Als Vorsitzender der Jungen Union (JU) Anderten-Misburg war ich natürlich für Rainer Barzel. Im November 1971 war ich – 16 Jahre jung – im Hinterzimmer der Gilde-Quelle bei der Gründungsversammlung unseres aus einem Dutzend JUlern bestehenden Ortsverbandes gewählt worden. In den Folgewochen hatten wir uns kommunalpolitisch engagiert, z.B. durch den Bau zweier Fußballtore für den “Schützenplatz” oder einer Unterschriftenaktion für einen direkten Fußgängerweg in den Tiergarten (um den Umweg über Kirchrode zu sparen). Wir stellten etwas auf die Beine- und erhielten regen Mitgliederzulauf, obwohl man damals eigentlich als Jugendlicher “links” zu sein hatte. Die örtlichen Jusos beäugten uns kritisch, wir galten bei den meisten Gleichaltrigen schon als Exoten, heute würde man sagen, als “uncool”. Als ich das erste Mal ein Mädchen zu mir nach Hause einlud, war sie ganz überrascht, dass ich Jethro Tull und Pink Floyd hörte – sie hatte beim JU-Vorsitzenden wohl eher (aber völlig zu Unrecht) mit Roy Black oder Peter Alexander gerechnet…
Auch in meiner Klasse 11s an der Schillerschule in Hannover waren wir in der Minderheit: vier von 20. Wir vier hatten mit anderen Schülern anderer Klassen eine Polit-AG als Gegenstück zur marxistischen Schülergruppe gebildet. Wir diskutierten über Aufklärung und Gewaltenteilung, aber “in” war Kapitalismuskritik, der dialektische Materialismus und die Diktatur des Proletariats. Die Ausläufer der Studentenrevolte hatte die Schulen ergriffen. Rudi Dutschke bedeutete damals für große Teile der jungen Generation in gewisser Weise das, was heute Greta Thunberg darstellt.
Unsere politische und gesellschaftliche Aussenseiterrolle wurde in den Debatten um das Misstrauensvotum der CDU/CSU gegen den amtierenden SPD-Bundeskanzler noch fühlbarer. Für die meisten Bundesbürger war der populäre Willy Brandt einfach sympathischer als der aalglatt erscheinende Rainer Barzel. Hinzu kam, dass Brandts Ostpolitik zwar polarisierte, aber doch von einer Mehrheit der Deutschen unterstützt wurde. Auch Brandts “Mehr Demokratie wagen”erschien vielen, gerade jungen Menschen, als ein Aufbruch aus der Nachkriegszeit, die vielen zu sehr vom “Muff von tausend Jahren” geprägt war.
Obwohl das konstruktive Misstrauensvotum – also die Ersetzung des amtierenden Kanzlers durch einen neuen Regierungschef durch eine Abstimmung im Bundestag – ein völlig legales und legitimes Verfahren nach dem Grundgesetz darstellte, erschien es vielen Bundesbürgern damals als Angriff auf die gewählte Regierung, als Attacke auf die junge Demokratie. Die SPD und die Gewerkschaften mobilisierten ihre Anhänger, es kam zu Demonstrationen und sogar Arbeitsniederlegungen aus Solidarität zu Willy Brandt und der amtierenden SPD/FDP-Regierung. Die Republik politisierte sich in wenigen Tagen, selbst viele “Bürgerliche”, bei denen ich nie Sympathien mit der Sozialdemokratie vermutet hätte, bekannten sich plötzlich offen zu Brandt. Das wurde eine Massenbewegung – die aber bei uns JUlern nicht zu Zweifeln führte, sondern eher zu einem festeren Zusammenhalt. Da war die Masse, sich selbst als “mündige Bürger” besonders kritisch empfindend, die in eine Richtung marschierte – hier stand – so schien es uns – die wackere und in dieser Situation besonders zusammenhaltende mutige Minderheit. Keineswegs lehnten wir generell die Ostpolitik Brandts – Hauptanlass für das Misstrauensvotum – ab, das taten nur einige von uns (allerdings sehr vehement). Unser Hauptmotiv war nach meiner Erinnerung mehr die Überzeugung, dass eine drohende Linkdsdrift der Bundesrepublik verhindert werden musste: Freiheit statt Sozialismus, das war die (einige Monate später den Bundestagswahlkampf der Union prägende) Zuspitzung, die den Kern unserer Differenz mit Brandt beschrieb.
Am Tag des Misstrauensvotums verfolgte die junge Republik die mehrstündige erregte Debatte im Bundestag im Fernsehen, damals noch auf Schwarz-Weiß. Die Polarisierung, ja die Unversöhnlichkeit der Positionen im Parlament übertrug sich auf die Betriebe, die Ämter, bis in die Schulklassen und Familien. Die so Konsens verliebten Deutschen gerieten plötzlich aneinander. Die Barzel-Anhänger wurden gestellt und ausgegrenzt, zwar nur in seltenen Fällen wirklich mit physischer Gewalt, aber doch auf eine Art und Weise, die man sein Leben lang nicht vergißt. Wenigstens hofften wir, die Abstimmung zu gewinnen, denn die Prognosen sahen Barzel als Favoriten. Umso mehr waren wir erschüttert, als der Bundestagspräsident das Ergebnis verkündete. Zwei Stimmen fehlten. Ich sehe bis heute die frenetisch jubelnden, auf Brandt zustürzenden Abgeordneten. Ihre unbändige Freude stellt bis heute den besten Beweis dar, dass ein anderes Ergebnis erwartet worden war. Und ich sehe das aschfahle Gesicht des kopfschüttelnden Rainer Barzel, der fest damit gerechnet hatte, in wenigen Minuten auf dem Kanzlersessel Platz zu nehmen.
Wir wissen heute, dass vor dem Misstrauensvotum Gelder aus der DDR an bestechliche Abgeordnete der Union flossen und dass dabei der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Karl Wienand, eine maßgebliche Rolle spielte. Und wir wissen, dass damals schon Spione aus dem Osten im Kanzleramt platziert waren. Der Kalte Krieg wurde mit großer Härte geführt und in Moskau und Ost-Berlin glaubte man offenbar, mit Willy Brandt einen genehmeren Partner in der Bundesrepublik zu haben als mit Rainer Barzel oder gar Franz-Josef Strauß.
Für mich waren die Debatten um Ostpolitik und Misstrauensvotum sehr prägend, ich verfolgte alles im TV und kann bis heute sowohl Barzel und Brandt imitieren. Beide, Brandt und Barzel hörten davon und amüsierten sich köstlich als ich meine Künste vorführte. Barzel sagte: “Bisher dachte ich, einmalig zu sein…” 🙂 Ich habe beide kennen- und auch schätzen gelernt. Brandts Verdienst sind bekannt. Aber auch Barzel war ein sehr fähiger Politiker, übrigens auch ein begnadeter Redner. Er hat mit der von ihm gegen die Mehrheit in CDU und CSU durchgesetzten Enthaltung gegenüber den Ostverträgen und dem legendären “Brief zur Deutschen Einheit” die Verabschiedung der Ostverträge entscheidend mit ermöglicht, aber es ist ihm bis heute wenig gedankt worden. Barzel ist nie über die Niederlage vom 27. April 1972 hinweg gekommen, er sagte mir einmal, dass er sich fühle wie ein 400m Läufer, dem auf der Zielgeraden in Führung liegend ins Bein geschossen wird… Aus heutiger Sicht würde ich dennoch sagen, dass es für unser Land gut war, dass Brandt obsiegte. Eine Niederlage wäre in vielen Teilen der Bevölkerung als eine Art Staatsstreich empfunden worden und hätte das Land dauerhaft gespalten. Die sozialliberale Koalition, die im November 1972 deutlich bestätigt wurde, hat wichtige Reformen auf den Weg gebracht, große Teile der Studentenbewegung in den freiheitlichen Rechtsstaat integriert und die verstaubten Strukturen aufgemischt. Und die Ostpolitik Brandts stellte die Basis zu einem immerhin fünf Jahrzehnte weiter bestehenden Frieden in Europas dar. Auch wenn Putins brutaler Angriffskrieg die damals begonnene Politik des Interessenausgleichs, des Dialogs, der Entspannung, Abrüstung und Energiepartnerschaft von einem Tag auf den anderen beendete: sie hat uns fünfzig Jahre den Frieden gesichert. Um mit Brandt zu sprechen: Der Friede ist nicht alles, aber ohne den Frieden ist alles nichts.