Die AfD ist zweifellos im Aufwind. Das zeigen Umfragen seit zu langer Zeit, als dass man die Zustimmung der Wähler bloß als momentane Aufwallung von Emotionen abtun könnte. Die Sonntagszeitungen berichten am 23. Juli über die neusten Zahlen des Insa-Instituts. Danach erreichen die Rechtsextremisten bei der bundesweiten Umfrage 22 Prozent. Sie liegen als zweitstärkste Partei nur noch vier Punkte hinter der Union – und vier Punkte vor der Kanzler-Partei SPD. Es gibt für Demokraten also gute Gründe, sich um den Zustand der Republik Sorgen zu machen.
Für die demonstrativ zur Schau gestellte Gelassenheit des SPD-Kanzlers jedenfalls gibt es wenig Anlass. Olaf Scholz hatte vor kurzem – am 14. Juli – bei seiner Sommer-Pressekonferenz auf eine entsprechende Journalisten-Frage lapidar geantwortet: „Ich bin ganz zuversichtlich, dass die AfD bei der nächsten Bundestagswahl nicht besser abschneiden wird als bei der letzten.“
Nun ist es sicherlich nicht Aufgabe des Kanzlers, die sowie schon verunsicherten Bürger mit Horror-Nachrichten in die Sommerpause zu schicken. Aber zwischen der Verbreitung von Panikmeldungen und dem verharmlosenden Herunterspielen der rechten Gefahr gibt es ein weites Feld, das Scholz bewusst und fahrlässig nicht nutzte. Alles halb so schlimm? Die von Ex-Kanzlerin Merkel übernommene Taktik des Einlullens ist auch hier völlig fehl am Platze. Und das Argument der anderen Parteien, die AfD hetze nur und biete keine Lösungen für die anstehenden Probleme an, stimmt zwar – verfängt aber schon seit langem nicht mehr. Die allermeisten Anhänger der Rechten interessieren sich nicht für Fakten – das haben die USA seit Trump längst bewiesen.
In den Medien – vor allem in den allabendlichen Talkshows – ist die Stärke der AfD längst zu einem der Hauptthemen geworden. Neben echten Sorgen lockt sicherlich auch der Grusel-Faktor die Zuschauer vor den Fernseher. Etwas Faschisten-Horror, das bringt Quote. Und nicht nur in diesen Talkshows schieben sich die Vertreter der demokratischen Parteien derweil gegenseitig die Schuld für das Erstarken der Extremisten zu. Die AfD-Vertreter schauen feixend zu, weil ihnen dieser Streit hilft. Dabei haben alle demokratischen Parteien in diesem Fall ja Recht – jede von ihnen trägt auf ihre Art zum Erstarken der Demokratie-Feinde bei. Gehen wir die Parteien einmal durch.
Die Union: Stärkung durch Anbiederung
Trotz aller „Brandmauer“-Rhetorik haben gerade die beiden Parteichefs von CDU und CSU, Friedrich Merz und Markus Söder, nicht nur die Themen der Rechten aufgegriffen – sie kopieren auch deren Argumentation und Wortwahl.
Wenn etwa Merz vor einem Millionen-Publikum im Fernsehen die Probleme an den Schulen auf die „kleinen Paschas“ zurückführt – und damit die Söhne muslimischer Einwanderer meint – dann verkürzt und polemisiert er böswillig. Das treibt nicht nur bei allen, die sich gegen die weitere Spaltung der Gesellschaft und gegen Ausgrenzung engagieren, die Zornesfalten ins Gesicht – solche Tiraden lassen auch bei liberalen Christdemokraten die Haare zu Berge stehen. Umgehend kontert NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst – ohne Merz zu nennen: „Das sind unsere Kinder“. Und der schleswig-holsteinische Regierungschef Daniel Günther betont immer wieder, es gehe nicht darum, Probleme der Zuwanderung auszublenden, aber: „Die CDU ist gut beraten, wenn sie Zuwanderung als etwas Positives begreift.“
Die ganze Merz-Rhetorik ist natürlich Wasser auf die Mühlen der AfD, deren Umfrage-Erfolge den CDU-Chef offenbar irrlichtern lassen. Wie sonst konnte er sich jüngst an den Rechtsextremisten messen – und behaupten, in Wahrheit sei die Union die „Alternative für Deutschland – mit Substanz“. Die AfD als Benchmark für die CDU? Das adelt die Extremisten und klingt schwer nach einem Merz-Trauma. Die süffisante Antwort von AfD-Co-Chefin Alice Weidel kam denn auch postwendend: „Auch wenn sich Herr Merz noch so verbiegt, das Original bleiben wir.“
Merz, der vor nicht allzu langer Zeit noch posaunt hatte, er wolle die AfD halbieren, trägt also entscheidend dazu bei, dass sich die Zahl der AfD-Anhänger seit der Bundestagswahl nicht halbiert, sondern verdoppelt hat – von 10,3 auf momentan rund 20 Prozent. Landläufig nennt man so etwas großmäulig.
Und CSU-Chef Markus Söder? Konzentrieren wir uns bei ihm auf seine Lieblingsthemen „Wokeness“ und Verbotskultur, die er fast zu einem Kreuzzug gegen alles Linksliberale macht. Bei den verbalen Rundumschlägen des bayerischen Ministerpräsidenten führt die Panik vor einer Schlappe bei der nächsten Landtagswahl im Oktober Regie. „Bayern ist anders als Berlin, wir lehnen Wokeness, Cancel Culture und Genderpflicht ab. Bei uns darf man essen was man will, sagen was man will, sagen und singen was einem einfällt.“
Ja, über solche Verbalinjurien des CSU-Chefs mag man in bayerischen Bierzelten jubeln – doch sie bedienen und wiederholen eindeutig rechtspopulistische Narrative. Was heißt das? „Berlin“ steht für „die da oben“, die am Volk vorbei regieren und die deshalb alles mögliche verbieten wollen. All das ist frei erfunden – kein Politiker von Bedeutung hat die Pflicht zum Gendern oder das Verbot von Fleisch oder widerlichen Ballermann-Songs gefordert. Völlig egal! Wenn man Söder heißt, kann man solche Popanz-Themen dennoch zum zentralen politischen Streit küren – und die Stimmung unverantwortlich anheizen. Dass das genau die Fake-News-Geschichten sind, auf die schon Donald Trump gesetzt hat – und die auch die AfD befeuert, scheint Söder egal zu sein. Auch dass über seine Hetz-Reden nicht nur im Bierzelt, sondern auch in der AfD-Zentrale gejohlt wird.
Die SPD: Abschied von denen da unten
Kann man den Eindruck gewinnen, dass die öffentliche harte Abgrenzung zur AfD bei CDU und CSU auch wahltaktisch motiviert ist, so gehört der Kampf gegen den Rechtsextremismus bei der SPD sicherlich zur DNA der Partei. Die schrecklichen Verbrechen der Nazis auch an Sozialdemokraten haben die Partei geprägt. Deshalb ist sie – bis auf Ausnahmen – weit mehr als die Union davor geschützt, sich rechten Strömungen anzubiedern.
Dieses vorangestellt, kann man die SPD dennoch nicht von ihrer Verantwortung für das Erstarken der AfD freisprechen. Am ehemaligen Parteichef Sigmar Gabriel gibt es sicherlich vieles auszusetzen. Doch selten hat ein Sozialdemokrat den Anspruch und die Probleme seiner Partei im 21. Jahrhundert so auf den Punkt gebracht wie Gabriel auf dem SPD-Parteitag 2009: Damals sagte er:
„Wir dürfen uns nicht zurückziehen in die Vorstandsetagen, in die Sitzungsräume. Unsere Politik wirkt manchmal aseptisch, klinisch rein, durchgestylt, synthetisch. Und das müssen wir ändern. Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist. Weil nur da, wo es anstrengend ist, da ist Leben“.
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Eigentlich! Denn es bleibt die entscheidende Frage an die SPD: Ja – warum tut ihr es dann nicht.
Als Gabriel vor nunmehr 15 Jahren diese mahnenden Worte sprach, war das ja nicht im luftleeren Raum. Schon damals war die einstige Arbeiterpartei SPD längst dabei, sich in eine Lehrer- und Sozialarbeiterinnen-Partei zu verwandeln. Nun sind das – ohne Ironie – ehrbare Berufe, doch hat der Wandel der Partei nicht nur inhaltlich fatale Folgen. In der SPD gibt es immer weniger Menschen, die von der sozialen Lage direkt betroffen sind. Das führt zu einer schrumpfenden Sensibilität für die Bedürfnisse der vielzitierten „kleinen Leute“. Fast noch schlimmer ist der damit verbundene Rückzug aus den problematischen Quartieren der Städte. Die allermeisten SPD-Mitglieder wohnen eben nicht mehr „mittendrin“; die Partei ist in den Brennpunkten – etwa im Ruhrgebiet – kaum mehr vertreten. Die Schwächeren der Gesellschaft haben keine Stimme mehr. So ehrenhaft es ist, sich für Genderpolitik und Fahrradwege einzusetzen, so richtig ist aber auch die Tatsache, dass Arm und Reich in dieser Gesellschaft auseinander klaffen, dass die soziale Frage längst nicht gelöst ist. Hier ist Politik gefragt – vor allem von Sozialdemokraten. In diesen Bereichen hat die SPD – bei allen Schwächen – den „kleinen Leuten“ über Jahrzehnte Halt und Sicherheit gegeben. Sie ist dabei, diese Funktion gänzlich zu verlieren.
Die Folgen dieses Rückzugs der SPD sind dramatisch zu spüren. Einstige Arbeiterstädte wie Essen oder Oberhausen sind längst an die CDU gefallen. Und nun kommt die AfD gerade in ehemalig SPD-dominierten Quartieren auf ihre besten Ergebnisse. Hier ist der Frust mit Händen zu greifen, ganze Straßenzüge versinken im Elend, viele Menschen fühlen sich im Stich gelassen, das politische Interesse und in Folge die Wahlbeteiligung sind oft erschreckend niedrig. Der Abschied der Kümmerer-Partei SPD hat ein Vakuum hinterlassen. Der Boden ist bereitet für die Rattenfänger der AfD.
Und da man die SPD und ihre Strukturen nicht mal eben neu aufstellen kann, da es auch unter Sozialdemokraten viel zu wenige Leute gibt, die dorthin gehen wollen, wo es brodelt, riecht und stinkt, wird sich die AfD in diesen Vierteln weiter breit machen, so ist zu befürchten.
Grüne: Die Nicht-Versteher
Es möge an dieser Stelle ein Beispiel dazu dienen, das Leben der Grünen in einer völligen Parallelwelt zu dokumentierten: Das Heizungsgesetz.
Wie weit kann sich eine Partei, die sich in der Mitte der Gesellschaft wähnt, von deren Wirklichkeit entfernen? Völlig unvorbereitet ein Gesetz zu präsentieren, das Menschen hilflos dastehen lässt und sie ganz kurzfristig vor existenzielle Probleme stellt, zeugt nicht nur von einer Arroganz der Besserverdienenden – es ist auch völlig unprofessionell. Die sozialen Probleme nicht sofort in den Mittelpunkt einer langfristig angelegten Kampagne zu stellen, die Bürger nicht vorzubereiten auf das, was geplant ist, hat ganz enorm zur Wut vieler Menschen auf die Koalition beigetragen. Dass die Springer-Presse und andere rechte Medien diesen Unmut der Menschen zudem noch mit Fake-News befeuern, mag man widerlich finden – man hätte es aber in der hoch bezahlten Ministerialbürokratie voraussehen müssen.
Wohl kaum ein politischer Vorgang der letzten Jahre hat der AfD derartig Aufwind verschafft wie das völlig verkorkste Heizungsgesetz. Hier trifft die Grünen die Hauptschuld – doch hätte ein SPD-Bundeskanzler die soziale Sprengkraft des Unterfangens erkennen und entschärfen müssen. Übrigens: Der berechtigten Forderung nach einer besseren Klimapolitik hat diese Stümperei einen Bärendienst erwiesen.
Ein weiteres Problem der Grünen, das der AfD Wasser auf die Mühlen leitet, ist die Zuwanderungsfrage: So reflexartig die AfD und Teile der Union bei der Zuwanderungsfrage einseitig auf die Probleme verweisen, so reflexartig negieren Teile der Grünen und der SPD die Problematik. Natürlich braucht Deutschland Zuwanderer – und jede Form von Rassismus muss bekämpft werden. Und natürlich dürfen Herkunft und Aussehen der Menschen keine Rolle spielen. Es muss gelten: Migranten sind nicht von Natur aus schlechtere Menschen – sie sind aber auch nicht von Natur aus die besseren. Um es klar zu sagen: Wir brauchen in unseren Städten keine Neonazis, keine Hetzer – aber auch keine Islamisten, keine Mafia oder kriminelle Clans, die ihre Geschäfte brutal mit Drogen, Prostitution und anderen illegalen Geschäften machen. All das muss offen angesprochen und dann bekämpft werden. Diese Bereitschaft kann man auch von Grünen erwarten, die die Debatte zudem breiter aufstellen könnten – weg von rechten Thesen. Doch noch trauen sich die wenigsten in dieser Partei.
FDP – Förderung der Staatsverachtung
Solange die FDP stets fürchten muss, bei der nächsten Wahl an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern, solange hat die Partei nur ein Ziel: eben dieses zu verhindern. Solange wird sie rücksichtslos Politik für ihre kleine und reiche Klientel betreiben. Deren Wohl und nicht das Wohl aller Bürger stehen im Mittelpunkt der FDP-Politik – nicht nur bei Parteichef Lindner.
„Privat vor Staat“ – dieses Motto der 90er Jahre gilt für die FDP bis heute. Staatsferne als Parteiräson. Damit kommt die FDP der in der AfD grassierenden Staatsverachtung recht nahe – wobei die Rechten nur den liberalen Rechtsstaat verachten, einen autoritären Staat nach russischem Vorbild aber durchaus anstreben.
Der jahrzehntelange und von der FDP geförderte Rückbau des Staates hatte übrigens Folgen: Die Infrastruktur in Deutschland ist vielerorts desaströs, das Schulsystem steht am Rande des Kollaps, der Polizei fehlt ebenso Personal wie den Finanz- und Gesundheitsämtern. Ja, vor allem das hat zum oft beklagten Kontrollverlust des Staates beigetragen. Und das führt bei vielen Bürgern zu Ängsten – und treibt denen Wählern zu, die einfache Lösungen versprechen. Der AfD halt.
Die Linken -und das Problem Sahra Wagenknecht
Die Linken sind dabei, sich weitgehend durch eigene Schuld aus der Politik zu verabschieden. Wie leider allzu oft in der Geschichte bekämpfen sich die unterschiedlichen Strömungen in der Linken vorzugsweise untereinander – anstatt sich um die Menschen vor Ort zu kümmern – und dann den politischen Gegner anzugreifen.
Wie zerrissen die Partei ist, zeigt die endlos lange Auseinandersetzung um die einstige Frontfrau Sahra Wagenknecht. Die mit Abstand bekannteste Linken-Politikerin hat sich vom Kern der Partei längst entfernt. Schon in der Flüchtlingspolitik vertrat sie eher rechte Thesen. Auch in der Corona-Frage kam Wagenknecht dann der AfD inhaltlich sehr nahe, vertrat krude Thesen, die an Verschwörungstheorien erinnerten. Dass sie nun auch beim Thema Ukraine und Russland einen Kurs fährt, der von dem der AfD kaum zu unterscheiden ist, ist entlarvend.
Wagenknecht prüft, eine eigene Partei zu gründen, der im Osten durchaus Chancen eingeräumt werden. Sicherlich fürchtet die AfD das mehr als jeden Frontalangriff aus den anderen Parteien. Solange aber hilft auch die Linke Wagenknecht – ob sie es will oder nicht – den Rechtsextremisten.
Das ernüchternde Fazit
Für das derzeitige Umfrage-Hoch der rechtsextremen AfD tragen alle demokratischen Parteien eine Mitschuld – jede auf ihre Art. Was man aber nicht vergessen darf: Die Hauptverantwortung tragen die (potenziellen) Wähler. Wer klaren Verstandes die Hetzer wählt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, selbst ein Extremist zu sein. Nicht Opfer der Verhältnisse – sondern Täter.
Es ist zu befürchten, dass das Hoch für die AfD anhält. Man mag hoffen, dass die offiziell vorgetragene Zuversicht von Kanzler Scholz zutrifft, der Zulauf für die Extremisten sei nur temporär – realistisch ist das nicht. Selbst Scholz wird das wissen.
Die Verunsicherung ist allenthalben mit Händen zu greifen. Heute schreibt mir ein Pastor (!) zu meinem Text über Hermann Brochs „Schlafwandler“: ‚Mir macht das nochmal umso mehr deutlich, wie hochaktuell und dramatisch Brochs Gedanken heute (leider) wieder sind!
Es vergeht kaum noch ein Gespräch im Bekannten- und Freundeskreis, wo diese schon apokalyptische Stimmung des Zusammenkommens von Krisen, Sackgassen und Abbrüchen in allen elementaren Lebensbereichen und die Handlungsunfähigkeit der in sich selbst gefangenen Politik nicht zur Sprache kommt, bis hin, dass der Bundespräsident jetzt Grundgesetz und Völkerrecht verrät weil man Amerika nicht beim Einsatz von Streubomben in den Arm greifen dürfe…Und die Republik schweigt weitgehend über diesen Werteverfall und erneuten Tabubruch sowie hörigen Kniefall vor dem „großen Bruder“ im Westen, die Kirche eingeschlossen…. Der Krieg heiligt wieder alle Zwecke und Mittel. Was können wir da noch tun?