In der Bundesrepublik hat vor wenigen Tagen ein waghalsiger „Großversuch“ begonnen, an dem – über den Daumen „gepeilt“ – 1,3 Millionen Beschäftigte in tausenden Betrieben und Millionen „Kunden“ teilnehmen müssen. Ob dieser „Großversuch“ positiv ausgeht oder nicht, ist ungewiss. Ungewiss bedeutet: Gibt es diese Zahl an Betrieben und dieselbe Versorgung der vielen „Kunden“ am Ende noch oder nicht mehr. Das liegt nicht an den „Kunden“, auch nicht an den Beschäftigten und den dazu gehörenden Arbeitgebern und Managern, sondern der Ausgang hängt von externen Größen ab. Ich schreibe über die Altenpflege und über deren Perspektive.
Der Reihe nach: Nach der Verabschiedung des hier erwähnten Gesetzes, erklärte der Stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Stephan Stracke: „Nur wenn Pflege- und Betreuungskräfte nach Tarif bezahlt werden, erhalten ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen noch eine Zulassung für die soziale Pflegeversicherung.“ Punktum!
In der Erklärung seines Koalitions-Pendants, der gesundheitspolitischen Sprecherin der SPD- Fraktion, der Ärztin Sabine Dittmar zum Thema fehlte freilich jeder Hinweis auf Löhne und Tarife. Ein merkwürdiger Umstand. Ist das ein Zufall?
Anlässlich einer Ver.di- Demonstration in München erklärte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: „Wir haben die Pflege rausgenommen aus dem Kostendruck im Gesundheitswesen“.
Sein eigener Staatssekretär für die Pflege, Andreas Westerfellhaus sah das etwas anders. Auf dem Hauptstadtkongress in Berlin zur Gesundheitsversorgung sagten Repräsentanten der Altenpflege, dass der Gesetzgeber zur Tariffrage keine „klaren, eindeutigen gesetzlichen Regeln“ beschlossen habe. Die Ärzte-Zeitung berichtete, der Staatssekretär habe zugegeben, dass es hier „noch Probleme gebe“. An anderer Stelle habe Westerfellhaus festgestellt, dass mehr Druck auf die Pflegekassen, also die Kostenträger ausgeübt werden müsse.
Das ironisch gemeinte Wort „Großversuch“ mag irritieren. Es ist tatsächlich ein solcher Versuch mit sehr unsicherem Ausgang und möglicherweise bitteren Konsequenzen für Pflegebedürftige und deren Familien. Um was es tatsächlich geht, hat der Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Björn Böhning auf dem erwähnten Hauptstadtkongress gesagt: „Noch gibt es Unterschiede zwischen Alten- und Krankenpflege und zwischen tarifgebundenen und nicht-tarifgebundenen Unternehmen. Diese Lücke wollen wir schließen.“ (Ärzte-Zeitung vom 18.06.2021, Seite 5).
Das mag gut gemeint sein, denn es gibt eigentlich niemanden, der Pflege-Beschäftigten höhere Löhne und Gehälter verweigern wollte. Auch die Arbeitgeber, kommunal, freigemeinnützig wie die der Arbeiterwohlfahrt oder des Roten Kreuzes und kirchlichen Arbeitgeber tun das nicht. Es geht um die vollständige Finanzierung der Löhne und Gehälter.
Untergrenzen gibt es längst. Der Tagesspiegel hat diese Untergrenzen beschrieben: „Für ungelernte Pflegehilfskräfte, die keine formale Ausbildung haben, und qualifizierte Pflegehilfskräfte gibt es einen Mindestlohn. Für ungelernte Hilfskräfte liegt dieser aktuell bei 11,80 Euro (West) und 11,50 Euro (Ost). Ab dem ersten September dieses Jahres soll die Angleichung der Löhne für Beschäftigte beider Landesteile auf 12 Euro erfolgen. Der Mindestlohn für qualifizierte Hilfskräfte liegt derzeit bei 12,50 Euro im Westen und 12,20 Euro im Osten des Landes. Er soll ebenfalls ab September angehoben und angeglichen werden, auf 12,50 Euro. Für eine Person, die Vollzeit arbeitet, ergibt das ein Monatsgehalt zwischen etwa 2000 und 2200 Euro brutto. Für Pflegefachkräfte soll es ab dem ersten Juli ebenfalls zum ersten Mal einen bundesweiten Mindestlohn geben, der 15 Euro die Stunde beträgt. Vollzeitkräfte, die nach dem Mindestlohn bezahlt werden, hätten demnach ein monatliches Einkommen zwischen 2400 und 2700 Euro brutto. In der Branche werden allerdings oftmals schon höhere Löhne gezahlt.“ (Der Tagesspiegel vom 16.06.2021, Seite 22).
Auf den Mindestlöhnen aufbauend gibt es einen Lohn-Kegel bis zu Entgelten deutlich über dem Tarif des öffentlichen Dienstes oder den Lohnvereinbarungen der Kirchen. Die Höhe hängt wesentlich davon ab, ob Pflegekräfte händeringend gesucht werden oder nicht. Aber letzteres gibt es fast nicht mehr.
Jeder Euro, der verdient wird, muss in Verhandlungen zwischen den Arbeitgebern auf der einen und den Pflegekassen plus Kommunen begründet und dann beschlossen werden. Es muss ein Monate langer Verhandlungsmarathon absolviert werden. Steht an dessen Ende die volle Refinanzierung der Tarifentgelte, ist der Großversuch gut ausgegangen. Aber daran gibt es eben Zweifel, die Westerfellhaus zum Ausdruck brachte. Der ist gelernter Altenpfleger.
Die Altenpflege wird also einem enormen Stresstest unterworfen, in dessen Verlauf es geschehen kann, dass viele ambulant und oder stationär ausgerichtete Betriebe das Handtuch werfen, weil die vollständige Refinanzierung der Kosten nicht funktioniert. Diese Betriebe haben keine oder kaum Rücklagen. Sie sind sogenannte „Kommt rein, geht raus“- Unternehmen. Durststrecken überstehen sie nicht.
Der Sozialverband VdK Deutschland e.V. mit rund zwei Millionen Mitgliedern hat jüngst die Gesamtkosten der Pflegeänderungen der Regierung auf etwa sechs Milliarden € geschätzt. Nur 1,4 Milliarden Euro seien solide gegenfinanziert, 1,8 Milliarden Euro stammten aus einer Umwidmung verplanter Gelder. Der VdK meinte kurz und bündig: Unterdeckung, es sei „Zeit, über eine tiefgehende Finanzierungsreform der Pflege nachzudenken“.
Die Differenz von knapp drei Milliarden müssten die Pflegebetriebe in Verhandlungen mit Kassen und Sozialhilfe hereinholen. Das ist angesichts der anwachsenden Kosten im Gesamtbereich der Sozialversicherung und der Lage der Kommunen nahezu aussichtslos. Die andere Möglichkeit ist, noch höhere Kosten auf die Pflegebedürftigen abzuwälzen. Diese Möglichkeit ist ausgereizt. Pflegebetriebe müssten diese Milliarden selber aufbringen, sich verschulden oder eben aufgeben.
Überleben würden die fünf Prozent kommunaler Pflegebetriebe mit der Chance auf rasches Wachstum, weil private weichen mussten. Übrig würden auch freigemeinnützige und kirchlich gebundene Unternehmen, die entweder von Kommunen subventioniert werden oder deren Dachgesellschaften Kapital mobilisieren können, damit Durststrecken überstanden werden können. Auch der Konzentrationsprozess in der Altenpflege würde einen kräftigen Schub erhalten. Das ist der Ausgangspunkt heute. Eine vorgeblich „linke Ordnungspolitik“ als Ersatz für die alte Sozialpolitik ist daher nicht zu empfehlen.
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