„Wahnsinnspartie“, überschrieb der Chefredakteur der „Neuen Westfälischen“ in Bielefeld, Thomas Seim, seine morgendliche Kolumne. Recht hat er. Der „Bonner Generalanzeiger“ machte einen Sid-Bericht über das dramatische Spiel zum Aufmacher der Sportseite. Titel: „Popp sei Dank!“ Die Frau gleichen Namens, die ein überragendes Spiel geliefert hat, war die Torschützin. Über 12 Millionen Zuschauer haben im Fernsehen das EM-Frauen-Halbfinale Deutschland gegen Frankreich gestern Abend verfolgt und damit den Sieg der deutschen Frauen über die nicht weniger guten Französinnen gesehen, hauchdünn, hart umkämpft. Damit haben die deutschen Frauen den Einzug ins Finale gegen England am Sonntag erreicht.
England-Deutschland, ein Klassiker, in Wembley. Das erinnert sofort an das Männer-Finale 1966 zwischen England und Deutschland, das die Engländer auch dank eines umstrittenen Tores, das keines war, gewannen. Das Bild des traurigen Uwe Seeler mit dem hängenden Kopf nach dem verlorenen Spiel wurde uns vor wenigen Tagen noch einmal bei Nachrufen auf den großen Hamburger Kicker „Uns Uwe“ gezeigt. Der ältere TV-Zuschauer und Fußballfan weiß noch, als Hans Tilkowski, der Torwart aus Herne, der beim BVB das Tor hütete, vergebens nach dem Ball hechtete, der gegen die Latte sprang. Der Kölner Abwehrspieler Wolfgang Weber köpfte dann den Ball übers Tor. Fernseh-Reporter Rudi Michel kommentierte in seiner ruhigen Art: Tor. Kein Tor. Tor. Ein Schweizer und ein russischer Schiedsrichter entschieden dann, dass der Ball angeblich hinter der Torlinie gewesen sein soll. Es folgte eine jahrelange Debatte, an der sich auch Naturwissenschaftler beteiligten, um herauszufinden, wer denn nun Recht gehabt hat. Eine alte Geschichte. Fußball- die schönste Nebensache der Welt.
Aber wer redet heute noch von Männer-Fußball? Die Liga hat Urlaub. Frauen-Fußball ist das Thema in allen Medien, der Rundfunk meldet den Sieg der deutschen Frauen über Frankreich an erster Stelle, die Zeitungen machen mit Bildern vom Spiel auf. Frauen-Fußball ist international und auf höchstem Niveau, längst kein gemütlicher Spaziergang mehr auf dem Rasen, sondern Athletik, Schnelligkeit, Kampf, Technik, auch Härte, bestes Kombinationsspiel. Wer die Tore der Engländerinnen zuletzt gesehen hat gegen die Schweden, darunter eins mit der Hacke erzielt, oder die beiden Buden von Alexandra Popp gegen Frankreich, der konnte nur staunen. Der Kopfballtreffer von Alexandra Popp im Stile von Uwe Seeler, toll. Wie sie sich in den Flankenball warf und diesen unhaltbar ins Netz köpfte. Oder wie sie die Hereingabe von rechts direkt verwandelte, nur einen Bruchteil vor ihrer englischen Gegnerin. Klasse! So schnell konnte die englische Torfrau ihre Fäuste nicht hochreißen, um den pfeilschnellen Ball noch abzuwehren. Oder nehmen wir den Ausgleichs-Treffer der Französinnen, ein Kracher, der gegen den Pfosten knallte und von dort der deutschen Torfrau in den Rücken und damit ins Tor. Unglücklich, aber so ist Fußball.
„Kein Schwein hat mit uns gerechnet“. So reagierte Alexandra Popp nach dem Sieg über die Franzosen, die kaum schwächer waren als ihre deutschen Gegnerinnen, aber nicht so effektiv, wie es in der Reportersprache heißt. Vielleicht auch nicht so glücklich. Glück gehört dazu, das weiß jeder, der mal gespielt hat. Ob Du den Ball volley triffst oder die Kugel dir knapp vom Fuß rutscht, das ist auch Können, aber da es um Millimeter geht, ist auch das Quäntchen Glück nötig, das ein Spiel entscheiden kann. Es war ein harter Kampf, die Französinnen schnürten die Deutschen minutenlang im eigenen Strafraum buchstäblich ein, ein Kopfball aus kürzester Entfernung wurde von der deutschen Torhüterin gerade noch abgewehrt, es ging drüber und drunter, und im Gegenzug stand eine deutsche Kickerin plötzlich frei vor dem Tor der Franzosen, aber sie schob den Ball vorbei. Fünf Minuten Nachspielzeit können für die einen lang, die anderen zu kurz werden. Dann der Pfiff, der alles beendete. Man warf sich auf den Boden, abgekämpft und glücklich, die Französinnen bestürzt, traurig, es hatte wieder nicht geklappt mit einem Titel. Die Deutschen Frauen dagegen sind wieder Spitze.
Deutschlands Fußball-Welt gerät ins Schwärmen über die Frauen und ihre Fußballkünste, die die La-Ola-Welle auslösen. Was mir neben dem wirklich tollen Fußballspiel besonders gefiel, war das Auftreten der Frauen-Kicker. Da gab es keine Rudelbildung, die ja schon typisch ist für die Männer-Spiele, kaum einer beschwerte sich über Entscheidungen der Schiedsrichterin. In mindestens zwei Fällen hätte ich gestern protestiert, als die französische Abwehrspielerin ihre deutsche Gegnerin zu Boden stieß. Das waren zwei klare Fouls. Die Frauen nahmen es hin und rannten weiter. Es wurde hart, aber zumeist fair gespielt. Und wenn jemand gefoult wurde, wälzte sich die am Boden liegende Kickerin nicht minutenlang hin und her, sie verzichtete auf das bei Männern übliche Theater.
Die Spannung steigt mit Blick auf das Endspiel im legendären Wembley-Stadion zu London, in dem am Sonntag ab 18 Uhr 90000 Zuschauer erwartet werden. Auch der Bundeskanzler Olaf Scholz wird dabei sein. Und viele werden zu Hause vor dem Bildschirm sitzen und die Daumen drücken oder sich versammeln auf öffentlichen Plätzen, wo auf Leinwänden das Spiel gezeigt wird. Natürlich hoffe ich, dass die deutschen Frauen gewinnen. Nein, ich bin im Sport nicht neutral.