Man kennt das Verhalten vieler einstiger führender Nazis, die ihre Verbrechen versuchten kleinzureden und sich auf den Befehlsnotstand beriefen. So war das bei Adolf Eichmann, bei Josef Mengele, Franz Stangl, dem Kommandanten der Vernichtungslager Treblinka und Sobibor, so war das bei Otto Wächter, dem SS-Gruppenführer, der in Polen und in Galizien-heute Ukraine- für die Ermordung Hunderttausender Juden verantwortlich war. Und dessen Sohn Horst noch Jahrzehnte später seinen Vater von jeglicher Schuld freisprechen wollte, ihn als anständigen Menschen sah, weil er ja im Grunde nur auf Befehl gehandelt und niemanden persönlich erschossen habe. Doch am Ende wurde der Sohn von der Tochter Magdalena widerlegt mit dem Satz: „Mein Großvater war ein Massenmörder.“ Der britische Jurist und Schriftsteller Philippe Sands beschreibt das Leben dieses SS-Mannes und seiner Frau Charlotte, die bis zum Tod eine überzeugte Nazi ist. „Of course, I was a very happy nazi“, beantwortete sie die Frage des amerikanischen Soldaten, der sie verhörte. Sands schildert die vierjährige Flucht Wächters nach dem Krieg, bis er schließlich im Vatikan landete und dort von einem berühmt-berüchtigten Bischof namens Alois Hudal, einen Nazi-Anhänger, betreut wurde. Wächter, der gesucht wurde und mit einer Verurteilung, ja mit einer Hinrichtung rechnen musste, wollte wie die genannten braunen Freunde über die „Rattenlinie“ nach Südamerika, Argentinien, Bolivien oder Chile. Aber er starb mit 49 Jahren, krank oder vergiftet, Sands kann die Frage nicht beantworten. Ein Sachbuch, erzählt fast wie ein Krimi.
„Die Mörder sind unter uns“. So der Titel eines Defa-Films nach dem Krieg. Sie lebten hier quasi nebenan, manchmal unter falschem, manchmal unter ihrem richtigen Namen. Anderen war die Flucht nach Argentinien gelungen, wo Staatschef Person sie gern als Gäste sah. Hans-Ulrich Rudel, gefeierter Nazi-Fliegerheld, dekoriert wie kaum ein anderer, rühmte die Hilfe der katholischen Kirche, „wertvolles Menschentum unseres Volkes gerettet zu haben.“ Er meinte gewiss auch seine eigene Rettung nach Südamerika. Auch einer wie Klaus Barbie zählte dazu, der einstige Gestapo-Chef von Frankreich und als „Schlächter von Lyon“ in die unrühmliche Geschichte der deutschen Besatzungszeit eingegangen. Andere hatten es gar nicht nötig, sich einen anderen Namen zu geben, wie der Fall des früheren Standartenführers und Lieblingsschülers des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, Dr.Martin Sandberger, deutlich machte. Er lebte unter seinem Namen in einem Stuttgarter Seniorenstift, ehe er Ende März 2010 starb. Reporter des „Spiegel“ hatten ihn entdeckt. Auch er ein Kriegsverbrecher aus der Mordmaschinerie der SS, des Massenmords an Juden, Zigeunern und Kommunisten schuldig, schrieb das Hamburger Nachrichten-Magazin. Sandberger gehörte zur Elite, war Einserjurist, der im Auftrag des Reichssicherheitshauptamtes den systematischen Massenmord im Osten organisierte. Mit einem „Federstrich“ ließen Leute wie Sandberger ein „für die Volksgemeinschaft absolut wertloses Subjekt“ hinrichten. So las ich im „Spiegel“.
Cognac bei der Wannseekonferenz
Oder nehmen wir den Fall des Dr. Gerhard Klopfer, der im Kreis von 15 führenden Nazis am 20. 1. 1942 in einer Villa am Berliner Wannsee saß, und bei einem Gläschen Cognac auf Einladung eines der schlimmsten Nazi-Führers, Reinhard Heydrich, besprach, wie die Vernichtung von 11 Millionen Juden in Europa zu organisieren sei. „Fröhliche Zustimmung“ habe er damals gehabt, schilderte Eichmann kurz vor seiner Hinrichtung in Israel die Stimmung in dem Kreis der Wannseekonferenz. Klopfer saß dabei, kein Wort des Widerspruchs gab es, als der Genozid beschlossen und verkündet wurde. Klopfer wurde als „minder belastet eingestuft“, erhielt eine kleine Geldstrafe und drei Jahre Gefängnis auf Bewährung. Später arbeitete derselbe Dr. Klopfer in einem Ort in Baden-Württemberg als Anwalt, war angesehen, weil er gute Manieren an den Tag legte. So habe er stets freundlich gegrüßt und den Hut gezogen. Seine historisch unrühmliche Rolle wurde erst nach seinem Tod öffentlich, weil die Familie ihn in der Todesanzeige zu sehr gewürdigt hatte mit den Worten: er habe stets „zum Wohle aller“ gearbeitet. Da empörte sich Heinz Galinski vom Zentralrat der Juden in Deutschland.
Die Mörder sind oder waren -muss man heute sagen- unter uns. Furchtbare Juristen, Leute der bürgerlichen Elite. Wie eben einer wie Otto Wächter, dessen Karriere Philippe Sands nachzeichnet, seine Nähe zu den Nazis schildert, die glühende Begeisterung beim Anschluss des Landes durch Nazi-Deutschland(Heim ins Reich). Auch der Name von Hans Frank begegnet dem Leser dieses Buches, weil Sohn Niklas Frank zu Wort kommt und zwar im Gespräch mit Horst Wächter. Niklas Frank hat mit dem Vater abgeschlossen, er hat die Arbeit des einstigen Nazi-Chefs von Polen, Generalgouverneur genannt, durchschaut. „Schlächter von Polen“ so hieß er dort bei den Opfern. „Er war ohne Gnade“, urteilte sein Sohn Niklas, der Reporter beim „Stern“ war, später. Dass der Vater in Nürnberg verurteilt und hingerichtet wurde, fand der Sohn richtig. Zum Vater gehörte eine Mutter, die den Juden die Pelze abnahm und im Land die Preise, die sie zahlen sollte, bestimmte. Selbstherrlich, überheblich.
Sie waren Nazis und bereuten nichts
Dagegen Horst Wächter, der nur einräumte, dass sein Vater ein Nazi war, wie Millionen andere, aber kein Mörder. Seine geistigen Verrenkungen beschreibt der Autor, um dann immer wieder dessen wirkliche Rolle in den besetzten Gebieten klarzumachen. Dass Wächter es war, der die Juden aus ihren Häusern und Wohnungen vertreiben ließ, der ein Ghetto einrichten ließ, was seine feine Frau Charlotte als „schmutzig“ empfand. Sie mochte das Ghetto nicht, fand aber Gefallen an der Mauer darum, weil diese orientalisch gestaltet war. Es könnte einem übel werden, wer die Rolle von Otto und Charlotte nachliest, wie sie die Villen besetzten, die man den jüdischen Besitzern abgenommen hatte- man nannte das Arisierung. Wie man sich weltvolle Bilder, Möbel und Teppiche besorgte, Empfänge gab, in Konzerte ging. Man war Teil der Gesellschaft. Dass man Dreck an den Fingern hatte, der blutig war, das sah man nicht. Begeisterte Nazis waren sie von Anfang an. Und dass sie irgendwann später bereut hätten, kam ihnen wohl nicht in den Sinn. Der Buch-Autor fahndete vergeblich nach entsprechenden Aussagen oder Briefen.
Nehmen wir das Beispiel Lemberg, wo Otto am 28. Januar 1942 eintraf, schreibt Philippe Sands. Im Juli 1941 hatte die Wehrmacht das Gebiet, einst Teil von Österreich-Ungarn, besetzt. Sie war mit 420000 Einwohnern die drittgrößte Stadt im Generalgouvernement. Im gesamten Distrikt Galizien lebten mehr als vier Millionen Menschen, Polen,Ukrainer und Juden. Wochen nach dem Amtsantritts von Otto Wächter habe dieser im März 1942 eine „Anordnung über den Arbeitseinsatz von Juden“ unterzeichnet. Ein Jahr später war fast die gesamte jüdische Bevölkerung liquidiert worden. Schreibt Philippe Sands. Seine Belege finden sich mit Hinweisen in der ausführlichen Quellensammlung am Ende des Buches. Otto Wächter nur ein Rädchen in der Nazi-Mord-Maschinerie? Man mag es kaum glauben. Wächter war befreundet mit Arthur Seys-Inquart, Nazi und Bundeskanzler in Wien bis zum Anschluss des Landes an Nazi-Deutschland, er machte schnell Karriere in der NSDAP, er lernte Himmler kennen, der ihn förderte. Wächter war später im Rang eines Generals, stand nur noch unter dem Reichsführer.
Der Untertitel des Buches „Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit“ beschreiben Wächter im Privaten, er geht gern fremd, bleibt aber bei seiner Frau, die sechs Kinder zur Welt bringt und drei Abtreibungen vornehmen lässt. Die Lügen handeln vom großen Thema des Buches, seiner Rolle in Krakau wie in Lemberg, bei Massenerschießungen wie bei Deportationen.
Kinder in den Graben und dort erschossen
Philippe Sands Schilderungen sind brutal, weil die Zitate die Brutalität der Nazis spiegeln. Ein Mädchen, namens Niusia wird zitiert, wie sie die Galgen und Kindstötungen, Säuglinge und Kleinkinder sah, die auf dem Territorium des Gouverneurs Wächter ermordet wurden. „Die Leute trafen auf Lastwagen und in Bussen ein, versuchten die Kinder zu beruhigen, und binnen weniger Minuten wurden den Kindern die Haare geschoren, sie wurden in einen großen Graben gestellt und getötet.“ Dies, so Niusia, habe zwei- bis dreimal am Tag, manchmal fünfmal stattgefunden.
Nach dem Krieg wurde Otto Wächter gesucht, er tauchte unter falschem Namen unter, er floh durch die Berge, weil die Alliierten im Tal waren und den Weg in die Höhe scheuten. Er brach in Hütten ein, wo er schlafen konnte, sich hin und wieder mit seiner Frau Charlotte traf, die ihn mit Geld, Kleidung und Essen versorgte. Am Ende wurde er im Vatikan aufgenommen, die entscheidende Rolle dort spielte der schon erwähnte Bischof Alois Hudal, der auch Mengele und anderen zur Flucht verholfen hatte. Und dort starb Otto Wächter. Warum der Autor sich über viele Seiten mit der Art des Todes beschäftigt, Geldsucht oder Vergiftung, wenn ja durch wen, die Juden, die Amis die Sowjets, bleibt ein Rätsel. Diese allzu langen Passagen lähmen das Buch, was schade ist. Denn das Buch ist lesenswert. Wenn man es einmal in die Hand genommen hat, legt man es ungern wieder weg.