Noch ein Rückblick 25 Jahre danach, allerdings etwas anders als die üblichen Verklärungen der Einheits-Stifter Michail Gorbatschow und Helmut Kohl. Hier sprechen zwei, die damals Nebenrollen spielten, nicht nur über das einst geteilte Land, sondern auch über Deutschland auf dem Weg zur europäischen Vormacht.
Wer erinnert sich an Peter-Michael Diestel? Den letzten Innenminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR unter Lothar de Maizière. Er wurde 1952 auf Rügen geboren, ist Mitglied der CDU, Rechtsanwalt an der Glienicker Brücke in Potsdam, als solcher in manches Zwielicht gerückt worden, und nicht mehr in der Politik aktiv. Fast wäre sein Name vergessen.
Den anderen kennen alle. Oskar Lafontaine muss nicht extra vorgestellt werden: 1943 am entgegengesetzten Ende Deutschlands, in Saarlautern geboren. Ministerpräsident des Saarlandes, Vorsitzender der SPD, später der Partei Die Linke. Ein wenig an den Rand der Politik geraten, allerdings noch Oppositionsführer im Landtag in Saarbrücken.
Allianz half Kohl zum Erfolg
Ein waschechter Ostdeutscher aus “einem Staat, in dem ich bewusst gelebt habe“, und ein von der Nähe zu Frankreich geprägter Westdeutscher, dem Metz in Lothringen näher ist als Frankfurt an der Oder. Die politischen Wege der beiden haben sich einmal gekreuzt. Als Lafontaine bei der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 erster gesamtdeutscher Bundeskanzler werden wollte, war Diestel bei denen, die mit der konservativen „Allianz für Deutschland“ Helmut Kohl zum Erfolg verhalfen.
Wenn zwei Männer über 60 und 70 bei Selters und Kaffee und einem Glas Rotwein zusammenhocken und über vergangene und kommende Zeiten plaudern, dann wäre es ganz normal: dass sich manches rosig verklärt und in mildem Licht erscheint. Nicht so bei Diestel und Lafontaine. Der ostdeutsche Christdemokrat aus Mecklenburg und der westdeutsche Linke aus dem Saarland haben sich ihre Pfiffigkeit, ihren Formulierungswitz, ihre Respektlosigkeit und ihre Unbekümmertheit bewahrt.
Nicht aufs Maul gefallen
Aufs Maul gefallen sind die beiden nicht. Der aus Torgau in Thüringen stammende Journalist Frank Schumann („Junge Welt“) hatte jedenfalls eine gute Idee, als er Diestel und Lafontaine zum Zwiegespräch aufforderte, das ein Streitgespräch werden sollte. Langweilig ist es nie, sondern durchaus anregend und wissenswert, was die beiden sich zu sagen haben. Während Lafontaine seine prominenten Gesprächspartner als Zeitzeugen benannte, seine Erfahrungen spielen ließ und Gelehrte von Thukydides über Albert Camus und Max Horkheimer bis Egon Bahr zitierte, beeindruckte Diestel mit erfrischend unkonventionellen und überraschenden Gedankengängen, die nicht unbedingt ins gewohnte Politikschema passen.
„Wenn wir nicht die Allianz für Deutschland geschlossen hätten, hätte die SPD gewonnen“, meint Diestel, der damit seine Bedeutung und die seiner Kleinpartei DSU gehörig überschätzt. Lafontaine indessen ist sicher, dass Kohl „keine dritte Amtszeit erhalten hätte, wäre nicht die deutsche Einheit dazwischengekommen“.
Defizite in der Gesellschaft
Gegengsätzlicher Ansichten sind sie, wenn es um die DDR und die Einheit geht. Während Diestel den DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker als „tragische Figur“ mit „Lebensirrtümern“ und als “Hassfigur“ einstuft und die Bilanz der Vereinigung „dankbar und zufrieden“ erlebt, mag Lafontaine sich mit diesen Einschätzungen nicht abfinden: „Naja, ich sehe das ein wenig anders“. Für ihn ist die zum „Hassobjekt“ gemachte DDR „kein abgeschlossenes Kapitel, sondern auch fortgesetzte Forderung nach Überwindung der Defizite unserer Gesellschaft“ – eine der vielen Fehleinschätzungen des einstigen Spitzen-Sozialdemokraten?
Recht behält er freilich, wenn er „felsenfest überzeugt“ ist, dass Kohl „die Wirkung der Einführung der D-Mark zum Kurs 1:1 völlig falsch eingeschatzt hatte“. Dennoch meint Diestel, Kohl habe „nicht gelogen“, als er die berühmten „blühenden Landschaften“ prophezeite: „Der Osten ist schön geworden und eine blühende Landschaft. Wer das nicht sieht, muss seine Brille putzen.“
Recht nahe sind sich Diestel und Lafontaine, wenn sie Europa in den Blick nehmen. Zwar hält Lafontaine die damals von ihm befürwortete Einführung des Euro nachträglich für einen „Fehler“, worauf Diestel entgegnet: „Das glaube ich nicht.“ Beide aber sehen eine Diktatur der kapitalistischen Finanzmärkte und Deutschland auf dem Weg zum „Hegemon“.
Ein origineller Wortwechsel verdient zum Schluss festgehalten zu werden. Lafontaine: „Ich höre bei dir heraus, dass die Ostdeutschen die Westdeutschren verändert haben.“ Diestel: „Nein, ich meinte, dass die Ostdeutschen Deutschland verändert haben.“
Oskar Lafontaine/Peter-Michael Diestel: Sturzgeburt. Vom geteilten Land zur europäischen Vormacht. Das Neue Berlin, Berlin 2015. 224 Seiten, 14,99 €
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