Ja, denn am Vorabend des 8. Mai 2023, dem Weltfriedenstag, war an diesem elementar kühlen, vielleicht heiligen „Kirchort“ in Radolfzell auch der Zerstörungs-Irrsinn durch Putin und seine Mannen gar nicht wegzudenken, Tod und Verzweiflung, Schmerz und Ohnmacht in der Ukraine in jedem andachtsvoll geschmückten Winkel dieses wunderschönen spätgotischen Prachtbaus permanent spürbar, in jeder Bank, zwischen den leuchtenden Kerzen, auf den Altaren, anwesend wie stumme Schreie all der zivilen Opfer, der bisherigen und der zukünftigen.
Es ist auch die scheinbar fatale Gleichzeitigkeit – dort die kranke wahnhafte Brutalität eines hochgerüsteten Aggressors, hier wir die saturierten Bildungsbürger:innen am beschaulichen Bodensee – ja, eine gleiche Jetztzeit, die im Grunde fassungslos macht.
Der Sozialpsychologe Harald Welzer ( Jahrgang 1958) besteht in seiner selbstkritischen Weltsicht auf dem „Futur II“, nämlich „vollendet“. Das bedeutet eben nicht: „ich werde oder wir werden sein“ also nur die einfache Zukunft, sondern vielmehr: „Wir werden gewesen sein.“ Ja, das gilt für alle Menschen, global, und es geht um Verantwortung für unsere jeweilige Zeitspanne, unser je individuelles Leben, Hier und Jetzt, und als Summe von Tagen, Wochen, Monaten, Jahren für unser Dasein auch dann in einer moralischen Rückschau. Und mit diesem kleinen ethischen Exkurs landen wir an einem Spätnachmittag im Wonnemonat Mai im wohl gefüllten Münster, und betrachten unsere eigene kriegerische Historie und genießen das andächtige Klima unserer humanistischen Kultur.
„Gestern wird sein, was morgen gewesen ist. Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben.“ – So beginnt die sarkastische Erzählung „Das Treffen in Telgte“ von Günter Grass. Er schildert darin – in Analogie zu den Tagungen der im Nachkriegsdeutschland bedeutenden Literatenvereinigung „Gruppe 47“ – ein fiktives Treffen deutscher Dichter im Jahr 1647, also während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Drei Tage lang erörtern Simon Dach, Paul Gerhardt, Gryphius, Grimmelshausen und andere in teils humorigen, teils erbittert geführten Diskussionen die Lage der deutschen Literatur in politisch chaotischer Zeit und möchten einen Beitrag leisten zur Beendigung der Grauen des Krieges. Auch die Musik, in Gestalt des Komponisten Heinrich Schütz, soll in diesen Prozess eingebunden werden.“
So die Inhaltsangabe zu einem außergewöhnlichen Event im katholische Münster zu Radolfzell am Bodensee.
In einer wunderbar anmutigen Text- und Musikperformance im Wechsel trug der bekannte Sprecher und Moderator beim SWR – Rudolf Guckelsberger mit seiner so schön wissend klingenden Stimme wesentliche Passagen aus „Das Treffen in Teltge“ vor, dieser höchst selbstironischen Erzählung von Günter Grass. Dabei wurde mancherlei an typisch herrenhafter Selbstüberschätzung der ersten intellektuellen Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland, gespiegelt im gedrechselt elitären Gehabe der Geistesgrößen Mitte des 17. Jahrhunderts – man ist ja so ganz unter sich – vom großartigen Dichter Grass als kenntnisreichem Zeitgenossen unserer ach so aufgeklärten Tage aufs Korn genommen.
Und so naheliegend ambivalent zwischen Widerstandslust und kaum zu verdrängenden traumatischen Erfahrungen – sowohl im dreißigjährigen Krieg als auch nach den Massenmorden in der deutschen NS-Zeit – erging es auch mir als Zuhörerin, und die Frage blieb ungelöst im großartigen Raum dieses Kirchenschiffs hängen: warum lief das grauenhafte Geschehen scheinbar so wie eine furchtbar effektiv geölte Maschine ab? Ein Grund – warum mächtige Männer quasi nur unter sich die ihnen gehörige Welt kaputtkriegen – ist die konkrete Abwesenheit von Frauen. Für eine humane Balance in der politischen Machtverteilung auf Erden jedoch ist der weibliche Anteil – übrigens unbedingt auch in den Seelen der Männer – unverzichtbar!
Überaus deutlich wurde das dann in den drei tollen Tagen im „Brückenhof“ zu Teltge, also das Quartier auf dem Land fürs leibliche Wohl und die Herberge für geistreiche Gespräche und ebensolche Getränke der von weither angereisten Geistesgrößen, respektable Mannsbilder.
Eine einzige Frau schmeißt dort in der Nähe von Münster den Gasthof, bewirtet, macht und tut. Sie gilt als Vorbildfigur für die spätere „Mutter Courage“ von Bertolt Brecht – durfte sozusagen ganze Arbeit leisten: die gnädigen Herren bedienen, und das in jeder Hinsicht!
Entsprechend undankbar und frustriert benimmt sich die Wirtin – die Ausgebeutete – am Ende…
Nicht zu vergessen – auch die Gruppe 47 war leider damals zum Teil auch ziemlich wichtigtuerisch, und eindeutig von Testosteron dominiert. Glücklicherweise kam der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll dazu, für dessen gesellschaftskritische Sensibilität ich immer noch unendlich dankbar bin, und auch deshalb sehr froh, dass die deutsche Sprache meine Muttersprache ist!
„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“ Dieser magische Satz von Friedrich Nietzsche traf auch bei diesem Konzert unbedingt zu.
Dozenten und Studierende der Hochschule für Musik Trossingen musizierten unter der Leitung von Lorenz Duftschmid die in der Erzählung erwähnten barocken Meisterwerke von Heinrich Schütz, Heinrich Albert, Claudio Monteverdi und anderen. Auf alten zeitgenössischen Instrumenten – und ganz in der Nähe des magisch verzierten originalen „Marienaltars“ aus dem Jahr 1648 – war so schön melodiös „das Dennoch“ zu spüren, ein sinnenfrohes glockenklares Gegen-an-Singen angesichts von so viel Zerstörung in unser aller Hintergrund, ein analoges Vergnügen einer robusten Tradition des Barock, hin zum „Westfälischen Frieden“, zumindest zur Idee, weniger „leidversessen“ zu werden.
Ja, die Frage zum Ende des Konzerts im Choral von Heinrich Schütz mit den Worten von Martin Luther bleibt – „Verleih uns Frieden gnädiglich“ – an wen könnte sich dieses Flehen richten, wenn nicht dringend auch als Bitte an unsere eigene gesellschaftliche Verantwortung?
Hinweis: Das Treffen in Telgte war eine Veranstaltung des Kulturamts Radolfzell
Liebe Marianne Bäumler!
Ja, Ihre Diagnose über unsere gewaltvolle Zeit, sie alarmiert zu Recht. Ich danke für Ihre Beharrlichkeit.
Die engstirnige Fixierung auf Sieg oder Niederlage – sie nimmt zu. Der moralische Kompass kommt im business-Getriebe spürbar abhanden, und zwar bei denen „da oben“, wie zunehmend auch bei uns „da unten“, wo sich mangels politischen Wissens und sozialer Irritation um so eher auch eine rohe Feindseligkeit breit macht, weil hasserfüllte Hetzer nichts anderes betreiben, als massiv Angst zu schüren, um so fanatisch ihre selbstsüchtigen Interessen durchzuziehen.
Insofern war das ernste Klima an diesem Maien-Sonntag im schön renovierten Münster zu Radolfzell wie in einer Oase dennoch auch von einer wohltuenden christlichen Hoffnung erfüllt: das hoch professionelle musikalische Ensemble der Hochschule Trossingen bestand geradezu besonders in seiner harmonischen Mélange von Frauen und Männern auf einem demokratisch wachen Widerstand durch humanistische Kreativität!
Dr. Christian Ebert, Konstanz