Seit einiger Zeit erlebt die AfD in den Umfragen in ostdeutschen Ländern und inzwischen im Bund einen Höhenflug. Im Deutschlandtrend der ARD ist sie inzwischen zweitstärkte Partei.
Wie lässt sich dieser Trend erklären? In den politischen Debatten dominiert die Meinung, dass der Streit in der »Ampel«-Regierung u.a. über die Flüchtlingspolitik und das Heizgesetz zu Protestwählern geführt habe. Es ist eine vielfach verwendete politische Beruhigungsformel, die seit Gründung der AfD immer wieder aufgerufen wird. Diese Formel taugt vorne und hinten nicht zu einer Erklärung.
Um einer solchen Erklärung näher zu kommen, muss man eine Charakterisierung und Positionierung der AfD im rechten Spektrum vornehmen. Sie ist platziert zwischen einem Rechtspopulismus, der nur eine flache Ideologie aufweist mit dem Slogan »Volk gegen Elite« und auf bloße medial verbreitete Tabubrüche ausgerichtet ist auf der einen Seite, und einem Rechtsextremismus, der mit Gewalt hantiert und Angst und Schrecken in öffentlichen Räumen verbreiten will auf der anderen Seite.
Die AfD ist weder ein rechtspopulistische noch eine klassisch rechtsextremistische Partei mit Gewaltakzeptanz. Sie ist eine Partei neuen Typs als »Autoritärer Nationalradikalismus«.
Das Autoritäre findet sich im Ordnungsmodell dieser Gesellschaft, mit traditionellen Lebensweisen, strengen Führungen und Hierarchien und dichotomischen Weltbildern, die auf »wir gegen die«, »innen gegen Außen«, oder »Eigenes gegen Fremdes« ausgerichtet ist.
Das Nationalistische zielt auf die Überlegenheitsfantasien der deutschen Kultur, die politische Forderung »Deutschland zuerst«, eine Neuausrichtung der Geschichtsschreibung und Deutsch-Sein als Identitätsanker.
Das Radikale besteht in einem rabiaten Kommunikations- und Mobilisierungsstil, der durchzogen ist von »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«, die markierte Gruppen von Menschen als ungleichwertig definiert und entsprechend mit Abwertungen und Diskriminierungen versieht.
Inzwischen hat die AfD mit daran orientierter Politik eine stabile Wählerschaft erreicht bzw. Zustimmungen, die sich in zukünftigen Wahlen möglicherweise aus hohen Umfragewerten im Sommer 2023 ergeben.
Die AfD gewinnt bei den autoritär sozialisierten Personen vor allem in Ostdeutschland, die zudem vielfach Brüche in ihrer Lebensbiographie und oft gravierende Anerkennungsverluste erfahren haben.
Propagandistisch gelingt es der AfD mit ihrem rabiaten und emotionalisierten Mobilisierungsstil,
eine verachtende Haltung gegenüber Schwächeren anzubieten, mit einer Ideologie, die bestimmte Gruppen als unwertig begreift. Es gelingt ihr aus dem Nichtwählerpotential zu rekrutieren, d.h. Personen aus ihrer wutgetränkten Apathie zu holen. Das Wählerpotential etwa bei Gewerkschaftsmitgliedern ist ebenfalls erheblich. Besonderes Augenmerk ist inzwischen auf die Anschlussmöglichkeit der »rohen Bürgerlichkeit« mit ihrem Jargon der Verachtung hinter einer glatten Fassade zu richten. Der »Autoritäre Nationalradikalismus« kann deshalb auch verfangen, weil diese Klientel sich gleichzeitig vom klassischen Rechtsextremismus mit Gewaltorientierung distanziert.
Fragt man nach den Treibern dieser Erfolgstendenz, dann muss auf den Zusammenhang von Krisen, Kontrollverlusten und Konflikten verwiesen werden.
Seit 2000 haben sich Krisen unterschiedlicher Art aufgereiht. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass erstens die gewohnten politischen und sozialen Bearbeitungsinstrumente nicht mehr funktionieren und zweitens die Zustände vor den Krisen nicht wiederherstellbar sind. Daraus können zahlreiche Kontrollverluste für Teile der Bevölkerung hinsichtlich ihrer Biografien und sozialer Lagen, des Status etc. entstehen. Hier setzt der »Autoritäre Nationalradikalismus« an mit einem martialischen Versprechen der Wiederherstellung von Kontrolle: »Wir holen uns unser Land zurück« (Gauland). Dazu wird dann mit einem Konflikttypus hantiert, der nicht auf Verständigung als Verhandlungslösungen zielt, sondern auf »Entweder – Oder«, denn es wird immer das große Ganze hervorgeholt: die Identität des deutschen Volkes. Es ist dann nur ein kleiner Schritt zur Unterteilung von »regierenden Volksverrätern« und dem »deutschvergessenen« Rest der Bevölkerung im Gegensatz zum »wahren deutschen Volk«.
Die Frage nach den Verhinderungen weiterer „Erfolge“ ist schwer zu beantworten, weil sich inzwischen Normalisierungsprozesse vollzogen haben. Meine Position war 2018: »Wenn sich der Autoritäre Nationalradikalismus nicht selbst (von innen) zerlegt und zugleich keine gravierenden wirtschaftspolitischen Reformen stattfinden, dann liegt die Annahme nahe, dass sich der Höhenflug autoritärer Politikangebote fortsetzen wird.«
Diese Annahme ist eingetreten. Gegen dieses autoritäre Politikangebot kritisch aufklärend vorzugehen bleibt, wenn wir die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie schützen wollen, ohne Alternative.
Dabei sind Parteiverbote keine wirksame Maßnahme, weil sich Einstellungen und Mentalitäten nicht verbieten lassen. Solche staatliche Repression führt immer auch zu entsprechenden Innovationen im rechten Spektrum: man erfindet sich neu.
Dringend müssen menschenfreundliche Repräsentationslücken in demokratischen Strukturen öffentlichkeitswirksam geschlossen werden. Denn wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts – und dann sucht man eben andernorts nach persönlicher Anerkennung, und fixiert sich auf totalitäre Feindbilder, Sündenböcke, die dann „an allem schuld“ sein sollen.
Insofern steht mit einem „ Jargon der Verachtung“ die AfD als Verteiler für aggressive ideologische „Angebotsdrogen“ zur fatalen Verfügung.
Insbesondere muss unsere Zivilgesellschaft vor allem konfliktfähiger werden. In den nahen persönlich wichtigen Bezugsgruppen wie Verwandtschaften, Freundesgruppen, Kirchen, Sportvereinen, am Arbeitsplatz etc. muss sofort widersprochen werden, wenn Positionen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit als »Legitimationsmaterial« des politischen Agierens der AfD artikuliert werden. Wenn wir das nicht riskieren und wegen unserer klaren demokratischen Kritikfähigkeit – also unser „Gesicht zeigen“ – und die sozialen Folgen eines möglichen Ausschlusses aus unseren Bezugsgruppen nicht tragen wollen, sind wir an der weiteren Normalisierung des Autoritären Nationalradikalismus beteiligt, also auch mitverantwortlich für menschenfeindliche Ausgrenzung.
Zum Autor: Wilhelm Heitmeyer, Jahrgang 1945, Soziologe, Erziehungswissenschaftler und Professor für Sozialisation am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, dessen Gründungsdirektor er von 1996 bis 2013 war. Seitdem ist er dort im Rahmen einer Forschungsprofessur tätig. Desintegrationserfahrung als Auslöser für Gewalt und Rechtsextremismus ist ein zentraler Schwerpunkt seiner bewusst alltagsbezogenen Sozialwissenschaft in neoliberalen Machtverhältnissen.
Drei aktuelle Bücher aus einer ansehnlichen Reihe politisch relevanter und gut lesbarer Forschungs-Ergebnisse, die alle an dem humanistisch so eindeutigen Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ sich orientieren:
Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I. Suhrkamp, Berlin 2018