Die deutsche Wirtschaft dümpelt seit geraumer Zeit vor sich hin. Einer der Hauptgründe: Überall fehlen Arbeitskräfte. Die neoliberale FDP und auch Teile von CDU und CSU glauben nun, die wahre Ursache dafür entdeckt zu haben: Die Deutschen sind einfach zu faul. Diese Analyse ist: elitär, arrogant und zynisch. Und zudem: ökonomischer Unsinn.
Natürlich ist es richtig, dass der Mangel an Arbeitskräften immer stärker zur wirtschaftlichen Bremse wird. Das ist jedoch nicht ein plötzlich auftauchendes Phänomen- und schon gar nicht darauf zurückzuführen, dass die Bürger plötzlich die Lust an der Arbeit verloren hätten. Schon seit vielen Jahren haben Ökonomen auf das drohende Desaster hingewiesen: Die Zahl der Deutschen im erwerbsfähigen Alter sinkt dramatisch – und sie wird weiter sinken. Denn die geburtenstarken Jahrgänge der späten 50er und frühen 60er Jahre gehen jetzt oder bald in Rente. Diese „Babyboomer“ sind auf dem Arbeitsmarkt schwer zu ersetzen. Überall fehlen Menschen – auf dem Bau, in der Pflege, in der Kindererziehung, selbst in der oft geschmähten Bürokratie. All das war lange vorherzusehen. Doch statt seit Jahren klug gegenzusteuern, hat die Politik tatenlos zugesehen – um nun umso lauter diesen Umstand zu beklagen.
Über die Fehler der Vergangenheit zu reden, ist eigentlich müßig. Dennoch seien hier einige Punkte genannt, aus denen man Lehren für die Zukunft ziehen kann und muss:
- Seit Jahrzehnten hat man es versäumt, Deutschland zu einem attraktiven Einwanderungsland zu machen. Stattdessen haben CDU und CSU – schon lange vor dem Aufkommen der rechtsextremen AfD – gegen den Begriff „Einwanderungsland“ polemisiert. Nach dem Motto „die nehmen uns die Arbeitsplätze weg“ wurde gegen Zuwanderer geätzt – und deren Arbeitsaufnahme behindert. Und noch heute geht es den Rechten vor allem darum, den Zuzug von „Ausländern“ zu verhindern. Menschlich ist das schäbig, ökonomisch verheerend.
- Noch immer arbeiten viele Frauen gar nicht oder nur in Teilzeit – und das, obwohl sie eigentlich gerne mehr arbeiten würden. Eine der Ursachen ist sicherlich das völlig antiquierte Ehegattensplitting, das einem Gesellschafts- und Frauenbild der 50er Jahre entspringt, das die klassische Hausfrauen-Ehe mit Milliarden subventioniert und viele Frauen so von der Arbeit fernhält – weil „es sich ja nicht lohnt“. Ein anderer Grund für die geringe Erwerbsquote von Frauen sind die nach wie vor mangelnden Betreuungsmöglichkeiten für Kinder. Mit dem Ausbau der Kitas wurde viel zu spät und zu zögerlich begonnen. Und man darf die Frage stellen: Warum ist diese Betreuung nicht längst kostenlos? Übrigens: Wer beklagt, dass die Erwerbsquote von geflüchteten Frauen aus der Ukraine in Deutschland so viel niedriger ist als in anderen EU-Ländern, der wird in der fehlenden Kinderbetreuung sicherlich eine wichtige Erklärung finden.
- In Deutschland wurden und werden Kinder aus armen und eher „bildungsfernen“ Schichten seit Jahrzehnten nicht genügend gefördert. So verlassen nach wie vor jedes Jahr Zehntausende junge Menschen die Schulen ohne Abschluss. Wer sich die Zustände an den Schulen in den sozial schwachen Vierteln unserer Großstädte anschaut, der verliert jede Hoffnung, dass sich dieser Zustand in absehbarer Zeit ändern könnte. Auch hier fehlen Lehrer und Sozialarbeiter; die Kinder dort haben keinerlei Lobby – im Gegensatz zu denen in den wohlhabenden Stadtteilen. So jedenfalls wird Deutschland seinen Mangel an gut ausgebildeten Facharbeitern nicht bewältigen können. Und weil auch die Kinder von Zuwanderern und Flüchtlingen vor allem in diesen Vierteln und an diesen Schulen landen, verschärfen sich die Probleme immer weiter. Die Armee der Abgehängten wächst.
Die Nennung nur dieser drei Defizit-Felder zeigt, dass sich das Problem der fehlenden Arbeitskräfte in Deutschland nicht von heute auf morgen lösen lässt. Umso mehr bedarf es auf den oben genannten Feldern eines raschen und radikalen Kurswechsels.
- So muss sich Deutschland endlich praktisch und emotional als Zuwanderungsgesellschaft präsentieren. Die Bundesrepublik muss im Ausland offensiv um Arbeitskräfte werben, sie muss ihnen massiv beim Start in ihrer neuen Heimat helfen, die Gesellschaft muss ihnen das Gefühl vermitteln, hier willkommen zu sein. Wir müssen Wohnungen bauen, gute Kitas und Schulen anbieten, eine neue Heimat und eine Zukunft bieten. Wir müssen Zuwanderung endlich als Chance begreifen und nicht als Bedrohung. Das ist ausdrücklich nicht allein eine Frage der Moral und des Anstandes, es ist auch eine Frage der ökonomischen Notwendigkeit.
- Das Ehegattensplitting gehört endlich abgeschafft. Das so eingesparte Geld sollte in den Ausbau von Kitas gesteckt werden, um mehr Frauen eine Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Dass in diesem Punkt hier nur von Frauen die Rede ist, ist nicht etwa chauvinistisch – es ist schlicht der gesellschaftlichen Realität geschuldet. Denn nach wie vor überlassen viel zu viele Männer den Frauen den Großteil der sogenannten Care-Arbeit, die Sorge um Kinder, Eltern, Haushalt. Auch das gilt es zu ändern.
- Was noch hilft? Man kann es nur gebetsmühlenartig wiederholen: Bildung, Bildung, Bildung. Die Ausgaben in Deutschland pro Kind sind viel zu niedrig: So investieren die skandinavischen Länder deutlich mehr – in Norwegen ist es fast das Doppelte, in Schweden sind es 50 Prozent mehr. Ohne massive Investitionen in den Bildungssektor wird der Fachkräftemangel in Deutschland nicht zu bewältigen sein.
So also könnte er aussehen, der wirksame Kampf gegen den Mangel an Arbeitskräften. Doch stattdessen haben die Lindner-FDP und die Merz-CDU die Faulheit der Deutschen als Ursache ausgeguckt. Und diese Faulheit gilt es zu bekämpfen – am besten mit Methoden aus der Mottenkiste des Neoliberalismus: Steuererleichterungen für die sowieso schon Reichen und massiven Druck auf die sozial Schwachen. Nach der verqueren Logik, dass die Reichen mehr arbeiten, wenn sie noch mehr kriegen und die Armen, wenn man ihnen noch weniger gibt. Was für ein Menschenbild! Dass die Neoliberalen – als Sprachrohr der Unternehmen – zudem nach längeren Wochenarbeitszeiten und höherem Renteneintrittsalters-Alter rufen, versteht sich von selbst.
Massiv arbeiten sich die Union und vor allem die FDP deshalb wieder an ihren traditionellen Feindbildern ab. Den Hilfe-Beziehern und den Gewerkschaften. Wie gerade noch auf dem FDP-Parteitag stellen die Marktradikalen die Empfänger von Bürgergeld unter den Generalverdacht, Schmarotzer zu sein, indem sie die verschwindend kleine Zahl von Arbeitsverweigerern zum Anlass nehmen, das ganze Sozialsystem zu diskreditieren. Und sie machen Front gegen die Gewerkschaften, weil diese es wagen, Arbeitszeit-Verkürzungen zu fordern („Ausgerechnet in diesen Zeiten!“).
Die Merz-CDU und vor allem die FDP haben mal wieder den Klassenkampf von oben ausgerufen. Dass sie mit ihrer Polemik gegen die Bürgergeld-Empfänger die Gesellschaft spalten, nehmen sie dabei zumindest billigend in Kauf. Dass sie aber mit ihrer neuen „Faulheits“-Kampagne die Mehrheit der hart arbeitenden Bürger vor den Kopf stoßen, scheint ihnen nicht bewusst zu sein. Denn wen meinen Merz, Lindner und Co. denn wohl mit ihrer Kampagne wider die Faulheit? Richtig: uns Bürger, uns alle.