Willy Brandt flog 1981 nach Moskau, um mit Breschnew zu reden. Ich gehörte als damals noch jüngerer Parlamentskorrespondent zur Delegation, die den SPD-Chef begleitete. Gegen den Willen des SPD-Kanzlers Helmut Schmidt war Brandt in die UdSSR geflogen. Solange geredet wird, wird nicht geschossen, so die Formel von Brandt. Er wollte mit dem KP-Chef in der sowjetischen Metropole über den Sinn und Unsinn von atomar bestückten Raketen reden, die es im Osten gegen den Westen gab und die der Westen gegen den Osten aufstellen wollte. Das Gleichgewicht des Schreckens, hieß das. Der SPD-Vorsitzende erreichte im Grunde nichts Konkretes, das war auch gar nicht seine Absicht. Er wollte nur dem Russen, der Welt signalisieren, wie sinnlos das ganze Waffengeklirr war, wie teuer und wie gefährlich. Zudem wusste jeder: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter. Moskau und Washington waren damals in der Lage, die Welt in die Luft zu jagen. Doch sie rüsteten ab.
Wandel durch Annäherung, war Brandts(und Egon Bahrs) Richtschnur für die erfolgreiche Ostpolitik in seinen ersten Kanzlerjahren nach 1969. Dabei gerät heute schnell in Vergessenheit, wie umstritten diese Ostpolitik war. Es gab hitzige Debatten. Die Unions-Opposition wollte diese Politik mit allen Mitteln verhindern, man sprach von Verrat, davon, dass der erste SPD-Kanzler Brandt deutsche Lande an Polen und die Sowjets verkaufen wolle. Dabei waren Ost- und Westpreußen durch den von Deutschland inszenierten Weltkrieg verloren, nicht durch Brandts Ostpolitik, die auf Versöhnung aus war. Versöhnung mit Staaten im Osten Europas, deren Menschen Nazi-Deutschland vernichten und versklaven wollte. Die Union strengte ein Misstrauensvotum gegen den Kanzler an, Rainer Barzel, der CDU-Kandidat, wähnte sich schon am Ziel, stolperte jedoch kurz davor, auch weil Stimmen gekauft waren, die ihm bei der Endabrechnung fehlten. Brandt blieb Kanzler, es kam zu Neuwahlen, die die SPD erstmals als stärkste Partei gewann.
Man darf heute erneut daran erinnern, dass der 2. Weltkrieg allein auf sowjetischer Seite mindestens 25 Millionen Menschen tötete. Die Sowjets hatten von allen am Krieg beteiligten Völkern die meisten Verluste. Insgesamt wird die Zahl der Toten auf über 50 Millionen geschätzt. Man darf an diesem Tag, dem 27. Januar, ferner daran erinnern, dass an einem 27. 1944 die dreijährige Belagerung Leningrads durch Nazi-Deutschland beendet wurde. Dabei kam fast eine Million Russen ums Leben. Hitler wollte die ganze Stadt vernichten, er ließ die Menschen erfrieren und verhungern. Russlands Präsident Putin kommt aus Leningrad, das heute wieder St. Petersburg heißt.
Brandt redete mit Breschnew. Mit wem sonst? Beliebt war der im Westen nicht, die Friedenstaube nicht sein Lieblingsvogel. Ihm schob man die Verantwortung zu für die Invasion russischer Streitkräfte in Afghanistan 1979, was zum Vietnam der Russen wurde. Im folgenden Juli 1980 boykottierten westliche Länder die Olympischen Sommer-Spiele in Moskau. 85000 sowjetische Soldaten kontrollierten die wichtigsten Städte des Landes am Hindukusch- glaubten sie zumindest und ahnten zu der Zeit nicht, was auf sie zukommen würde- ein tödliches Desaster. 1986 nannte der neue KP-Chef Michail Gorbatschow das Engagement Moskaus in Afghanistan eine „blutige Wunde“ und leitete den Rückzug ein, der am 15 Februar 1989 endete. 85 Milliarden Dollar hatte der Kreml für den Krieg ausgegeben, 15000 Sowjet-Soldaten waren gestorben. Afghanistan bezahlte den Krieg mit rund einer Million Toten, über 1000 Dörfer wurden zerstört, fünf Millionen Afghanen waren in Nachbarländer geflüchtet.
Attentate der Terroristen in New York
Man darf daran erinnern und könnte den Bogen weiterspannen in die Jahre nach der Jahrtausendwende, als die USA nach den Attentaten muslimischer Terroristen in New York und Washington der vermuteten Wurzel des Übels auf den Grund gehen wollten und in Afghanistan einmarschierten- gegen den Rat sowjetischer Generäle, die sie warnten: In Afghanistan könne man nicht siegen. So geschah es. 20 Jahre versuchten die USA und ihre Verbündeten, darunter auch Deutschland, das Land zu befrieden, nenne ich das mal, aber die Widerstände der Aufständischen konnten sie nie entscheidend brechen. Immer wieder kam es zu Anschlägen mit tödlichen Folgen. Die Taliban waren überall und beinahe unsichtbar für die Fremden aus der anderen Welt. Deutschland wird am Hindukusch verteidigt, hatte damals Verteidigungsminister Peter Struck gesagt. Ja, so dachten viele. Und glaubten an das Gute, das der Westen dem Osten bringen würde. Und vor einem halben Jahr zogen sich die Truppen des Westens Hals über Kopf zurück und überließen den Taliban ihre Heimat. Welchen Sinn hatte das Engagement des Westens am Hindukusch mit vielen Toten, Verletzten, geflüchteten Menschen, zerstörten Dörfern?
Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise und Russland gibt es immer wieder Stimmen, die fordern, Russland mit harten Sanktionen zu drohen, anderen fordern deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine, wieder andere meinen, der russische Präsident Putin müsse gestoppt werden. Von wem bitte schön und auf welche Weise? Eine Politik des Regime-Change? Eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung dürfe in ihm keinen Partner sehen, sie müsse ihm mit allen Mitteln drohen, was jenseits militärischer Auseinandersetzungen möglich ist. Gemeint ist damit natürlich die russische Gas-Pipeline North Stream 2. „Noch der heftigste ökonomische Kontaktabbruch ist erträglicher als ein Krieg in Europa“, so lese ich in der SZ. Letzteres ist wahr. Aber wahr ist auch, Sanktionen haben noch nie etwas gebracht. Putin wird sich so nicht in die Knie zwingen lassen. Überhaupt ist vor so einem Denken nur zu warnen. Wer würde denn statt Putin Russland regieren, dem Westen zur Verfügung stehen? Putin als Bösewicht aufzubauen, dem man alles Böse zutraut, dem man aber nicht vertraut, soll ein Weg sein?
Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz
Dem früheren SPD-Kanzler Schröder bescheinigt der SZ-Autor, dass er mit törichter, ja epischer Blindheit geschlagen gewesen sei, weil Schröder in Putin einen rationalen und verlässlichen Freund und Partner gesehen habe. Der Autor attestiert der SPD, dass sie geprägt sei vom „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Auschwitz“, welches sie immer wieder segeln lasse in das entsprechende moralische Umfeld. Der Autor verschweigt nicht, dass es Schröders „große historische Leistung“ war, den USA im Falle der Invasion des Irak nicht zu folgen. Und dieser Krieg beruhte auf einer Lüge, offiziell geäußert vom damaligen US-Außenminister Powell vor der UNO. Was die Vereinigten Staaten dauerhaft geschwächt und die Welt destabilisiert habe. Und was heißt das für die Ukraine? Waffen, Stopp der Pipeline?
Neben den Kalten Kriegern, die sich seit einiger Zeit wieder zu Wort melden, gibt es aber auch jene, die zur Mäßigung aufrufen, zum Dialog mit Russland. Einer ist Friedbert Pflüger, ehemaliger Mitarbeiter des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Ein CDU-Mann, der in Berlin wohnt, ein Professor, der an der Bonner Universität lehrt, der ein gefragter Berater ist. Pflüger äußerte sich in einem sehr guten Interview mit Jürgen Zurheide im Deutschlandfunk zur wertegebundenen Außenpolitik, ein Begriff, den die neue Außenministerin Annalena Baerbock verwendet hatte. „Wir können nicht die ganze Welt nach unserem Bildnis formen“, mahnte Pflüger anlässlich der kürzlichen Reise der Ministerin in die Ukraine und nach Russland. Und er hat ja nicht Unrecht, wenn ihm das Gerede von den Werten des Westens ein wenig zu hoch daherkommt. Das geht doch anderen ähnlich, zumal es im Ausland auf Unverständnis stoßen, als arrogant empfunden werden kann. ‚Dabei muss man die eigene Wertebindung nicht leugnen, die gibt es ja und das ist gut so. Aber einer wie Pflüger rät zu etwas mehr Zurückhaltung, wenn man will Bescheidenheit: „Es darf nicht dazu führen, dass wir zu selbstgerechten, moralischen Kreuzzügen aufbrechen und auf andere Nationen herabblicken.“
Guter Westen, schlechter Osten
Das Bild vom guten Westen und vom schlechten Osten, hier die repräsentative Demokratie, dort autokratische Regime wie zum Beispiel in Russland, mir gefällt das schon lange nicht, gerade auch vor dem Hintergrund deutscher Geschichte und die der Amerikaner enthält weiß Gott genügend schwarze Flecken. Man muss Putin nicht mögen und darf ihn nicht unterschätzen, aber man sollte auch seinen möglichen Stolz nicht unberücksichtigt lassen, wenn man -wie vor Jahren durch US-Präsident Obama geschehen-Russland nur noch als Regionalmacht einstuft. Das könnte gerade einen wie Putin bis aufs Blut reizen, zumal er den Zusammenbruch und die Auflösung der einstigen Weltmacht UdSSR als aus seiner Sicht „größte Katastrophe“ bezeichnet. Man muss nicht seine Meinung teilen, aber wissen, wie er tickt. Die Frage muss ja auch gestellt werden, ob das größte Land der Erde, also Russland, ein Riesen-Reich mit vielen Zeitzonen, einer eigenen Geschichte und Kultur, überhaupt so regiert werden könnte, wie man sich das im Westen vielleicht ausmalen würde.
In dem Interview ging der CDU-Mann auch auf Forderungen im Ukraine-Russland-Streit ein, man müsse sich „entschlossen positionieren“. Richtig ist, dass das Menschenbild des Westens eine Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen verlangt. Aber zu den Werten des Westens gehört auch die Bewahrung des Friedens. Pflüger erinnerte im DLF-Gespräch an Willy Brandt, der gesagt hatte: „Der Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts“. Pflüger warnte davor, immer weiter an der Eskalationsschraube zu drehen und zu fordern und zu drohen, statt den Dialog zu suchen, Schritte zu mehr Abrüstung zu gehen und vielleicht eine neue KSZE einzuberufen, wie das vor Wochen einige Generäle und Diplomaten vorgeschlagen hatten. Sich immer wieder aufzuplustern, das bringe nichts, sagte der Berliner CDU-Professor, der hinzufügte, es sei auch falsch, Leute, die den Dialog suchten, als Appeaser, Beschwichtiger hinzustellen. Wichtig sei, sich in die Nöte und Besorgnisse des anderen zu versetzen, man müsse Einsicht gewinnen in die Traditionen, Kulturen und Werte des Gegenüber, auch wenn sie einem aus dem Westen nicht gefielen.
Trump wollte das Fracking-Gas-Geschäft
Erinnernd an die KSZE-Konferenz 1975 in Helsinki plädierte Pflüger im DLF für eine Konferenz mit den USA, Kanada, der EU, Russland, Ukraine, auf der man auch Fragen erörtern könne, wie das Klima auf unserem Planeten zu retten sei. Mit einer solchen Konferenz schaffe man Vertrauen, nicht mit Sanktionen. In Gesprächen müsse ein Interessenausgleich gefunden werden. Niemand dürfe sich auf den Standpunkt stellen: Wir haben Recht. Pflüger erinnerte an die Entspannungspolitik Brandts und daran, wie damals das Erdgas-Röhrengeschäft zustande gekommen sei, mit Hilfe deutscher Technologie seien die Pipelines gebaut worden. Das Geschäft habe deutschen wie sowjetischen Interessen gedient. Er wies die Kritik an Putin zurück, dieser habe das North-Stream-2 Projekt politisiert. Vielmehr sei es der frühere US-Präsident Trump gewesen, der das Fracking-Gas der Amerikaner an Deutschland verkaufen wollte.
Und was die Warnungen vor einer zu großen Abhängigkeit Deutschland vom russischen Gas betreffen: Man frage die Verantwortlichen von Eon-Ruhrgas, die seit Jahrzehnten Geschäfte mit russischen Partnern machen. Sie haben immer wieder betont, dass Russland ein verlässlicher Partner sei. Auch daran hat Pflüger erinnert, das Geschäft sei ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, von Abhängigkeit könne keine Rede sein. Man muss mit Putin reden, nicht über ihn, man darf den russischen Präsidenten nicht isolieren, sondern muss versuchen ihn einzubinden in Gespräche, Verträge. Warnungen, Putin lege Hand an die ganze europäische Friedensordnung, dienen einzig der Dämonisierung des Präsidenten. Und Deutschland als unsicheren Kantonisten hinzustellen, wie es die FAZ getan hat, weil Berlin nicht drauf haut, sondern den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen will. Der Westen braucht Putin, ohne ihn keine Lösung in Syrien, in Belarus und in der Ukraine. Zu behaupten, Putin wolle die Despotie nach Westen ausdehnen, erinnert in fast lächerlicher Art an die 50er Jahre, als man in Deutschland gern ablenkte von den eigenen Verbrechen in der Nazi-Zeit und stattdessen die kommunistische Weltherrschaft drohend an die Wand malte, der Russe stand schon in Berlin. Ein Platz, den er mit der den Deutschen geschenkten Einheit vor rund 30 Jahren freiwillig verlassen hat. Angst vor Russland, dem mächtigen Bären? Wolfgang Ischinger, der frühere Botschafter in Washington und Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, hat vor einiger Zeit in einem Gastbeitrag in der SZ ein wichtiges Wort gesagt: Wir brauchen Sicherheit mit Russland, nicht vor Russland.
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Bild Friedbert Pflüger: Adleraugenblick, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons