Endlich hat eine kluge Frau das bislang offenkundig Undenkbare ausgesprochen bzw. aufgeschrieben: Die Rücksicht auf nichtgeimpfte Corona-Kranke zu Lasten anderer Schwerkranker kann ihre Grenzen haben. Das Argument, dass an Corona erkrankte Impfverweigerer ganz wesentlich selbst Schuld an ihrem Schicksal haben, darf nicht ausgeblendet werden, wenn Krankenhausbetten so knapp sind, dass nicht mehr alle gleichwertig versorgt werden können. Wenn es um Leben und Tod geht, müssen oder können sie sogar ganz nach hinten geschoben werden.
Diese kluge Frau heißt Tatjana Hörnle. Sie ist Strafrechtlerin und Rechtsphilosophin, seit 2019 Direktorin des Freiburger Max-Planck-Instituts, leitet dort die Abteilung Strafrecht, ist Honorarprofessorin an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der „Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften“ – kurz eine überragende Kapazität. Ihre Thesen hat der „Spiegel“ in seiner jüngsten Ausgabe veröffentlicht.
Die Intensivstationen vieler Krankenhäuser sind wegen der vielen Corona-Patienten seit Monaten hoffnungslos überlastet. Immer wieder kommt das Wort „Triage“ in die Diskussion – eine schreckliche Diskussion: Wenn es nicht genügend Betten für alle Schwerkranken gibt, wer muss dann unversorgt bleiben, gegen wen müssen sich die Ärzte entscheiden, wen müssen sie aufgeben ? Die Professorin Hörnle ist eindeutig: Dann könnten Ungeimpfte auf der Strecke bleiben, eben weil sie ungeimpft sind. Denn auch der Impfstatus der Patienten dürfe in die Entscheidung einfließen. Klipp und klar und ohne jegliche Schwurbelei oder typisch juristische Verkomplizierung begründet die Topjuristin diese Position: Schließlich habe die ungeimpfte „entscheidungsfähige, volljährige Person wesentlich oder gar ausschließlich durch eigenes Verhalten ihre Notlage verursacht“. Unter den extremen Zwängen einer Pandemie genüge die Verweigerung einer Impfung als „hinreichende Begründung, um andere Erkrankte zu priorisieren“, auf deutsch: vorzuziehen.
Damit kann die Diskussion aber nicht zuende sein. Im Gegenteil: Jetzt ist sie endlich eröffnet. Bundeskanzler Olaf Scholz weigert sich zu recht, eine Spaltung der Gesellschaft durch Corona anzunehmen. Die Mehrheitsverhältnisse sind eindeutig. Impfgegner sind zwar lauter, sie agieren spektakulärer, ziehen lärmend und krakeelend durch die Straßen, zwingen die Polizei zu Sondereinsätzen. „Bild TV“, das deutsche „Fox News“ des Springer-Verlags, spielt sich als Schutzmacht der Ungeimpften auf, schwadroniert von einer „Impf-Apartheid“, nennt die 2-G-Regelung in Restaurants und Geschäften „Schikane“, aber – und das muss man für die öffentliche Diskussion als verbindlichen Parameter nehmen – kommt über 0,1 (in Worten: Null-Komma-Eins) Prozent Zuschauerbeteiligung nicht hinaus. Und so sind eben auch die tausenden oder zig-tausend Impfgegner, die sich mitunter zu Demonstrationszügen in den Städten formieren, unter den 80 Millionen Deutschen eine rechnerisch kaum zu erfassende Minderheit. Und für sie gilt: Sich nicht impfen zu lassen, wird immer mehr zu einer bewussten Entscheidung. Dafür sind endlich auch die Konsequenzen zu tragen – allein von ihnen und in vollem Umfang.
Jetzt muss sich die gesellschaftliche Mehrheit fragen, wie lange sie es sich gefallen lässt, was derzeit im deutschen Gesundheitswesen läuft oder nicht mehr läuft: Dass Krankenhauspersonal nicht mehr kann und in Scharen davon läuft, weil der Stress zuviel wird, weil Intensivstationen aus der Dauer-Überlastung durch ungeimpfte Corona-Patienten nicht mehr rauskommen. Jetzt muss sich die Mehrheit fragen, wie lange sie es sich gefallen lässt, dass schwerstkranke Krebspatienten oder Menschen, die auf die erlösende Organtransplantation warten, nicht drankommen, weil wiederum ungeimpfte Corona-Patienten die Betten besetzt halten.
Wiederholen wir, was Frau Prof. Hörnle aus Freiburg geschrieben hatte: eine ungeimpfte „entscheidungsfähige, volljährige Person (habe) wesentlich oder gar ausschließlich durch eigenes Verhalten ihre Notlage verursacht“. Soll die Gesamtgesellschaft immer länger dafür aufkommen ? Die Debatte ist eröffnet.
Vielen Dank für Ihren Beitrag und noch mehr Dank an Tatjana Hörnle, dass sie diese Debatte aus der Tabuzone holt. Frau Hörnle bestätigt damit nicht nur das gefühltes Verständnis von Gerechtigkeit, es untermauert auch das Recht selbst und die, gerade auch von den Schreihälsen, so vielbeschworene Freiheit, wobei hier die unterschiedliche Auffassung was Freiheit bedeutet, mitgedacht werden muss. Während die große Mehrheit um die Freiheit kämpft, indem sie Verantwortung übernimmt und die Einschränkungen ihrer Freiheiten erträgt, propagiert die lautsstarke Minderheit eine Freiheit, die bei genauerer Betrachtung lediglich Egoismus, also eine Freiheit ohne Verantwortung ist.
Allerdings ist Freiheit nicht ohne Verantwortung denkbar, weil Verantwortung immer auch Konsequenz bedeutet. Im Fall der Schreihälse, die sich, aus welchem Grund auch immer, nicht impfen lassen wollen, ist die Konsequenz einer Infektion dann eben Krankheit und im schlimmsten Fall ihr Tod. Es ist nicht einzusehen, weshalb andere Menschen, die in medizinische Notlagen kommen oder in ihnen sind, und die nicht unbedingt einer Virusinfektion geschuldet sein müssen, das Nachsehen haben. Krebspatienten, Herzinfarkte oder verunfallte Menschen ziehen den Kürzeren, weil die ITS von verblendeten oder anders fehlgeleiteten Impfverweigerern belegt werden. Das muss endlich ein Ende haben.
Hoffen wir, dass sich Frau Hörnles Argumentation herumspricht und oft diskutiert wird. Eine breite Zustimmung dafür dürfte im Angesicht der Pandemie und ihrer Folgen vorhanden sein. Ich jedenfalls bin sehr dafür.
P.S. „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“
(Karl Raimund Popper, „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“)
Lieber Christoph Lütgert,
die von Dir – als SPD-Genosse – begrüßte Debatte über den Ausschluss von Ungeimpften von intensivmedizinischer Behandlung widerspricht der christlichen Ethik (Nächstenliebe), sozialdemokratischer Überzeugung (Solidarität), ärztlichem Ethos und Rechtsstandards („ohne Ansehen der Person“). In einer solchen Debatte könnten ungute Priorisierungsvorschläge und Stichworte reaktiviert werden: Utilitarismus (ob sich eine Behandlung z.B. von Behinderten in bestimmten Fällen noch „lohnt“),Selbstverschulden von Krebs (Raucher), von Unfällen (Risikosport, Skifahren), Herzerkrankungen (Übergewicht, Bewegungsmangel), anderen Infektionskrankheiten (AIDS, Hepatitis) , Organversagen (Alkohol)…mit der Folge, dass Therapieoptionen nicht mehr nach medizinischer Notwendigkeit zum Einsatz kämen, sondern – von wem, mit welcher Legitimation? – „gewährt“ werden müssten. Die Notwendigkeit von Triage gab es in der Bundesrepublik noch niemals, sie sollte in den 70er Jahren angesichts nicht zuletzt selbst herbeigeführter Atom-Kriegs- und Atom-Meiler-Gefahren aus der Militärmedizin in die Humanmedizin übernommen werden. Der Widerstand dagegen ist innerhalb der kritischen Ärzteschaft ungebrochen. Bitte, denk darüber noch einmal nach und schreib dann Deinen Block bitte noch einmal neu!
Dr. med. Bernd Kalvelage, Hamburg