Ekrem Imamoğlu fordert den Präsidenten heraus und zahlt dafür einen hohen Preis. Die türkische Oppositionspartei CHP hat den populären Bürgermeister von Istanbul als Präsidentschaftskandidaten nominiert. Jetzt ist er seines Amtes enthoben und sitzt in U-Haft. Das entspricht der Methode Erdogan und ist untrügliches Zeichen dafür, dass der Amtsinhaber diesen politischen Gegner fürchtet.
Recep Tayyip Erdogan entledigt sich seiner Widersacher mittels der Justiz. Der Vorsitzende der CHP, Özgür Özel, hat den Generalstaatsanwalt von Istanbul, Akin Gürlek, als „politische Marionette“ bezeichnet. Die Vorwürfe gegen Imamoğlu lauten Korruption, Amtsmissbrauch und Terrorunterstützung. Belege dafür liegen nicht öffentlich vor. Im System Erdogan werden Oppositionelle mit strafrechtlichen Etiketten versehen und kaltgestellt. Seit 2016 schon ist der DEM-Vorsitzende Selahattin Demirtas inhaftiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert dessen Freilassung, doch Menschenrechte und Demokratie haben in der Türkei einen schweren Stand.
Mit Drohungen werden Medien zum Schweigen gebracht, mit Verboten sollen Demonstrationen unterdrückt und mit Polizeigewalt und massenhaften Festnahmen im Keim erstickt werden. Dennoch gingen Hunderttausende auf die Straße, um gegen die Inhaftierung Imamoğlus zu protestieren, dem unmittelbar vor seiner Festnahme auch sein Hochschulabschluss aberkannt wurde. Der ist in der Türkei Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur, weshalb die Aberkennung den Erdogan-Kritikern als klares Indiz dafür gilt, was der Präsident im Schilde führt.
Regulär steht die Präsidentenwahl erst 2028 an. Mit der frühen Nominierung wollte die Opposition ihren Spitzenkandidaten offenbar vor Übergriffen schützen, sich womöglich aber auch für vorgezogene Wahlen wappnen. Denn der Verfassung nach dürfte Erdogan nicht ein weiteres, offiziell drittes Mal kandidieren. Doch das hat er schon 2023 trickreich umgangen, indem er die Zählung nach der Verfassungsänderung von 2017 kurzerhand neu begann. Per Volksabstimmung hatte Erdogan damals die Verfassung ändern lassen, um von einer parlamentarischen zur präsidialen Regierungsform zu wechseln und seine Macht entsprechend auszubauen.
Die Bundesregierung kritisierte das aktuelle Vorgehen und sprach von einem schweren Rückschlag für die Demokratie in der Türkei. Doch strategisch hat Erdogan wieder einmal einen für sich günstigen Zeitpunkt gewählt. Nach den Entspannungssignalen gegenüber der PKK und dem Gewaltverzicht durch ihren inhaftierten Führer Abdullah Öcalan im Innern, sieht der Präsident sich vor allzu deutlicher Kritik aus Europa gefeit. Nach dem Rückzug der USA fühlt sich das NATO-Mitglied mit seinen militärischen Arsenalen gebraucht. Für die Europäische Union jedoch darf das nicht der Maßstab sein. Sie riskiert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie die Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie hinter solche Erwägungen zurückstellt.