Kleine Bundestagswahl nennt man die Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland, das immerhin etwas über 18 Millionen Einwohner hat. Rund 13 Millionen von ihnen sind wahlberechtigt, darunter 785900 Erstwählerinnen und Erstwähler. Etwas mehr als die Hälfte, 6,7 Millionen, sind Frauen. Kleine Bundestagswahl, das ist dann wirklich ein echter Text über die Stimmung in der gesamten Republik. Ein Stimmungstest für die Ampel-Regierung Scholz, die viel zu tun hat mit Corona und eben dem Krieg und allem, was dazu gehört. Es ist auch ein Test für die neue CDU-Führung in Berlin um Friedrich Merz, der dringend einen Sieg in NRW braucht.
Wer gewinnt, weiß heute niemand, die Auguren sprechen von einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Amtsinhaber von der CDU, Hendrik Wüst, und dem Herausforderer der SPD, Thomas Kutschaty, die sich gerade noch ein TV-Duell lieferten, das nach Meinung von Experten auf Augenhöhe stattfand. Leichte Vorteile sehen die Wahlforscher für die CDU, was aber nicht bedeutet, dass damit die Frage nach dem Ministerpräsidenten und der Regierungskoalition entschieden sei. Diese Frage entscheiden die Grünen, die nach allen Umfragen zwischen 16 und 18 Prozent liegen. Kurz gesagt, die Spitzenkandidatin der Grünen, Mona Neubaur(44), kann sich am Sonntagabend aussuchen, ob sie Wüst oder Kutschaty zum Ministerpräsidenten kürt, ob NRW von Schwarz-Grün regiert wird, oder von Jamaika, also Schwarz-Grün-Gelb, oder von Rot-Grün oder einer Ampel wie in Berlin, also von Rot-Grün-Gelb. Es bleibt spannend bis mindestens 18 Uhr am Sonntag, wenn alle Stimmen abgegeben sind und ausgezählt wird. Klar scheint, dass die jetzige NRW-Koalition aus CDU und FDP keine Mehrheit mehr bekommt.
Aufreger sind Bomben
Die Grünen sind anders als früher mehr als optimistisch, sie können sicher sein, dass sie nicht nur mitregieren. Wie sagte Mona Neubaur: „Es ist vielleicht gar nicht so spielentscheidend, welcher Mann das Amt des Ministerpräsidenten übernimmt.“ Ganz schön vorlaut, hätte man früher gesagt, zu vorlaut. Und Frau Neubaur legt noch eine Schippe drauf: „Egal in welcher Regierungskonstellation: Wir Grüne sind der Garant für die Gestaltung des dringend notwendigen Wandels.“ Und noch eins: „Wir wollen die erste klimaneutrale Industrieregion in Europa werden.“ Die Frage wird sein, ob das alles so kommt, wie sie es sich wünscht, Windräder, Solarzellen, Bürgerticket. Und ob nicht die Politik-Wende, nämlich der Krieg, der jede Diskussion im Land und im Bund beherrscht, anderes erforderlich macht. Die Aufreger kommen aus der Ukraine, Bomben und Raketen von Putins Russland haben auch hier Ängste ausgelöst, dieser Kieg könnte irgendwann auf den Westen überschwappen. Und dann? Dazu die Drohungen Putins mit einem Atomkrieg.
Was sind dagegen die kaputten Straßen, die maroden Schulen, geschlossene Schwimmbäder, nicht fertig werdende Bauten wie zum Beispiel in Bonn die Sache mit der Beethovenhalle. Eigentlich zum Weinen. Oder der Versuch der Verkehrswende wiederum in Bonn unter der neuen Grünen-Oberbürgermeisterin, ein Chaos ohne Ende. Doch worüber reden die Leute? Über den Krieg, über Putin, die schweren Waffen, den Botschafter Melnyk, den Kanzler Olaf Scholz. So hat es die SZ auf ihrer berühmten Seite 3 zur NRW-Wahl überschrieben: „Und über allem der Krieg.“ Der auch Corona verdrängt hat, dabei ist die Pandemie zwar zurückgegangen, es gibt erstmals seit Jahr und Tag keine Todesmeldungen mehr im Zusammenhang mit Corona, aber die Seuche gilt noch lange nicht als bekämpft. Und wer weiß, was uns im Herbst und Winter passieren wird, wenn es wieder feuchter ist und kälter.
Wüst nicht unumstritten
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Das Land an Rhein, Ruhr, Emscher und Lippe ist längst nicht mehr das Land von Kohle und Stahl, aber es ist weiterhin ein Industrieland, das lange Jahre von der SPD regiert wurde. Heinz Kühn und Johannes Rau, der spätere Bundespräsident, waren beliebte Ministerpräsidenten, aber nach Rau ging es bergab mit den Stimmen für die SPD. 2005 wurde Jürgen Rüttgers Ministerpräsident, nicht mehr überraschend. Aber der CDU-Politiker wurde schon nach einer Legislaturperiode abgelöst von Hannelore Kraft, der populären Sozialdemokratin noch aus der Rau-Zeit. Und sie verlor 2017 gegen Armin Laschet, den es aber nach einigen Jahren Richtung Berlin zog. Er wurde CDU-Chef, Kanzlerkandidat der Union, und scheiterte bei der letzten Bundestagswahl an Olaf Scholz. Laschet übergab kurz vorher noch den Stab des MP an einen Jüngeren, Hendrik Wüst. Er ist nicht unumstritten, unvergessen Rent-a-Rüttgers, oder die heimliche Video-Überwachung der damaligen Oppositionschefin Hannelore Kraft durch Wüst, als der NRW-CDU-Generalsekretär war. Und anderes mehr, was Rüttgers veranlasste, den „General“ zu feuern. Kurz vor dieser Wahl trat seine Umweltministerin Heinen-Esser zurück, weil sie kurz nach der Hochwasser-Katastrophe neun Tage auf Mallorca Urlaub machte. Pikant dazu das angebliche Geburtstagsessen ihres Mannes mit weiteren Ministern wie Stephan Holthoff-Pförtner und Ina Scharrenbach auf der Insel. Pikant deshalb, weil auch vermutet wurde, diese illustre Minister-Runde habe sich auf Mallorca getroffen, nicht um dort zu Ehren eines Geburtstagskindes zu speisen, sondern um die Alternativen zu Hendrik Wüst zu erörtern. Wie gesagt, es war eine Spekulation.
Wüst hat kaum einen Amtsbonus vorzuweisen, in ein paar Monaten auch schwierig. Die Flutkatastrophe ist lange her, nicht aber deren Bewältigung, die Hilfsgelder an die Geschädigten hängen in der Luft, der Wiederaufbau wird dauern, all das hat Ärger bereitet. Aber ob das über die Betroffenen hinaus ein Thema ist in der Wahl-Kabine? FDP-Spitzenkandidat Joachim Stamp gab zu: „Es ist nicht einfach, über die Landtagswahl zu sprechen, weil alles so viel kleiner wirkt als zuvor.“
Kutschaty-Vegetarier im Currywurstland
So geht es auch Thomas Kutschaty, der sich den Bundeskanzler als Wahlhelfer ins Land holte. Dass dieser von Demonstranten, Querdenkern, von berufsmäßigen Störern ausgepfiffen und niedergeschrien wurde, nimmt ein Profi wie Scholz hin, er musste seine Stimme auf Lautstärke 10 hochdrehen, um sich verständlich zu machen. Kutschaty hat seit ein paar Tagen die Diskussion über die ohnehin umstrittene Bundesverteidigungsministerin Lambrecht am Hals, weil diese mit ihrem Sohn im Hubschrauber Richtung Küste in den Urlaub flog. Kutschaty wie Wüst geben den Kümmerer, eine Rolle, die Hannelore Kraft einst stark machte. Kutschaty ist ein Vegetarier im Land der Curry-Wurst, ein Zeichen des Wandels? Wüst, der bei seiner Wahl vor einem halben Jahr seine Läuterung vom krawalligen Wirtschaftsliberalen zum ruhigen Familienvater bekannte, redet Sätze wie: „Eine warme Wohnung darf kein Luxus sein.“ Es fällt auf, wie er die Bilder vom glücklichen Familienvater sucht mit Tochter Pippa auf dem Arm. Sein „täglicher Glücksquell“. Es wirkt etwas kitschig, aber in der Zeitschrift „Bunte“ sind es die Themen, die das Blatt ausmachen.Thomas Kutschaty, Jurist wie Wüst, hat schon Elternzeit genommen, als die für Männer noch nicht vorgesehen war. Familiengeschichten müssen wohl sein.
Die FDP kämpft um ihre Rolle als Regierungsmacherin. Was schwierig ist. Sie läuft Gefahr unterzugehen, sie spielt im Wahlkampf kaum eine Rolle. Bei Schwarz-Grün, ohnehin für viele Berliner Journalisten die Traum-Konstellation, die sie sich schon für die Bundesrepublik gewünscht hatten, könnte Wüst ohne die FDP regieren. Die Grünen-Chefin Mona Neubaur hat das klar gemacht: sie wünscht sich ein Zweierbündnis. Das kann natürlich auch Rot-Grün sein- in jedem Fall mit der Vize-Ministerpräsidentin Neubaur. Natürlich ist auch die Ampel möglich mit der SPD und der FDP oder Jamaika, wenn es nicht anders geht. Aber eben mit den Grünen und dann mit der FDP.
Am Sonntagabend wissen wir mehr über die neue Macht am Rhein.