Die gute alte BRD, 75 Jahre Grundgesetz. Was war das, wie war das? Viel Glanz war wenig, grau war vieles, kaputt durch den Krieg, ärmlich die Verhältnisse. Wir kennen die Bilder der zerbombten Städte, die mit den Trümmerfrauen, die die Trümmer wegräumten, die die Männer zuvor angerichtet hatten. Wohlstand war ein fremdes Wort, aber es gab Brot, wir hatten einen Garten mit Kartoffeln, Wurzeln, Bohnen und alle hatten den Krieg überlebt.
Bei uns zu Hause, auf dem Land am Rande des Ruhrgebiets gab es so gut wie keine Trümmer, als ich, Jahrgang 1941, begann, die Welt mit meinen Augen wahrzunehmen. Krieg verbinde ich nur mit den Sirenen, die nachts dazu führten, dass meine Eltern mich weckten und mit allen fünf Kindern quer durch des Nachbars Garten zum nächsten Bunker rannten. Später erfuhr ich den Grund der Sirenen: die Alliierten Bomber-Flotten flogen Richtung Ruhrgebiet, um ihre Bomben auf Städte wie Essen-das war Krupp-, Duisburg bis Dortmund- das waren die Kohlezechen- zu werfen. Bei uns warfen sie nur ihre Restbestände ab, irgendwo in den Wäldern entstanden dann Bombentrichter, die sich mit Wasser füllten, die im Winter zufroren, sodass wir darauf mit Schlittschuhen laufen und Eishockey spielen konnten. Nicht zur Freude der Eltern, weil wir unsere Schlittschuhe an den Absätzen der Halbschuhe festmachten, wodurch sie zerkratzt wurden. Auch benutzten wir -unerlaubt- den Spazierstock der Väter, um damit den Puck-das war meist ein Stein- zu schlagen. Der Spazierstock sah danach ramponiert aus.
Wir spielten früh Fußball, traten gegen alles, was sich bewegen ließ. Im Glücksfall hatte jemand einen Gummiball, aber normal waren es Büchsen, gegen die wir traten oder zusammengeknüpfte Lumpen. Lederbälle gab es nur im Verein und die waren sehr schwer. Sie hatten zudem einen Riemen, mit dem der Ball zusammengeschnürt worden war. Nach einem Kopfball zeichnete sich die Schnüre auf der Stirn des Kickers ab.
Es war verboten, in den Wäldern nach Munition zu suchen oder den Resten davon. Wir taten es trotzdem und machten aus den Hülsen Wasserspritzen. Ein Cousin starb, als er Munition in einem Wald aufnahm, weil sie explodierte. Das passierte auch schon mal.
Die Zeiten waren so, wie sie waren. Sparsam, bescheiden, viel hatten wir wenig, aber dieser Mangel traf ja alle. Es gab Brot, wenig Wurst, Fleisch vielleicht einmal die Woche, Eintopf war das Gericht des Tages, der Woche, des Jahres, alles, was der Garten hergab, wurde darin verarbeitet. Gehungert habe ich nicht. Es wurde aufgeschrieben-es hieß anschreiben lassen- beim Metzger, beim Bäcker, beim Lebensmittelhändler, bezahlt wurde am Ende der Woche oder des Monats. Für mich war es eine Besonderheit, die Mutter zum Bäcker oder Metzger zu begleiten, weil ich dort einen Amerikaner geschenkt bekam oder ein Stück Fleischwurst.
Die Vier-Zimmer-Wohnung bot Platz für sieben Personen, kaum vorstellbar, wenn man das heute mit den 150-Quadratmeter-großen Reihenhäusern vergleicht. Der Kohleofen wurde am Morgen vom Vater angeheizt, damit die Küche warm wurde. Das gute Wohnzimmer war für den Sonntag reserviert, wenn Verwandte zu Besuch kamen. Badezimmer gab es erst später, ein großes Waschbecken musste reichen, dazu am Samstag die Badewanne aus Zinn, im Hof konnte man sich zudem unter einer Pumpe waschen, die aber im Winter zufror. Das Plumpsklo war Standard. Wir hatten kein Auto, nur ein Fahrrad, mit dem Vater zur Arbeit fuhr.
Rahn müsste schießen…
Die gute alte BRD. Das war für mich das Fußball-Endspiel Deutschland gegen Ungarn im Berner Wankdorf-Stadion. Ich habe es in der Vereinskneipe von Schwarz-Weiß Meckinghoven-liegt bei Datteln im Kreis Recklinghausen-gesehen. Auf der Fensterbank war Platz für die Schülermannschaft, der Fernseher war winzig, aber man konnte was sehen, die Tore der Ungarn, man hörte die Enttäuschung der Zuschauer, dann die Tore durch Max Morlock und Helmut Rahn. Sie wissen schon: Schäfer zu Rahn, Rahn müsste schießen, Rahn schießt, Tor. 3:2. Deutschland ist Weltmeister. Die Stimme des Reporters Herbert Zimmermann überschlug sich. Er machte den Torwart Toni Turek zum Fußballgott. Wir alle waren Weltmeister, waren wieder wer, auferstanden aus Ruinen.
Man ging nicht ins Restaurant, dafür war kein Geld da. Selten hatte man Bier zu Hause, wenn dann mal eine oder zwei Flaschen. Wer hatte schon einen Kühlschrank? Wein? Sekt? Viel zu teuer, keiner kam auf die Idee. Mal eben in die Stadt? Das war weit, zunächst rund 500 Meter zu Fuß zur Straßenbahn-Haltestelle, dann mit der Tram ins Dorf, von dort mit der nächsten Bahn nach Recklinghausen. Man brauchte viel Zeit. Als ich 13 Jahre alt war, nahm mich mein Vater mal mit zu einem Spiel der Oberliga West, sein Verein war Schalke 04. Gespielt wurde in der Glückauf-Kampfbahn in Gelsenkirchen. Für mich ein Riesen-Ereignis. Später durfte ich dann mal die Tante in Oer-Erkenschwick besuchen, die in der Nähe des Stimberg-Stadions wohnte. Dort spielte die Spvg Erkenschwick in der Oberliga West gegen Schalke. Am Ende gab es eine Massen-Schlägerei auf dem Platz und den Vorplätzen.
Urlaub, das war noch nicht im Flieger in die Welt der Sonne entgegen. Als Jugendliche und Pfadfinder machten wir eine Fahrradtour durch die Eifel bis zur Mosel und haben gezeltet u.a. in der Nähe des Nürbürgrings. Ganz schön laut dort, wir haben es genossen, wenn die Rennautos ihre Runden drehten und die Motoren aufheulten. Unterwegs wurde gekocht auf kleinen Benzin-Kochern, was, weiß ich nicht mehr, aber unsere Ansprüche waren nicht hoch. Oft gab es Kartoffeln an Erbsen oder Möhren, wenn es hoch kam ein Stück Fleischwurst dazu. Na und? Mit zwei Freunden sind wir mit dem Rad an die holländische Küste gefahren, haben unterwegs bei irgendeinem freundlichen Holländer übernachtet, am dritten oder vierten Tag wurde übergesetzt auf die Insel Terschelling, gezeltet in den Dünen. Das ging damals noch. Gegessen haben wir Pommes frites, die gab es an jeder Ecke und die waren billig.
Das erste Kino
Das erste Kino war eine Sensation, erbaut hatte es jemand, der mit dem Schrott der gesprengten Kanal-Brücken sein Geld gemacht hatte. Der Mann fuhr einen BMW V 8. Da standen wir davor und bestaunten das Gefährt. Nie vergessen werde ich den Film mit Heinz Rühmann „Die Feuerzangenbowle“. Über Politik wurde bei uns zu Hause nur gesprochen, wenn wir Kinder draußen waren. Begründung. Davon versteht ihr nichts. Meine Eltern waren eher konservativ, keine Nazis. Von meinem Vater hörte ich mal, als er seinem Ärger darüber Luft machte, dass dieselben Männer, die während der Nazi-Zeit die Banner bei Prozessionen getragen hatten, nun wieder in der ersten Reihe standen, um den Baldachin zu tragen.
Die gute alte BRD, in der war es verpönt die DDR beim Namen zu nennen. Es gehörte Anführung und Abführung dazu. Das war Pankow, mit ff am Ende gesprochen. Ostberlin, das war der kommunistische Teil. War das eine Sensation, als der Verfassungsschutz-Präsident Otto John angeblich in den Osten entführt wurde. Oder war der Mann ein Überläufer? Jedenfalls zählte das Thema zu den Affären der Republik, die dagegen nicht gefeit war. Natürlich nicht, wie die Spiegel-Affäre zeigte, die ja eine Strauß-Affäre war. Und wenn wir schon beim früheren CSU-Chef sind, können wir gleich noch Fibag und Starfighter erwähnen, nur als Beispiele dafür, dass diese Republik auch ihre Affären hatte. Später kam die Flick-Affäre hinzu, das mit der Pflege der Bonner Landschaft, Namen wie Brauchitsch seien erwähnt wie Otto Graf Lambsdorff oder Walter Leisler-Kiep. Lange her. Es ist nur ein Auszug. Und doch war dieses Land gelungen mit seiner Verfassung, Besseres gab es nie in der deutschen Geschichte.
Mein erstes Auto war ein VW, Baujahr 1953, Standard, 23 PS, mausgrau. Bergauf konnte es schon mal knapp werden, Bergab ließ ich es sausen, Tempo 120 war eine Art Lichtgeschwindigkeit. Die Luftklappen musste man, wenn sie verrostet waren, mit einem Stück Holz zuklemmen. Die Folge: der Wagen heizte dann im Sommer wie im Winter. Ein tolles Auto, einfach, es lief und lief.
In den 60er Jahren begriff ich dann die Politik, hörte mit, las in den Zeitungen über den Auschwitz-Prozess, den Aufstieg der SPD, die in unserem Dorf nicht so beliebt war, weil die Ecke eben schwarz war wie die Nacht. Aber Willy Brandt sorgte dann für eine andere Stimmung auch bei mir zu Hause. Es kam zu heftigen Diskussionen, ich empörte mich über Konrad Adenauer, der hatte Willy Brandt diffamiert, weil der ein uneheliches Kind war. So war es halt in der alten BRD, die nicht immer nur gut war. Eine Portion Doppelmoral und Scheinheiligkeit kamen hinzu. Das mit dem unehelichen Kind verübelten viele Konservative Brandt, dazu kam dann noch Herbert Wehner, der einstige Kommunist. Schlimmeres gab es kaum, so verlief manche Diskussion. Dann die Demonstrationen der Studenten, die 68er mit ihren langen Haaren. Und wenn man dann noch gegen den Vietnam-Krieg der Amerikaner war, wurde man fast schon zum Freundeskreis des Kreml gerechnet.
Sozialliberale Koalition
Die Liberalisierung der deutschen Gesellschaft, das war dann die Folge der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP. Der Streit um den Paragraphen 218, die Gespräche mit der DDR, mit Moskau, das mit der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens, woraus die Revanchisten den Verrat und Ausverkauf Deutschlands machten. Brandt half der Republik, dass der Mief ein wenig verzog. Auch das war die gute alte BRD. In der dann die SPD neben der CDU zur Volkspartei wuchs, die gute alte Sozialdemokratie war salonfähig, gemeint gesellschaftsfähig geworden, auch auf dem Lande, in meinem alten Dorf. Vorbei die Zeiten, da von der Kanzel fast unverhohlen zur Wahl der Christdemokraten aufgerufen worden war.
Als ich 1989 das erste Mal das ehemalige KZ Auschwitz besuchte- Anlass waren Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Kriegsausbruchs in Danzig mit dem damaligen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau(SPD)- fuhr ich allein nach Auschwitz und spazierte über das große und weite Gelände, sah in den Schaufenstern die Berge von Kinderschuhen, Haaren, Koffern, Brillen, Gebisse, Kleider, las die Texte, wie die Nazis Menschen hatten vergasen lassen, unvorstellbare Verbrechen der Menschlichkeit, da verschlug es mir den ganzen Tag lang die Sprache. Es war alles nichts Neues, aber am Tatort zu sein und alles mit eigenen Augen zu sehen und zu lesen, macht den Unterschied. Ich war schockiert. Wie konnte das passieren? Der Holocaust mit sechs Millionen toten Juden aus ganz Europa. Diese Begeisterung von Millionen Deutschen für Hitler, trotz seiner Verbrechen. Dass den Deutschen nach dem Krieg überhaupt jemand die Hand reichte, erst Adenauer mit der West-Integration, später Brandt mit der Aussöhnung Deutschlands mit dem Osten, mich hat es an diesem Ort gewundert. Dass wir wieder aufgenommen worden waren in den Kreis der zivilisierten Menschen. Da geht einem manches durch den Kopf, die Einheit Deutschlands während der Kanzlerschaft Kohls, die uns leicht gemacht wurde durch den sowjetischen Staatschef Gorbatschow, der die Panzer in der DDR in den Kasernen ließ und zuschaute, wie die Mauer verschwand. Wer hätte das je gedacht?! Nach Auschwitz, nach dem Vernichtungskrieg von Nazi-Deutschland gegen die UdSSR.
75 Jahre Grundgesetz, das heißt nicht, dass alles perfekt war in Bonn und jetzt ist in Berlin. Zur Aufarbeitung unserer braunen Geschichte könnte man einiges sagen, weil sie aufgeschoben wurde, weil angeblich die Zeit dafür nicht da war, wie es hieß, der Wiederaufbau hatte Vorrang. Nur soviel schieb ich hier ein, dass man den Verdacht nie los wurde, dass diese Aufarbeitung auch deshalb nach hinten geschoben wurde, weil es im Land der Täter zu viele ehemalige Nazis gab, die einfach weiter arbeiten durften, als Juristen zum Beispiel, oder als Chef des Kanzleramtes unter Konrad Adenauer, als Abgeordnete in den Parteien, das eine oder andere einstige NSDAP-Mitglied wurde gar Kanzler und Bundespräsident, wurde Journalist, stand einem Magazin vor, leitete in einem großen Sender eine angesehene Talkshow. Es waren nicht nur Sterne, die hier aufgingen. Manager in Großbetrieben hatten nach Kriegsende schnell das braune gegen ein weißes Hemd gewechselt und so machte man Karriere. Einzelfälle? Na ja. Aber ich sollte hinzufügen, dass ich mich leicht tue mit dieser Schilderung, weil ich nicht der Gefahr ausgesetzt war in meinem Leben. Denn natürlich wüsste ich nicht, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich in der Nazi-Zeit gelebt hätte. So ähnlich hatte sich Helmut Kohl nach dem Ende der DDR geäußert, als man daran ging, einstige Kommunisten u.a. aus den Lehrämtern zu entfernen.
Bonn und Berlin
Bonn, Berlin. Im kleinen Bonn fing alles an mit der neuen Bundesrepublik, klein, bescheiden, das stand der Republik, die aus den Trümmern kam, gut zu Gesicht. In Bonn wurde das Fundament für diese Demokratie gebaut, sehr stabil. Mit rheinischer Gelassenheit, ohne das große Wort zu führen. Kritiker meinen, Bonn immer auch das Provinzielle anhängen zu müssen. Ich fand das nie als Nachteil, nach dem 1000jährigen Reich, das kleine, charmante Städtchen am Rhein als politisches Zentrum des ganzen Landes. Das Grundgesetz wurde hier in Bonn gemacht, beschlossen und verkündet. Dass die großen Feiern heute in Berlin stattfinden, ist ok. Aber der Anfang wurde am Rhein gemacht, davon zehrt die neue Hauptstadt bis heute, die größer ist, natürlich, die aber das zu oft betont, dass sie Hauptstadt ist. Ich habe ein paar Jahre in Berlin gewohnt und gearbeitet, wir haben uns wohl gefühlt. Es war schön, anstrengend auch, man möchte die Zeit nicht vermissen.
Wer Bilanz zieht, sieht vieles in der Rückschau. Erkennt, dass es vielen gut geht, beileibe nicht allen. Wer sich umschaut z. B. im Ruhrgebiet, erkennt manche nicht gelösten Probleme. Man redet locker über den Strukturwandel und übergeht bei manchen Highlights die Folgen des Zechensterbens, des Verschwindens der Hochöfen, der Brauereien, verbunden mit dem Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen. Da sind Kulturen gestorben. Ja, vieles ist gelungen, aber nicht alles, es ist noch viel Luft nach oben. Da muss die Politik ran, ansetzen, damit es auch den anderen besser geht, damit alle spüren: Wir haben etwas zu verteidigen, wir dürfen es nicht den Radikalen, den Rechtsextremen überlassen, der AfD, die nur zerstören will, was unsere Mütter und Väter aufgebaut haben. Wir müssen uns denen in den Weg stellen, die Hass predigen, Verrohung fördern, Schlägertum produzieren, wie es Axel Hacke in seiner Kolumne des SZ-Magazins geschrieben hat mit Blick auf Neukölln. Deren Methoden sind Lügen und Gewalt. Das Grundgesetz lehrt uns den anderen Weg, Freiheit, Demokratie und Vielfalt, „es markiert den Sieg über die Gemeinheit und, wenn wir es richtig machen,“ wird es ihn weiter markieren. Es sind die Feinde, die unser Land schlecht reden, sie tun das mit unseren Geldern. So ist das mit einer Demokratie, die offen ist und Spielraum bietet. Dazu braucht es die wehrhafte Demokratie. Die gibt es und die muss sich jetzt, da die Gefahr gewachsen ist, beweisen. Wir brauchen ein buntes Deutschland, kein braunes, eines der Vielfalt, der Demokratie.
75 Jahre Grundgesetz ist eine Erfolgssaga ohne Beispiel. Jawohl!!!