden und es gibt ein Guthaben des Übeltäters in eigener Oberhoheit. Angesichts dieser verführerischen Situation schließt das Volksempfinden, welches im Boulevard seinen Ausdruck findet und es mit den Kautelen des Rechts nicht übermäßig genau nimmt, messerscharf: Diese Vermögensmengen sind verfügbar; also sind sie zur Wiedergutmachung des Schadens zu verwenden, den Russland angerichtet hat.
Modell ist also im Prinzip das Reparationskapitel im Friedensschluss von Versailles 1918. Nur dass heute der Friedensschluss und somit die förmliche Zustimmung des Verursachers nicht abgewartet werden soll und die Zahlungen nicht mühselig über Jahrzehnte aus dem Reparations-pflichtigen Staat und seiner Volkswirtschaft herausgezogen werden müssen, mit all den Konflikten, die damit verbunden sind und in Europa z.B. zur Ruhrbesetzung Anfang 1923 geführt haben. Hier und heute, im Jahre 2022, hat der Angreifer-Staat seine Zahlungen dankenswerterweise gleichsam schon vorab überwiesen, bevor er den Schaden anrichtete. Man kann, so die Ansage, all die anstehenden rechtlichen Prozesse zur Seite schieben und umstandslos sofort zur Tat der ausgleichenden Gerechtigkeit schreiten. Damit steht aber der Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit auf der Kippe. Ob die rechtsstaatliche Selbstbindung auch gegenüber dem Feind gilt, ist die Herausforderung.
2. Die (professionelle) Debatte in den USA
In den USA, dem Mutterland des Kapitalismus mit seinem spezifischen Eigentumsverständnis, wird die chancenreiche Situation ebenfalls gesehen, aber anders als bei uns darüber debattiert. Dort wird zwischen „freeze“ und „seize“ sehr grundsätzlich unterschieden.
Repräsentativ für die Andersartigkeit in der Vorgehensweise dort ist die Diskussion in der „Congressional Study Group on Foreign Relations and National Security“. Diese Gruppe diskutiert regelmäßig im Raum stehende außenpolitische Optionen insbesondere im Hinblick auf ihre Legalität. Sie prüft die Vereinbarkeit mit dem Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit – das ist eine Einrichtung, deren Äquivalent in Deutschland oder auf Ebene der EU mir unbekannt ist.
In ihrer 22. Sitzung, deren Ergebnisse in einem angenehm knappen Format kürzlich öffentlich gemacht wurden, ging es um die Frage, ob man, rechtlich gesehen, die eingefrorenen russischen Vermögenstitel einziehen dürfe, um sie zu verwenden, konkret für Wiederaufbauzwecke in der Ukraine.
Gemacht werden zwei Vorbehalte, auf Basis dessen, dass sowohl „freeze“ wie „seize“ Vorgänge mit Enteignungs-Charakter sind, wenn auch erheblich unterschiedlichen Ausmaßes.
- Beim „freeze“ gebe es ein rechtsstaatliches Verfahren, welches von Gerichten auch anerkannt wird: Eine Person, deren Vermögen auf Basis einer Vorab-Vermutung eingefroren worden ist, kann sich auf dem Rechtsweg des so verfügenden Staates dagegen zur Wehr setzen. Ihr Vermögen bleibe bis zur Klärung unbeschadet. Das ist zwar weitgehend nur eine begriffliche Stilisierung. Jedoch gilt in der Tat und ist prinzipiell einzuräumen, dass „eingefrorenes“ Vermögen auch wieder zurückgegeben werden kann – die Bildsprache des Begriffs gibt das so her. Das Vertrauen aber darauf, dass in Wirklichkeit ein Vermögen, welches man nicht betreuen kann, dessen laufende Einnahmen der Eigentümer nicht einmal sichern und vereinnahmen kann, weil Mietern untersagt ist, Zahlungen an den sanktionierten Vermögensbesitzer zu leisten, mit Zeitablauf so unverändert bleibt wie eingefrorenes Wasser, hat man schon als weltfremde Unterstellung einzuordnen. Selbst tiefgefrorene Lebensmittel verderben mit der Zeit. Aber Juristen akzeptieren nun einmal so grundsätzliche sprachliche Entgegen-Setzungen.
- Beim „seize“ hingegen werde das Vermögen (endgültig) verwendet. Es kann also nicht mehr zurückgegeben werden, kann somit auch nicht als Verhandlungsmasse, als Anreiz für eine allfällige Beendigung von Kampfhandlungen, eingesetzt werden. Ob man das aus der Hand geben will, hat man unabhängig von rechtlichen Erwägungen zu entscheiden. Zudem gebe es ein rechtsstaatliches Einspruchs-Verfahren, welches die Legalität des „freeze“ qua Listenrecht sichert, zumindest nicht für die eingefrorenen Devisenreserven Russlands – ein Staat nämlich verfügt in den USA nicht über die Widerspruchs-Rechte, die Privatpersonen haben. Aller Wahrscheinlichkeit würde eine solche Vorgehensweise vor den eigenen Gerichten somit keinen Bestand haben. Rechtlich-außenpolitisch sei zudem geboten zu reflektieren, dass eine solche Vorgehensweise gegen das internationale Investitions-Sicherheits-Recht verstoße, welches zu etablieren die USA sich in der Vergangenheit erheblich ins Zeug gelegt hätten.
3. Schwierige Situation Deutschlands
Für Deutschland ist die Situation besonders und zugleich prekär. Deutschland nämlich ist in einem speziellen Fall von Polen abhängig, welches bekanntlich vom Rechtsstaat Vorstellungen hat, die in Europa nicht geteilt werden. Das strahlt nun aus.
Hintergrund ist die Öl-Raffinerie PCK Schwedt an der Oder. Die ist an das russische Export-Pipeline-Netz (Druschba) angeschlossen, die via Polen läuft. Es handelt sich versorgungstechnisch um eine ähnliche Situation wie in Leuna oder auch in weiteren Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts. Auch in Tschechien, der Slowakei, in Ungarn und Rumänien gibt es analoge Situationen, d.i. Raffinerien, die per Pipeline von Russland aus beliefert werden. In Bulgarien und auf Zypern gibt es Sondersituationen, als die dortigen Raffinerien zwar per Schiff beliefert werden, sie aber von speziellen Spezifikationen russischen Rohöls abhängig sind.
Angesichts dieser besonderen Abhängigkeit von Pipeline-Öl aus Russland hat der Europäische Rat am 30. Juni 2022 sich für ein nur teilweises Import-Embargo entschieden, Pipeline-Importe blieben ausgeschlossen, also weiterhin möglich. Beginnen sollte das Embargo für Rohöl-Importe mit Beginn des Jahres 2023; für Produkten-Importe zwei Monate später, am 1. März 2023. Die Raffinerie PCK Schwedt hätte weiter Öl aus Russland beziehen können.
Die Besonderheit der PCK Schwedt gegenüber der in Leuna ist, dass das russische Ölunternehmen Rosneft dort Mehrheitseigner ist. Nach den Erfahrungen mit Gazprom, deren Obstruktion in der Gasversorgung und vorher bereits mit der Füllung von Gasspeichern, traute die deutsche Bundesregierung Rosneft anscheinend nicht über den Weg und wollte Russland nicht die Möglichkeit zu Liefereinschränkungen von heute auf morgen einräumen. Im Ergebnis wollte sie die völlige Unabhängigkeit von russischen Öllieferungen, also auch von denen nach Schwedt und Leuna. Also ein Import-Embargo auch für russisches Pipeline-Öl nach Deutschland.
Mit den Eigentümern von Leuna kam man dazu alsbald ins Benehmen, Rosneft hingegen, der dominierende Eigentümer der PCK Schwedt, bestand auf Lieferungen aus Russland, also den Bezug eigenen Öls – verständlicherweise. Was tun? Die Bundesregierung entschied sich Mitte September für die sanftest mögliche Form der Einschränkung von Eigentumsrechten, die Unterstellung unter Treuhänderschaft, und das auf Basis einer pionierhaft neuen Ermächtigungsgrundlage in § 30 Abs. 1 Energiesicherungsgesetz (EnSiG). Das war im Mai 2022 im Eilverfahren so beschlossen worden, zielte damals auf die Gazpromtochter Germania.
Danach kann die Bundesregierung „zur Vermeidung einer unmittelbaren Gefährdung oder Störung der Energieversorgung […], insbesondere im Fall einer drohenden Knappheit von Kohle, Erdgas oder Erdöl“, bestimmte Präventivmaßnahmen durch Rechtsverordnung ergreifen. Damit war im Wirtschaftskriegsdispositiv für die Bundesregierung die „Vorneverteidigung“ ermöglicht worden.
Auf dieser Basis wies die Bundesregierung das Unternehmen Rosneft Deutschland an, ab 1. Januar 2023 kein Öl mehr aus Russland zu beziehen.
4. Wie Schwedt mit Rohöl versorgen – der Konflikt mit Polen
Konstruktiv stand damit zur Lösung die Aufgabe an: Woher die PCK Schwedt mit (geeignetem) Rohöl im erforderlichen Umfang beliefern? Per Pipeline gibt es dazu drei Möglichkeiten. Hintergrund ist, dass die Druschba-Pipeline im Grunde in Rostok endet und vorher mit Abzweigungen zu diversen Ostseehäfen ausgestattet war. Darunter auch einer nach Danzig. Im reverse-flow-Modus ist Schwedt somit von Rostock, wenn auch nur zum Teil, wie von Danzig aus zu versorgen – in den beiden Hafenstädten kann man per Schiff Öl vom Weltmarkt anlanden.
Die Leitung von Rostock aus ist kapazitativ sehr beschränkt – das reicht bei weitem nicht aus. Eine angemessene Auslastung der Raffinerie ist kurzfristig nur möglich, wenn Mengen über die Druschba-Pipeline von Osten aus geliefert werden. Dafür gibt es zwei Optionen:
- Lieferungen über den Hafen Danzig – das ist von polnischer Zustimmung abhängig.
- Lieferungen aus Kasachstan über Pipelines auf russischem Staatsgebiet – das ist auch von der Zustimmung Russlands abhängig. Und diese Lieferungen können nur eine Ergänzung sein, denn dies steht natürlich unter dem Damokles-Schwert einer Blockade durch Russland von heute auf morgen.
Die Bundesregierung selbst verhandelt nicht mit Kasachstan, auch nicht mit Russland, lässt vielmehr das Unternehmen verhandeln. Sie ringt jedoch höchstselbst, Staatssekretär Kellner ist zuständig, mit der polnischen Regierung seit Monaten um eine Lösung. Das Problem: Die Deutschlandtochter des russischen Staatskonzerns Rosneft wurde zwar im September unter Treuhandverwaltung gestellt. Doch nach Handelsblatt-Informationen reicht das der polnischen Regierung nicht. Polen sei weiter darauf aus, dass Rosneft komplett bei PCK herausgedrängt werde, heißt es aus deutschen und polnischen Regierungskreisen. Das bedeutet formelle Enteignung. Davon, von diesem (eskalierenden) Grundsatzschritt, macht die polnische Regierung ihre Kooperation abhängig.
Es hat zwar am 1. Dezember 2022 schließlich ein offizielles Verhandlungsergebnis in Form einer gemeinsamen Vereinbarung gegeben, darin heisst es an der entscheidenden Stelle:
„a. The German Side will implement measures that increase the capacity of the port of Rostock and the Rostock-Schwedt pipeline.
b. The Polish Side will implement measures that increase the capacity of the port of Gdańsk and the Pomeranian pipeline.
c. At the same time, both Sides will encourage companies to conclude long-term agreements securing the usage of existing – where technically possible – as well as modernised and new infrastructure regarding the supply of crude oil via Gdańsk.”
Damit war von polnischer Seite aber immer noch keine quantitative Festlegung per 1. Januar 2023 gemacht worden – die wurde erst am 15. Dezember, dem Tag der Bundestagsdebatte zum Thema, nachgereicht („70 Prozent Auslastung der PCK Schwedt“). Die Forderung der formellen Enteignung von Rosneft Deutschland scheint aber weiterhin nicht vom Tisch zu sein. Das Vorhaben, die Pipeline Schwedt-Rostock eiligst auszubauen, und die Verhandlungsfühler nach Kasachstan sind offenkundig deutscherseits dafür gedacht, Optionen zu haben, um Polen zu signalisieren: Es geht auch anders.
Und doch bedeutet der Punkt c) im Verhandlungsergebnis vom 1. Dezember: Auch die deutsche Seite will die Bezugs-Ausrichtung der PCK Schwedt unumkehrbar machen. D.i. eine massive Einschränkung der Eigentumsrechte, bleibt aber unterhalb der formellen rechtlichen Enteignung.
Bildquelle: © PCK Raffinerie GmbH