Fast beschwörend wurde im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft 2024 immer wieder an das „Sommermärchen“ aus dem Jahre 2006 erinnert, als die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland wochenlang auf hunderten Fan-Festen bei herrlichem Wetter gefeiert wurde. Gebetsmühlenartig wurde der Mythos des „unverkrampften Patriotismus“ beschworen, den es in diesem Sommer zu wiederholen gebe. Doch nun, so scheint es, ist dieser „unverkrampfte Patriotismus“ zumindest in Teilen einem ekelhaften Nationalismus gewichen.
Die Fratze des Rechtsradikalismus zeigte sich bislang am deutlichsten, als der türkische Nationalspieler Merih Demiral in dieser Woche provokativ das Zeichen der türkischen Faschisten, den sogenannten „Wolfsgruß“ ins Publikum zeigte, nachdem er im Spiel gegen Österreich das 2:0 geschossen hatte. Der europäische Fußballbund UEFA nahm sofort Ermittlungen gegen den 26-Jährigen auf. Hinter dem „Wolfsgruß“ stecken die türkischen „Grauen Wölfe“, eine militante nationalistische und rassistische Gruppe, die gegen Minderheiten im eigenen Land hetzt.
So weit, so schlecht. Doch inzwischen ist die Lage zu einem echten Politikum eskaliert. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte den „Wolfsgruß“ Demirals als „völlig inakzeptabel“ bezeichnet. In Ankara wurde daraufhin der deutsche Botschafter eingestellt: Das dortige Außenministerium nannte die Kritik aus Berlin eine politisch motivierte Reaktion, die man so nicht hinnehmen wolle. Immerhin regiert Präsident Erdogan mit Hilfe der Partei der „Grauen Wölfe“, der MHP. Ankara wirft den Deutschen ob der Reaktion nun „Fremdenfeindlichkeit“ vor. Das wiederum wollte Berlin nicht auf sich sitzen lassen und bestellte seinerseits den türkischen Botschafter ein, um zu protestieren.
Alles unverkrampfter Patriotismus? Wohl kaum.
Und wenn Erdogan, wie in Ankara berichtet, am Samstag zum Viertelfinal-Spiel seiner Mannschaft gegen die Niederlande nach Berlin reisen wird, so muss man im Stadion eine nationalistische Ekstase auf Seiten türkischer Fans befürchten – mit entsprechenden anti-türkischen Ausbrüchen auf niederländischer und deutscher Seite. Wahrlich keine rosigen Aussichten auf ein tolles Fußballspiel im Zeichen der Völkerverständigung.
Dass sich nun deutsche Politiker und Politikerinnen über den „Wolfsgruß“ lautstark empören – von der SPD-Innenministerin bis hin zu den üblichen Verdächtigen bei der Union – ist populistisch. Seit langem nämlich fordern vor allem liberale türkische Migranten das Verbot der „Grauen Wölfe“ und ihrer Symbole. Bislang vergebens, weder CDU- noch SPD-geführte Regierungen wurden hier aktiv. In Deutschland wird die hier auf knapp 20.000 Mitglieder geschätzte und in Teilen gewaltbereite Truppe zwar vom Verfassungsschutz beobachtet – verboten sind die offen faschistischen „Wölfe“ nicht. Vor diesem Hintergrund klingen die reflexartigen Reaktionen in Deutschland wohlfeil.
Dabei war der „Wolfsgruß“ nicht der erste nationalistische Ausbruch bei dieser Europameisterschaft: Schon vor dem Spiel gegen die Türkei hatten österreichische (!) Fans im Leipziger Stadion den ekelhaften „Sylt-Song“ angestimmt: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Und auch türkische Fans waren zuvor bereits unangenehm aufgefallen: Vor dem Spiel gegen Georgien pfiffen und buhten sie ohrenbetäubend, während Georgiens Nationalhymne gespielt wurde – eine Unsitte, die auch in türkischen Medien heftig kritisiert wurde. Und schon in der ersten Woche der Europameisterschaft war der albanische Fußballnationalspieler Mirlind Daku für zwei Partien gesperrt worden. Der 26-Jährige hatte nach dem 2:2 seiner Mannschaft gegen Kroatien vor der albanischen Fankurve in Hamburg nationalistische Gesänge angestimmt. Wer die Befindlichkeiten auf dem Balkan kennt, weiß, wohin das führen kann. „Unverkrampfter Patriotismus“ – das klingt dort wie ein Hohn.
Wie Untersuchungen ergeben haben, wurde bereits das sogenannte Sommermärchen 2006 vor allem in Deutschland im Nachhinein verklärt. Denn ganz so harm- und folgenlos blieb das bis dahin so ungewohnte millionenfache Schwenken von Schwarz-Rot-Gold nicht. Unter all die unverstellte Freude über die Spiele der deutschen Mannschaft hatte sich schon damals dummstolz triumphierender Nationalismus gemischt, wie Umfragen ergaben.
Wir haben in den letzten Jahren erleben müssen, wie sich der Nationalismus in Europa als Seuche ausbreitet. Nicht zuletzt die Europa-Wahlen gaben darüber erschreckend Auskunft. Kein Wunder also, wenn sich das auch auf den Fußball-Plätzen zeigt. Wenn das Spiel nicht mehr als – bestenfalls faszinierender – Kampf zwischen Spielern und Mannschaften gesehen wird, sondern zum Prestigekampf zwischen ganzen Nationen verkommt, wenn sich auf dem Rasen und auf den Rängen rechtsextreme Gesinnung breit macht statt freundlicher Rivalität – dann ist das ein weiteres gefährliches Zeichen für den Zustand Europas.
Es mag kitschig klingen: Fußball hat die Macht, über alle Grenzen hinweg zusammenzubinden und mitzureißen. Denn Fußball ist trotz aller monetären Auswüchse und Obszönitäten ein faszinierender Sport. Hautfarbe, Nationalität, Religion oder sexuelle Orientierung – all das sollte eigentlich keine Rolle spielen. Hoffentlich sind die echten Fans bereit und in der Lage, diese tolle Idee vom Fußball zu verteidigen. Gegen Nationalisten, gegen Rassisten, gegen Rechtsextreme.