Der Showdown begann gegen 19.30 Uhr. Der Ort, ein ehemaliges Hotel, das die Friedrich-Ebert-Stiftung gekauft und auf Wunsch des SPD-Vorsitzenden und Bundeskanzlers Willy Brandt zur Tagungsstätte „Haus Münstereifel“ umgebaut hatte. Ein nüchterner Bau, dem Brandt-Biograph Peter Merseburger nur den „Charme eines preussischen Landratsamtes“ abgewinnen konnte.
Dort trafen sich am Samstagabend des 4. Mai 1974 in einem engen Schlafgemach Willy Brandt und der Vorsitzende der SPD-Bundestagfraktion, Herbert Wehner. Drei Stunden saßen sich die beiden, die längst zu Gegenspielern geworden waren, in einer kleinen Sitzgruppe direkt vor dem Bett gegenüber. Ein Treffen, über dessen präzisen Inhalt seither gerätselt und spekuliert wird. Ein Gespräch, über das – wie Merseburger 2002 in seiner kenntnisreichen Brandt-Biographie schrieb – „verschiedene Versionen im Umlauf sind und über das Einigkeit nur insofern herrscht, als sein Verlauf für den Entschluss zum Rücktritt wohl den Ausschlag gegeben hat“.
Seit langem kriselte die Beziehung zwischen Brandt und Wehner. Brandt hatte sich von dem Mann, der für ihn die Fraktion zusammenhielt, hintergangen gefühlt, als der Anweisungen des nach dem großen Wahlsieg von 1972 schwer erkrankten Kanzlers zur Zusammensetzung des Kabinetts übergangen hatte. Vollends zerschnitten war das Tischtuch, als Wehner im Herbst 1973 vor Journalisten in Moskau gelästert hatte: „Der Herr badet gerne lau.“ So verärgert war Brandt, dass er kurze Zeit daran dachte, den Fraktionschef abwählen und Helmut Schmidt an Wehners Stelle setzen zu lassen.
Das zerstörte Verhältnis zwischen den beiden war allerdings nur ein Problem, das dem Regierungschef zu schaffen machte. Die wirtschaftlichen Probleme der Republik überschatteten die Stimmung im Land. Die Gewerkschaften waren mit dem Kurs der Brandt-Regierung unzufrieden, wehrten sich gegen geplante Eingriffe in die Tarifautonomie und fragten sich öffentlich, ob es überhaupt noch Sinn habe, auf die sozialliberale Koalition zu setzen. Vor allem dieses Thema sollte zwischen Gewerkschaftsführern und der SPD-Spitze am Wochenende des 4./.5. Mai besprochen werden.
Es geriet zum Nebenschauplatz.
Einige Tage zuvor war der DDR-Spion Günter Guillaume aufgeflogen und verhaftet worden. Brisant, dass ein DDR-Spion bis in die nächste Umgebung des Kanzlers aufgestiegen war. Noch brisanter, dass durch ihn eine Liste mit Brandts Frauengeschichten bekannt wurde. Verfassungsschutzpräsident Günter Nollau befürchtete, der Regierungschef sei erpressbar. Dringend soll er Wehner einen Tag vor dem Treffen in der Eifel geraten haben: Brandt muss zum Rücktritt aufgefordert werden.
Ob er diesem Rat gefolgt ist in dem Vieraugengespräch in der Samstagnacht bleibt Spekulation. Sicher ist nur, dass seine Unterstützung so sybillinisch gewesen sein muss, dass Brandt sie mehr als Kampfansage verstanden haben muss. Und sicher ist, dass bei Brandt der Entschluss zum Rücktritt gereift war, als sich die beiden noch vor Mitternacht trennten.
Unbestritten ist, dass sich der Fraktionsvorsitzende am nächsten Morgen im größeren Kreis der SPD-Spitze merklich zurückhielt, als Brandt seinen Rücktritt ankündigte. Andere Gesprächspartner wie SPD-Bundesgeschäftsführer Holger Börner oder Schatzmeister Alfred Nau protestierten heftig: „Willy, das sitzen wir auf einer Backe ab.“ Helmut Schmidt geriet in Rage und versuchte Brandt umzustimmen: „Wegen einer solchen Lappalie tritt man nicht zurück!“ Vergebens. „Gescheitert, gescheitert“, beschied der Kanzler die Genossen, verließ die von ihm einst so geliebte Idylle des Eifelörtchens und formulierte in Bonn sein Rücktrittsgesuch.
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