Dieser Text ist vor einem Jahr auf der Internetseite des Willy-Brandt-Kreises erschienen. Mit Zustimmung der Autorin und der Autoren veröffentlichen wir den Beitrag im Blog-der-Republik.
Wie die bisherigen fünf Egon-Bahr-Symposien wurde auch das sechste von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe des Willy-Brandt-Kreises und der Friedrich-Ebert-Stiftung vorbereitet. Seit dem Beginn des breit angelegten Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine am 24.2.2022 hat sich immer wieder gezeigt, dass die Länder des Globalen Südens eine eigene Sichtweise und Einschätzung der Ereignisse haben, ihre Perspektive in den NATO- und EU-Staaten bisher aber nur wenig beachtet wurde. Daraus ergab sich eine ganze Reihe von diskussionswürdigen Fragen:
• Wie schätzen Länder wie China, Indien, Brasilien oder afrikanische Staaten die aktuellen Probleme Europas ein?
• Wie ist die Diskussion in den Vereinten Nationen?
• Welche ökonomischen und friedenspolitischen Konsequenzen hat dieser Krieg aktuell für den Globalen Süden, welche sind noch zu erwarten?
• Was bedeuten die Veränderungen für die Global Governance?
• Welche Allianzbildungen und neue Koalitionen ergeben sich daraus?
• Welchen konstruktiven Beitrag kann der Globale Süden zur Kriegsbeendigung leisten?
„Kenia und fast jedes afrikanische Land wurde durch das Ende eines Empire geboren. Grenzen zogen wir nicht selbst. Sie wurden in den fernen Kolonialmetropolen London, Paris und Lissabon gezogen…
Wieczorek-Zeul zitierte auch das Friedensgutachten 2023: „Der Krieg untergräbt die Funktionsfähigkeit internationaler Organisationen und erschwert dringend notwendige Kooperation in Politikfeldern wie dem Klimaschutz oder der Handelspolitik.“ Daher müsse auch auf Stimmen aus dem Globalen Süden und deren Lösungsansätze gehört werden, um eine neue Blockbildung zu verhindern, die das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele der 2015 verabschiedeten Agenda 2030 massiv behindern würde. In diesem Zusammenhang wies sie auf den Anfang Juni erschienenen Bericht eines Hochrangigen Panels (High Level Advisory Board) unter Leitung von Ellen Sirleaf Johnson (ehemalige liberianische Präsidentin) und Stefan Löfven (früherer schwedischer Ministerpräsident und Vorsitzender der SPE) hin, der folgende wichtige Punkte anspricht: neues Vertrauen in Multilateralismus schaffen, die VN unterstützen und besser finanzieren, Klimaanpassung und Dekarbonisierung im Globalen Süden sowie die Umsetzung der SDGs unterstützen und die dafür notwendigen Finanzmittel mobilisieren (1 Billion US-$/Jahr). Der Bericht enthält auch mutige Überlegungen zu Atomwaffen: Es sollte eine unabhängige Kommission zu den Risiken von Atomwaffeneinsätzen einberufen werden. Der für 2024 geplante Summit for the Future der Vereinten Nationen sollte die Norm zur Abschaffung von Atomwaffen bekräftigen und
ihre Abrüstung bis 2045 fordern, womit dann das Jahrhundert der Atomwaffen enden könnte. Daraus ergibt sich für Deutschland und die EU/NATO: Schuldenbremse in Frage stellen, doppelte Standards vermeiden. Insbesondere bedeutet das, völkerrechtswidrige Angriffskriege in jedem Fall zu ächten und jegliche Grenzveränderungen mit Gewalt abzulehnen.
Als Keynote-Speakerin stellte Angela Kane, langjährige UN-Mitarbeiterin und von 2012 bis 2015 Hohe Repräsentantin der VN für Abrüstungsfragen, ausführlich die bisher sechs Resolutionen der VN-Generalversammlung zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine vor. Sie analysierte die Abstimmungsergebnisse und folgerte: „Es ist ersichtlich, dass viele Entwicklungsländer versuchen, nicht in die Schere der verschärften Konfrontation zwischen den USA, China und Russland zu geraten. Manche enthielten sich der Stimme, aber waren nicht bereit, Sanktionen zu verhängen.“
Aus den Statements verschiedener Staaten bei den Sondersitzungen zitierte sie Hinweise auf die ökonomischen Folgen für viele Staaten, sowohl durch die Kriegshandlungen als auch durch die von den USA und der EU verhängten Sanktionen. Insbesondere kamen in den Debatten stark gestiegene Getreide-, Düngemittel- und Energiepreise zur Sprache, aber auch Kritik an doppelten Standards in Bezug auf Völkerrechtsverstöße und Einmischung in innere Angelegenheiten von Staaten.
In einer kurzen Gesprächsrunde zwischen Keynotegeberin und Kommentator:innen kamen weitere Punkte zur Sprache, darunter der unterschiedliche Umgang mit Flüchtlingen aus der Ukraine, die menschenwürdig behandelt werden, und Flüchtlingen aus dem Globalen Süden, die oft in Lagern landen, die jede Menschenrechtsrhetorik Lügen strafen. Europa bekam nach dem Zweiten Weltkrieg Marshallplanhilfe – Afrika musste mit den Folgen des Kolonialismus ohne vergleichbare wirtschaftliche Unterstützung zurechtkommen.
Es folgte ein Panel , an dem außer Prof. Dr. Hornidge folgende Personen teilnahmen: Prof. Dr. Götz Neuneck (Deutschland), Prof. Dr. Jeffrey Sachs (USA), Prof. Giorgio Romano Schutte (Brasilien), Dr. Vera Songwe (bis vor kurzem bei der Economic Commission for Africa (UN/ECA)) sowie Dr. Li Yang (China). Das Panel wurde von Edelgard Bulmahn (Ministerin und Bundestagsvizepräsidentin a.D.) moderiert. Hier kamen insbesondere folgende Punkte zur Sprache: Nach Ende des Kalten Krieges wurde es versäumt, eine stabile neue europäische
Sicherheitsordnung aufzubauen. Warnungen aus der Friedens- und Konfliktforschung wurden nicht ernst genommen, vorhandene sinnvolle Bausteine (OSZE, Vertrag über den Offenen Himmel) nicht genutzt. Die USA wollten eine unipolare Weltordnung festschreiben, wir sehen aktuell jedoch den Aufstieg Chinas.
Es gibt viele gute Gründe, auf eine schnelle Beendigung des Ukrainekrieges hinzuwirken, neben den Kosten im weitesten Sinne und den Eskalationsrisiken auch die weltweiten Auswirkungen nicht nur für die Menschen im Globalen Süden, sondern auch für die ärmeren Menschen in den USA und Europa. Wobei für einen Ausweg aus dem Krieg auch die Entscheidungen und Narrative berücksichtigt werden müssen, die zu diesem Krieg beigetragen haben.
Der Ukrainekrieg und die daraus resultierenden Preissteigerungen, insbesondere für Energie und
Lebensmittel, verschärfen die ohnehin schon – unabhängig vom jeweiligen Einkommensniveau des Landes und von der Regierungsform – wachsenden sozialen Ungleichheiten zwischen und innerhalb der Länder. Die höchsten Inflationsraten finden sich in den ärmsten Ländern, und Inflation trifft innerhalb eines Landes die Ärmsten überproportional. Analyse der ungleichen Wachstumsentwicklungen in den letzten 35 Jahren: die Ärmsten blieben arm, im Bereich der globalen Mittelschichten haben – vor allem durch das Wirtschaftswachstum in Indien und China –die mittleren Einkommen eine rasante Zunahme aufzuweisen, die (damit verglichen höheren) Einkommen der Mittelschichten der Staaten des Globalen Nordens stagnieren, während das oberste Einkommensprozent weltweit massive Einkommenszuwächse aufzuweisen hat.
Ein weiteres Thema waren die oft problematischen Kreditbedingungen und die Frage nach einem Schuldenerlass für hoch verschuldete Länder des Globalen Südens, mit einem vorsichtigen Optimismus, dass die Regeln des Klimafonds neue Chancen bieten. Viele Themen konnten in der Diskussion nur angerissen werden, so dass es für die Weiterarbeit der Veranstalterorganisationen und das nächste Egon-Bahr-Symposium viele spannende
Anknüpfungspunkte gibt.