Die englische Sprache ist oftmals erfrischend präzise. Meinungsbildung beispielsweise hat im Englischen mit Bildung überhaupt nichts zu tun. Meinung wird dort „gemacht“ (making) oder „formiert“ (formation). Von daher ist das britische Erstaunen und sogar Entsetzen über die leichtfertig abgegebene Meinung nicht mehr so überraschend. Im Ernst: viele Kommentare zeigen nun, dass die EU bei der Stimmabgabe eine eher kleine Rolle gespielt hat. Wut und Enttäuschungen über hausgemachte Zustände – allen voran der mangelnde Strukturwandel seit dem Zusammenbruch der klassischen Industrien unter Thatcher und seither – und aktuell geschürte Ängste – allen voran über Zuwanderung – und ein unter diesen Bedingungen folgerichtig gewachsenes Misstrauen gegen die Eliten seien viel gewichtigere Beweggründe als die bei allen Befragungen über viele Jahre und bis zuletzt nie unter die als besonders wichtig geltenden Themen geratene Europäische Union.
Die Meldung, dass nach dem Referendum das Informationsbedürfnis der Briten über eventuelle Folgen eines Austritts enorm gestiegen sei, bestätigt, dass 52% eine Meinung gehabt, sie aber nicht gebildet hatten. Kommentatoren, die – wie Nico Fried dieser Tage in der SZ – nebenbei kritisieren, dass es in der Politik zu selten gefühlvoll zugehe, sollten überdenken, ob das Rationale nicht doch mehr Vorteile hat.
In dieser Woche hat eine große Menge vornehmlich junger Menschen während einer Unterhaussitzung die Absperrungen um Westminster überwunden und dabei „We love EU“ gesungen. Mehrere Millionen Briten haben die – nachträgliche – Pro-EU-Petition unterzeichnet, die das Unterhaus zur Befassung zwingt.
Eine Schreckensnachricht folgt der anderen
Regionalverwaltungen haben in London nachgefragt, ob die britische Regierung die EU-Fördergelder beispielsweise für laufende Infrastrukturmaßnahmen denn zukünftig ersetzen werde; der Finanzminister kündigt mit Blick auf den Brexit Steuererhöhungen an; Nordiren und Schotten scheinen ihre EU-Mitgliedschaft wichtiger als die im UK und die Köpfe der Brexitkampagne haben sich als beispiellose Lügner entpuppt. Ihr nationalistisches Geheul schadet der Nation, statt ihren Nutzen zu mehren. Briten, die in diesen Tagen den Kontinent besuchen wollen, stellen fest, dass dies durch den Währungsverfall des Pfund jetzt schon teurer geworden ist. Einige 1000 Nordiren haben in Irland die ihnen mögliche Staatsbürgerschaft beantragt, damit sie auf alle Fälle EU-Bürger bleiben; die Finanzwirtschaft droht mit dem Verlust von mindestens 10.000 Arbeitsplätzen; ein BMW-Mini, gebaut in Holland, wird theoretisch billiger als einer aus England – und so folgt eine Schreckensnachricht auf die andere.
Zusammen mit der Weigerung Camerons, den Austritt zu erklären, und dem Rückzug von Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson aus dem Rennen um den Prime-Minister-Posten scheint plötzlich ein ganz neues Szenario auf: der Exit vom Brexit.
Und das ginge ungefähr so: Schon jetzt scheint es – vom Kontinent aus betrachtet – kaum noch ein überzeugendes Argument für den EU-Austritt zu geben. Bis Ende September würde immer mehr Briten klar, dass der Brexit mehr Nach- als Vorteile hat. Sogar der Zerfall des Vereinigten Königreichs droht.
EU-Gegner Lügner, Hetzer, Spieler
Mit zunehmender Informiertheit der Bürger erscheinen Mr. Farage und Mr. Johnson als Lügner, Hetzer, verantwortungslose Spieler und haben somit den Zenit ihrer Macht und Popularität überschritten. Der Rückzug Johnsons, den Kundige für einen Spieler halten, dessen Aussagen nie für bare Münze genommen werden dürften, belegt das. Er wäre unfähig, seine Partei oder gar das ganze Land wieder zusammen zu führen. Er wird sich ein anderes Spiel ausdenken. Theresa May wird neue Premierministerin. Die lang gediente Innenministerin ist zwar euroskeptisch, gehört aber zum „remain“-Lager.
Die EU macht weiterhin klar, dass die Briten bei Austrittsverhandlungen in einer ganz schwachen Position seien, welche Kosten der Austritt für die Briten habe und welche Preise etwa für die weitere Teilnahme am Binnenmarkt nach dem Muster Norwegens gezahlt werden müssten.
Wenn die Erklärung in Brüssel nie ankäme
Frau May hat schon vorzeitige Neuwahlen ausgeschlossen. Könnte sie aber nicht im Oktober feststellen, dass zwischenzeitlich in allen Umfragen seit dem Referendum eine stabile Mehrheit von ca. 52% der Briten gegen den Brexit sei, das Referendum ohnehin das Parlament nicht binden könne, so wie sie selbst an die Versprechungen Camerons nicht gebunden ist? Dann würde eine Erklärung, aus der EU austreten zu wollen, in Brüssel nie ankommen.
Das ist reine Spekulation, ausgeschlossen ist es nicht, wenn die Briten jetzt erst einmal statt weiterem Aktionismus zu frönen, im eigenen Saft schmoren müssen und zur Besinnung kommen könnten.
Für die Europäer können die nächsten Monate eine große Chance werden. So könnten sie mit Blick auf die überführten Lügner aus der Brexit-Kampagne eine neue alte Geschichte erzählen. Neu, weil sie schon lange nicht mehr erzählt wird, alt, weil Churchill, Schumann, Mitterand, selbst Franz-Josef Strauß es schon gewusst hatten: Nationalismus führt in die Katastrophe, er hat Europa in zwei Weltkriege geführt und löst kein einziges der aktuellen Menschheitsprobleme. Klar, das reicht nicht, die EU über Nacht wieder populär zu machen, aber es wäre eine Story, die den Nationalisten den Wind aus den Segeln nehmen könnte. Ein Anfang, nicht nur für Großbritannien.