1. Die Ausgangslage
Unter der Obama-Administration bereits haben die USA entschieden, fünf Einheiten mit landstationierten weitreichenden Waffen aufzustellen. Über deren globale Verteilung sollte später entschieden werden. Klar war aber, dass eine Stationierung in Europa erst nach Beendigung des INF-Abkommens möglich sein würde.
Als Ausrüstung vorgesehen waren und sind drei Waffentypen.
- Langsam bodennah fliegende Cruise Missiles, mit einer operativen Reichweite von 1.700 bis 2.500 km. Das ist eine Fähigkeit, die der NATO bereits seegestützt verfügbar war. Neu ist die Landstützung dieser Fähigkeit.
- SM-6 Luft-/Raketenabwehr-Raketen. Ihre Reichweite zur Raketenabwehr wird mit 370 km angegeben. In dieser Beschreibung ihrer Fähigkeiten sind sie defensive Waffen, allein zum Schutz bestimmt. SM-6 Raketen haben jedoch auch eine Boden-Boden-Luftangriffsfähigkeit. Ihre Reichweite zur Bodenangriffsfähigkeit wird US-seitig mit 460 km, von russischer Seite mit 740 km angegeben.
- Eine noch in der Endphase ihrer Entwicklung befindliche Hyperschall-Rakete. Ihre Standardversion hat eine Reichweite von ca. 2.800 km. Der zweistufige „Booster“ fliegt mit 17 Mach und setzt schließlich einen (oder mehrere) antriebslosen „Common Hypersonic Glide Body“ (C-HGB) frei, der mit Hyperschallgeschwindigkeit auf variabler Flugbahn und einem Sprengkopf von hoher Explosivkraft das Ziel präzise ansteuert.
2017, unter Präsident Trump, wurde mit der Aufstellung der Einheiten begonnen. Er kündigte dann auch den INF-Vertrag zum 2. August 2019. Am 13. April 2021, dann bereits unter Präsident Biden, hatten die USA angekündigt, Teile der zweiten Einheit mit den genannten Fähigkeiten in Deutschland zu stationieren. Am 16. September 2021 wurde sie mit vorausdislozierten Kräften in der Clay-Kaserne in Wiesbaden aktiviert. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hatte die Sequenz dieser Entscheidungen unter drei Präsidenten unterschiedlichster Couleur also nichts zu tun.
Seit April 2021 bereits erregt diese Ankündigung örtlich Besorgnisse in der Bevölkerung im Raum Wiesbaden/Mainz. Denn lokal stationierte weitreichende Waffen, die mit hoher Zielgenauigkeit und ohne Abwehrchance tief im Hinterland eines Gegners sog. „Hochwertziele“ ausschalten können, sind selbstredend bevorzugte Präventiv-Ziele seitens des so bedrohten Gegners.
Die Entscheidung, diese Fähigkeit weg von der reinen See-Stützung zu nehmen und zusätzlich zur Landstützung zu bringen, ist die Entscheidung, das Territorium des Stationierungsstaates einem Präventivschlag-Risiko auszusetzen.
Im Raume steht deshalb die Frage: Wer hat die Entscheidung getroffen, dass in Europa Deutschland und nur Deutschland dieses neue Risiko tragen soll? Mitteilenswert ist, wie mit dieser elementaren Frage umgegangen wird. Zur Zeit des aufziehenden sog. NATO-Doppelbeschlusses stand zunächst die Alternative See-Stützung versus Land-Stützung im Raume. Alfred Mechtersheimer, damals Offizier, der wegen der generellen Entscheidung der westlichen Allianz zur Rüstung mit Mittelstreckenwaffen seinen Dienst quittierte, bekannte einmal, dass er sich für sein Engagement zur Organisation eines breiten Widerstandes erst entschieden habe, als die NATO sich für Landstützung, vornehmlich in Westdeutschland, entschieden hatte. Das, die Betroffenheit der zivilen Bevölkerung, sei Bedingung des Erfolgs gewesen – bei einem abstrakten Beschluss mit See-Stützung wäre das seines Erachtens aussichtslos gewesen. Meine Erfahrung mit dem Klima-Thema bestätigt diese Einschätzung.
Die zweite Frage ist deshalb: Wieso hat die aktuelle politische Führung in Deutschland, wenn sie denn das Subjekt der Entscheidung mindestens im Sinne einer Veto-Kompetenz war, entschieden, dieses Risiko, dass ihr die Vertrauensbasis im Volk wegbricht, einzugehen? Die Regierung von Helmut Schmidt hat eben dieses innenpolitischen Risikos wegen 1978 anders entschieden, hat deswegen bei der NATO einen Doppelbeschluss durchgesetzt.
Diese beiden Fragen werden heute jedoch in einem Kontext gestellt, der anders ist als der nach 1978/79. Kontext ist aktuell der Krieg in der Ukraine. Der Westen kämpft an der Seite der Ukraine gegen Russland. Deswegen herrscht zu Themen, die in der Nachbarschaft dieses Krieges spielen, eine Null-Eins-Atmosphäre: Man hat entweder für oder gegen die westliche Kampfführung zu sein, ein Drittes wird nicht zugelassen. Das strahlt aus.
Ein Drittes ist aktuell eine gründliche und ergebnisoffene Auseinandersetzung mit der Entscheidung, in Deutschland weitreichende Präzisionswaffen mit optionalen Zielen tief im russischen Hinterland zu stationieren. Auf dieser Basis aber ist ein sachgerechtes Urteil unmöglich zu fällen. Das in ruhiger Offenheit öffentlich zu besprechen, ist nicht möglich – das Solidaritätsbedürfnis, der Zwang zur Lagerbildung, schiebt sich vor das Klärungsbedürfnis. Folglich gibt es Tabus.
2. Tabu-Thema 1: Wer hat die Stationierung in Deutschland ab 2026 entschieden?
Das kommunikative Phänomen ist, dass dieser äußerst weitreichende Beschluss in der deutschen Öffentlichkeit nicht vorbereitet wurde. Er wurde nur nebenläufig und sehr schmallippig am Rande des NATO-Gipfels in Washington am 10. Juli 2024 verkündet.
Zu der Frage, wer die Entscheidung getroffen hat, heißt es im Wortlaut, der vom Weißen Haus in Washington (!) publiziert, vom Bundespresseamt in deutsch nur verbreitet wurde,
„The United States will begin episodic deployments of the long-range fires capabilities … in Germany in 2026, as part of planning for enduring stationing of these capabilities in the future.”
Von einem zweiseitigen Stationierungsabkommen ist da nicht die Rede. Nebenbei: Eine „zeitweilige Stationierung“ (episodic deployments) qua Einfliegen der Systeme hat es in Europa bereits zweimal gegeben, das war im September 2023 und im Mai 2024 auf der dänischen Insel Bornholm. Der ebenfalls in Washington unterzeichnete letter of intent für eine eigenständige europäischen Entwicklung von weitreichenden Cruise Missiles wirft die Frage nach dem Verhältnis beider Entscheidungen auf. Es steht die Frage im Raum, wer die Befehlsgewalt über Systeme auf je nationalem Territorium hat.
Bei der abschließenden Pressekonferenz in Washington für die deutsche Presse nach Ende des NATO-Gipfels hat sich der Bundeskanzler zur Frage des Subjekts der Entscheidung für die Stationierung von drei Typen weitreichender Waffen ab 2026 eindeutig erklärt:
„we in Germany and we with our European partners are going to develop such missiles for ourselves, and in this circumstance, it is a very responsible and very fitting decision of the United States to deploy these missiles they already have“
Das passt mit der gegebenen speziellen rechtlichen Situation Deutschlands gegenüber den USA zusammen. Die Fraktion der Linken im Bundestag hatte die Stationierungspläne für US-Mittelstreckenraketen frühzeitig, im Frühsommer des Jahres 2022, zum Anlass genommen zu fragen:
„Ist für die Stationierung derartiger Raketen der USA in Deutschland die Zustimmung der Bundesregierung grundsätzlich erforderlich …?“
Die Bundesregierung hat diese Frage am 15. Juni 2022 faktisch mit „Nein“ beantwortet, im Detail wie folgt:
„Grundsätzlich ist eine Zustimmung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung etwa von zusätzlichem Personal oder bestimmten Waffensysteme in der Bundesrepublik Deutschland rechtlich nur notwendig, soweit sich durch die Stationierungs- und Verlegungsentscheidung die Effektivstärke der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Streitkräfte im Vergleich zur Zeit des Inkrafttretens der Abmachungen über den deutschen Verteidigungsbeitrag erhöht (vergleiche Artikel 1 Absätze 1 und 2 des Vertrages vom 23. Oktober 1954 über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland).“
Außerhalb Deutschlands ist man zu dieser Frage, wer da etwas entschieden hat, eindeutig. Eine Ausarbeitung eines polnischen Think Tanks titelt unbefangen „U.S. Announces That It will Deploy Medium-Range Missiles to Germany”.
3. Tabu-Thema 2: Weniger Risiken – mehr Sicherheit?
Die Besonderheit dieser Stationierungsentscheidung auf deutschem Boden ist ihre fehlende Begründung – das ist Konsequenz der Schmallippigkeit der Ankündigung in Washington. Es wurde zwar nachträglich eine „Hintergrundinformation“ von den jeweiligen Parlamentarischen Staatssekretären im BMVg und im AA geliefert. Doch eine Begründung ist sie nicht, zudem ist sie nur für Abgeordnete des Deutschen Bundestages verfügbar, öffentlich ist sie lediglich informell nachlesbar. Die Substanz des Textes ist schlicht.
Es wird zum einen darauf verwiesen, dass Absichtsbekundungen dieser Struktur sowohl in der Nationalen Sicherheitsstrategie aus dem Jahre 2023 angekündigt als auch von Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2024 bekräftigt worden seien – das soll den Abgeordneten bedeuten: Daran ist nichts neu, wir vollziehen gleichsam nur geschäftsmäßig das Angekündigte. Da die US-amerikanische Entscheidung aber längst vor dem Ukraine-Krieg getroffen wurde, schaffen Begründungen, die auf Konstellationen nach der „Zeitenwende“ Bezug nehmen, nur Misstrauen. Die beiden Ressorts der Bundesregierung haben da aber insofern einen Punkt, als man schon fragen kann, ob die deutsche Sicherheitscommunity diese Entwicklung verschlafen hat, also versäumt hat, Orientierung zu bieten und dann frühzeitig jene Debatte zu führen, die nun erst mit der Konkretisierung Fahrt aufnimmt.
Zum anderen wird inhaltlich behauptet, die stationierten Waffen würden abschrecken und deshalb Deutschland sicherer machen. In einer Information des Bundesministeriums für Verteidigung (BMVg), des dortigen Politischen Direktors Dr. Jasper Wieck, wird diese Behauptung wie folgt argumentativ untermauert.
„„Wichtig ist, dass wir … durch die Stationierung dieser Systeme unsere Sicherheit erhöhen, weil wir eben zur Abschreckung beitragen und den Russen vor Augen führen, dass … ein Schlag gegen potenzielle Hochwertziele in unserem Land für sie dazu führt, dass der Schaden größer wird als der Nutzen.“ Das solle dazu führen, dass Russland von einem Schlag absehe oder andernfalls die NATO in der Lage sei, sich zu wehren. Insgesamt gehe es also bei der geplanten Stationierungsmaßnahme von US-Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden für die Bevölkerung nicht um mehr Risiken, sondern um mehr Sicherheit.“
Man erkennt die Absicht und weshalb man seitens des BMVg einen Nicht-Militär die Stationierung auf dem Niveau begründen lässt: Man könne „sich andernfalls wehren“ – Raketenschlagabtausch nach Bubenkampf-Modell. Es wird sich zeigen, ob die Abgeordneten des Bundestages und dann auch die Bevölkerung in Deutschland sich mit Argumentationen dieses Niveaus werden abspeisen lassen oder ob solche nicht das Gegenteil erreichen, d.i. Misstrauen schüren. Ich vermute und befürchte, Letzteres wird der Effekt sein. Das atmosphärisch gespeiste Bedenken vieler wird sein: Die da oben haben etwas zu verbergen. Die Älteren werden sagen: Das kennen wir schon, noch aus den 1980er Jahren – wir haben die Quelle des Widerstands auf westlicher Seite gegen den INF-Vertrag und deren Begründungen mit einem waffentechnischen „Nachrüstungs“-Bedarf“ nicht vergessen.
4. Tabu-Thema 3: Der Begriff „Schutz“ in der fachlichen Debatte unter dem Zwang zur Solidarität
Wer sich nicht abspeisen lassen will, wird suchen, was an substantieller Argumentation zu finden ist. Der Blick richtet sich dann auf zwei bewährte Quellen. Und in der Tat, sowohl von Seiten der SWP, dem (unabhängigen) regierungseigenen Think Tank in Berlin, als auch von einem Institut aus dem Kreis der vier Institute, die alljährlich das „Friedensgutachten“ produzieren, wurde je eine Ausarbeitung zur Einschätzung der US-Waffen-Stationierung in Deutschland vorgelegt. Beide Texte sind, was die Narrativ-Wahl angeht, völlig gegensätzlich.
Die Analyse von zwei SWP-Autoren erschien bereits sehr früh, am 18. Juli 2024. Nach einer einleitenden Beschreibung der Fähigkeiten der neuen landgestützten Systeme geht es um die Bewertung. Die steht unter der urteilenden Überschrift „Keine großen zusätzlichen Risiken“ – also immerhin ein Zuwachs an Risiken. Das ist im Vorzeichen zu „Risiko“ das Gegenteil des Ergebnisses der Analyse des BMVg. Im Haupt-Teil dann wird die duale Sprechweise gewählt: Da sind einerseits die „Gegner der Stationierungspläne“, denen die Befürworter wie die SWP andererseits gegenübergestellt werden. Diese Narrativwahl ist spalterisch. Ihre Spitze ist, dass eingeräumt wird:
„Gewiss ist nicht jede hierzulande geäußerte Kritik an der Stationierung der Mittelstreckenwaffen russische Propaganda.“
Die Beweisführung für die Aussage „Keine großen zusätzlichen Risiken“ besteht darin, dass Argumente der „Gegner“ widerlegt werden. Da zu diesem frühen Zeitpunkt zwar opponierende Pressestatements (IPPNW und DFG-VK aber kaum substantielle Analysen der angeblichen Gegner veröffentlicht sind, hat man weitgehend auf einen Beitrag von General a. D. Helmut Ganser, publiziert am 16. Juli 2024 in der TAZ], zugegriffen. Die Qualität der Gegen-Argumentation seitens der SWP ist beispielhaft an dieser Passage zu illustrieren.
„Allein mit Luft- und Raketenabwehr könnte sich die Allianz … nicht wirksam schützen, weil Europa zu groß ist und umfassender Schutz gegen das russische Flugkörper-Arsenal zu teuer wäre. Mit eigenen weitreichenden Mittelstreckenwaffen kann die Nato diesen russischen Plan aber auf zwei komplementäre Arten durchkreuzen.
Ihre erste Aufgabe ist es, jene russischen Deep-Strike-Fähigkeiten, welche die Allianz auf Distanz halten sollen, ins Fadenkreuz zu nehmen (hold at risk) und eventuell zu zerstören, bevor sie auf Nato-Gebiet feuern. …“
Das Schutzverständnis, welches für Raketen-Abwehr gilt, wird hier auf Boden-Boden-Raketen bezogen. Bei diesem Verständnis werden Szenarien unterstellt, in denen mit Kriegsbeginn frühzeitig Raketengefechte hin und her gehen, um diese Systeme wechselseitig auszuschalten. Diese Argumentation deutet auf Präemption hin, was höchst destabilisierend ist. „Schutz“ werde qua Abschreckung dank solcher Szenarien produziert. Das aber ist etwas ganz anderes als der „Schutz“ durch Raketenabwehr. Sachlich Unterschiedliches wird unter denselben Begriff gepackt, um euphemistische Erwartungen zu schüren. Ist das seriös?
Das Ende des Beitrags ist dann doch regierungskritisch. In den Raum gestellt wird die Option einer Weiterentwicklung hin zu einem „INF-Vertrag light“. D.i. die USA könnten einen Verzicht auf die Stationierung anbieten – wenn Russland ebenfalls auf landgestützte Mittelstreckensysteme in Europa verzichtet oder ihre Zahl beiderseits auf niedrigem Niveau gedeckelt würde. Mit dieser rüstungskontrollpolitischen Perspektive ist man sich eigentlich einig mit angeblichen „Gegnern der Stationierungspläne“ – warum dann das spalterische Narrativ?
Von den Instituten, die das alljährliche Friedensgutachten tragen, hat sich das IFSH zu Wort gemeldet – mit einer fachlich präzisen Analyse. Deren Begleitkommentar lautet: Es fehlt eine ernsthafte strategische Debatte in Deutschland.
So ist es.
Lesenswert ist eigentlich nur die exquisite Sachstandsdarstellung von Oberst a.D. Wolfgang Richter (VDW-Studiengruppe „Europäische Sicherheit und Frieden“) – sowie die eben erwähnte Ausarbeitung von Alexander Graef und Mitautoren vom IFSH in Hamburg.
Bildquelle: Picryl, gemeinfrei