„Wir, die Deutschen, haben uns nach Kriegsende 1945 um das Große Erschrecken gedrückt“, schreibt Niklas Frank, der Sohn des berüchtigten Hans Frank, Hitlers Generalgouverneur im besetzten Polen, in seinem Buch „Auf in die Diktatur“. Mit allen Zellen „unseres Hirns, mit allen Fasern unseres Herzens.“ Gedrückt vor der Erinnerung, damit wir leben konnten als Opfer, wobei wir doch die Täter waren, diejenigen, die den 2. Weltkrieg vom Zaun gebrochen, Polen überfallen, Frankreich besetzt und dann am 22. Juni 1941 das Unternehmen „Barbarossa“ gestartet hatten, den Überfall auf die Sowjetunion. Wir waren die Täter gegen Millionen Juden, Polen, Franzosen und Russen, die wir vernichten wollten, weil Hitler-Deutschland diese Russen als Menschen nicht anerkannte. „Wir“, schreibt Niklas Frank anklagend, „wir belegten unser Gewissen mit einem Erinnerungsverbot und töteten unser Mitgefühl.“
Aus dem Volk der Täter, das den Holocaust und Massenmord zu verantworten hatte, das Warschau in Trümmern gelegt und Rotterdam bombardiert und auch auf London Bomben abgeworfen hatte, wir die Deutschen erklärten uns zu Opfern, weil wir vertrieben wurden aus Schlesien, Pommern und Ost- und Westpreußen, wir beklagten, dass die Alliierten unsere Städte vielfach dem Boden gleichgemacht hatten aus Rache, wir beklagten Verbrechen sowjetischer Soldaten gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung. Dabei hatten wir mit dem Krieg begonnen, hatten ihn in die Länder unserer Nachbarn getragen, hatten gemordet und die Menschen verhungern lassen. Ein Zivilisationsbruch ohnegleichen, begangen von der Wehrmacht und der SS eines Landes, das sich auf Goethe und Schiller und Bach und Beethoven beruft und aus dem in zwölf Jahren Nazi-Herrschaft das Land der Richter und Henker geworden war.
Ein Vernichtungskrieg
Gedenken! Ja, aber richtig. Der Millionen Menschen aus der damaligen Sowjetunion. 27 Millionen von ihnen mindestens kostete der Vernichtungskrieg das Leben, unter ihnen 14 Millionen Zivilisten. Ihrer zu gedenken, das haben wir fast vergessen, mindestens vernachlässigt, weil wir unsere eigenen Opfer beklagten, unsere Niederlage im Krieg. Und also feierten wir 1954 den Weltmeistertitel im Fußball gegen die Ungarn: Wir waren wieder Wer. Únd wir taten so, als wären wir das unterdrückte Volk gewesen. Dabei sind die Deutschen vielfach als die Herrenmenschen aufgetreten, die über Leben und Tod anderer entschieden, wir wollten und sollten uns neuen Lebensraum im Osten holen und dabei bewusst den Tod von Millionen Ukrainern, Weißrussen und Russen einkalkulieren, weil die Nahrung nicht für alle ausgereicht hätte. Wir beklagen die Vertreibung unserer Väter und Vorväter, Vertreibung ist immer Unrecht, keine Frage, ein Verbrechen, aber wir vergessen dabei, dass wir damit angefangen haben. Bundespräsident Richard von Weizsäcker erinnerte in seiner vielbeachteten Rede vor dem Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 zu Recht daran, dass wir 1945 von den Alliierten befreit wurden vom Joch der braunen Diktatur Hitlers,Himmlers und Goebbels, der Millionen Deutsche über Jahre zugejubelt hatten, deren Blitzsiege gegen Frankreich und Polen man gefeiert und die Opfer der Juden und der Gegner der Nazis einfach mal übersehen hatte.
Erinnerungskultur, dazu gehört in meiner Vorstellungskraft das Ermächtigungsgesetz, das Hitler alle Vollmachten gab und dem sich geschlossen die SPD widersetzte. Unvergessen die Rede von SPD-Chef Otto Wels, mit der er das Nein seiner Genossen begründete: „Unser Leben können sie uns nehmen, die Ehre nicht.“Auf das Nein folgten Verhaftungen, einige Sozialdemokraten waren geflohen, andere saßen in Gefängnissen, waren krankenhausreif verprügelt worden. An dieses Leid hat nach dem Krieg der SPD-Abgeordnete Josef Felder erinnert. Er wie auch Kurt Schumacher mussten aber erleben, dass viele Deutsche gar nicht an die schrecklichen braunen Jahre
erinnert werden wollten. Vielleicht, weil sie selber keine weiße Weste hatten. „Eine Partei der ehemaligen NSDAP-Mitglieder hätte bis in die sechziger Jahre die größte Fraktion im Bundestag stellen können“, heißt es in einem Buch des SZ-Journalisten Willi Winkler „Das braune Netz.“ Und die Adenauer-CDU machte erfolgreich Wahlkampf gegen die SPD mit deren angeblicher Nähe zu Moskau. Der Russe war der erklärte Feind der frühen Bundesrepublik, er stand in Ostberlin und in der DDR. Die BRD war der Verbündete des Westens im Kampf gegen die Kommunisten. Vergessen hatte man, dass dieser Russe die größten Opfer gebracht hatte, um die Nazi-Diktatur zu besiegen. Dass dieser Russe das KZ Auschwitz im Januar 1945 befreit hatte, der Hölle auf Erden für Millionen Juden und Nazi-Gegner.
Millionen sowjetischer Kriegsgefangener
Erinnerungskultur mahnte gerade Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an. Sich erinnern an den Vernichtungskrieg der Deutschen in der Sowjetunion.“Die Erinnerung an dieses Inferno, an absolute Feindschaft und die Entmenschlichung des Anderen bleibt uns Deutschen eine Verpflichtung und der Welt eine Mahnung“, sagte der Bundespräsident in einer großen Rede. Dass er die richtigen Worte fand zu einem solch bleischweren Thema, macht zugleich seine gewachsene Bedeutung als Staatsoberhaupt deutlich. Den Landsleuten ins Gewissen zu reden, diese Erinnerungskultur zu pflegen, auch wenn es schmerzt, der Debatte darüber nicht auszuweichen und sich nicht in geschichtliche Ausreden, die Lügen gleichkommen, zu verstricken. Nicht jeder deutsche Soldat war deshalb ein Verbrecher, aber die saubere Wehrmacht sollten wir uns als Begriff schenken. Sie hat in Polen und in der Sowjetunion unmenschlich gehandelt, hat die Grundsätze der Humanität über Bord geworfen und mitgeholfen, dass Millionen Zivilisten getötet wurden, dass Millionen sowjetischer Kriegsgefangener verhungerten, erfroren oder erschossen und erhängt wurden. Dieser Opfer zu gedenken, gleich ob in Berlin-Karlshorst oder in Ostwestfalen-Lippe, wo es ein Lager an der Senne gab. „Erinnern heißt immer auch Anerkennung,“ heißt es in einem Schreiben vom SPD-Fraktionschef im NRW-Landtag, Thomas Kutschaty. „Die NS-Gräueltaten in Ostwestfalen-Lippe waren nicht allein auf das Lager in Senne beschränkt. Der Einsatz von Zwangsarbeitern war überall in der Region sichtbar… Dabei ist vor allem auch die Industrie in der Verantwortung. Denn beim menschenverachtenden Arbeitseinsatz kamen im Bergbau viele sowjetische Bürgerinnen und Bürger zu Tode.“ Der Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen gehört ohne Zweifel zu den größten Verbrechen im 2. Weltkrieg und ist noch immer vielfach nicht bekannt.
Die deutschen Kriegsherren schändeten alle Zivilisation, alle Grundsätze der Humanität und des Rechts. Daran erinnerte Steinmeier. So hatte es ihnen Hitler eingebläut. Kommunistische Soldaten seien nicht als ehrenhafte Gegner zu betrachten. Die Wehrmachtsführung war an der Liquidierung gefangener sowjetischer Politkommissare ohne Gerichtsverfahren beteiligt ebenso an der Jagd auf die sowjetische Zivilbevölkerung, heißt es im Buch „Höllensturz“ von Ian Kershaw. Gnadenlos sollte gegen einen Feind vorgegangen werden, der immer wieder als „bestialisch“ und „verbrecherisch“ hingestellt wurde, ein Krieg, den auch die Wehrmachtsführung als Kampf „Rasse gegen Rasse“ bezeichnet hatte. Der neue deutsche Lebensraum könne nur durch die Vernichtung der Sowjetunion gewonnen werden. „Dieser Kampf muss die Zertrümmerung des heutigen Russlands zum Ziel haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden.Erbarmungslos, heißt es in der Sprache Hitlers, völlige Vernichtung des Feindes, keine Schonung für die Träger des russisch-bolschewistischen Systems. Und da es auch gegen die Bolschewisten ging, kriegte Hitler auch teilweise den Segen beider Kirchen, sowohl den der evangelischen wie der katholischen. Der Bischof von Eichstätt, Michael Rackl, sah in dem Russlandfeldzug einen „Kreuzzug, einen heiligen Krieg für Heimat und Volk, Glauben und Kirche, für Christus und sein hochheiliges Kreuz.“
Unverhohlener Völkermord
„Der Krieg im Osten war unverhohlener Völkermord“, urteilt Kershaw. Eng verbunden mit dem Ziel, die politische Führung in der Sowjetunion zu vernichten war das andere Ziel, die Endlösung der Judenfrage. Töten und versklaven, das hatten die deutschen Herrenmenschen im Osten vor, eine mörderische Barbarei. Ein Beispiel nur für viele andere: der Massenmord in einer Schlucht bei Kiew, wo eine SS-Einsatzgruppe 1941 33000 Juden ermorderte, mit Billigung der Wehrmacht.
Die mörderische Barbarei kostete rund eine Million Menschen in Leningrad, das heute wieder St.Petersburg heißt, das Leben. Hitler ließ die Stadt einkesseln, die Menschen hatten kaum noch etwas zu essen oder zu trinken. Im Winter fehlte es an Heizmaterial. Ein unmenschliches Verhalten der Deutschen mit mörderischer Absicht. Wer Wladimir Putin begegnet, sollte sich mit dieser Geschichte befassen. Der heutige Russen-Präsident stammt aus Leningrad, seine Großmutter kam bei einem Feuergefecht ums Leben, sein älterer Bruder erkrankte während der Blockade. Sein Vater Wladimir wurde verwundet, seine Mutter, die ihn regelmäßig besuchte, wäre bei einem Leichentransport fast lebendig begraben worden. Putin verlor während dieser schlimmen Jahre zwischen 1941 und 1944 mindestens die Hälfte der Angehörigen der Familien seiner beiden Eltern.
Mörderische Barbarei, erdacht und gemacht von Menschen, von Deutschen. Die Verbrechen des NS-Regimes in der Sowjetunion dürfen nicht vergessen werden. Dieses Vergessen müsse enden, mahnte der Bundespräsident, „diese Erinnerung bleibt uns Deutschen eine Verpflichtung und der Welt ein Mahnmal“.