Ein deutscher Bundespräsident lebt von der Kraft seiner Worte. Darin liegt seine eigentliche Kompetenz. Noch heute erinnert man sich gern an die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, als er im Deutschen Bundestag an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnerte und die Niederlage von Nazi-Deutschland durch die Alliierten als Befreiung würdigte. Recht hatte er, denn die Deutschen waren von den Amerikanern, den Franzosen, den Briten und den Russen von der NS-Diktatur befreit worden, sie hatten es nicht aus eigener Kraft geschafft.
Es passiert höchst selten, dass sich ein deutsches Staatsoberhaupt, in die Tagespolitik einmischt. Im Grunde erwartet man von ihm, dass er sich dort enthält. Aber ein Bundespräsident ist nun mal ein Staatsbürger, der eine eigene Meinung hat. Und im Falle des aktuellen Präsidenten Joachim Gauck fußt diese Meinung auf eigenen bitteren Erfahrungen in seinem Leben vor dem Fall der Mauer, als er in Rostock als evangelischer Pfarrer seinen Dienst versah und die SED am eigenen Leben kennen- und verachten lernte. Er lernte seine Heimat als Unrechtsstaat kennen, weil die einzige Partei, die drüben das Sagen hatte, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, ihren Bewohnern fast jede Freiheit, ja ihnen fast die Luft zum Atmen nahm. Es ist nicht verwunderlich, dass Joachim Gauck, um es zurückhaltend zu sagen, kein Freund der Partei „Die Linke“ ist, die aus der PDS hervorging, der Nachfolgepartei der SED.
Dies zu äußern, kann man dem Privatmann Gauck nicht verwehren. Aber gibt es den Privatmann Gauck, der ja Präsident aller Deutschen ist, wenn er sich öffentlich äußert, wenn er sich einmischt in Fragen der Tages- und der Parteipolitik? Immerhin läuft gerade die Abstimmung in der thüringischen SPD über die Möglichkeit einer rot-rot-grünen Koalition unter Führung eines Ministerpräsidenten der Linken, Bodo Ramelow. Er wäre der erste Linke, der als Regierungschef einem Lande vorstünde. Und das auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.
Andererseits, der Fall der Mauer liegt 25 Jahre zurück. Die „Linke“ ist eine andere Partei als die SED. Oder doch nicht so ganz? Sind nicht eine Reihe ihrer heutigen Mitglieder einstige SED-Genossen gewesen? Und sind sie es heute nicht mehr? Bodo Ramelow stammt aus dem Westen der Republik. Muss man nicht anerkennen, dass die Linke längst als demokratische Partei an Wahlen teilnimmt, dass sie mit der SPD schon einige Koalitionen in den Ländern geschlossen hat, dass sie in Berlin wie einst in Mecklenburg-Vorpommern mitregierte, in Brandenburg wieder dabei ist?
Das Bundesverfassungsgericht hat vor Jahresfrist die Beobachtung des Abgeordneten Ramelow durch den Verfassungsschutz untersagt. Begründung: Die Demokratie dürfe sich nicht gegen sich selbst richten. Will der Bundespräsident sich über Karlsruhe erheben?
Man muss die Linke gewiss nicht mögen, aber so langsam sollten wir die alten Feindbilder mal lassen. Die Deutschen sind in ihrer Mehrheit längst weiter, als diese Debatten deutlich machen, zumal wenn sie von Heuchlern aus dem Westen mitgeführt werden, die gern mit dem Zeigefinger auf die alten Kommunisten zeigen und dabei vergessen, dass drei Finger derselben Hand auf sie zurückweisen. Oder haben diese Leute völlig vergessen, wie wir im Westen das damals gehalten haben, als alles am Boden lag und nicht wenige alte Nazis wieder in Amt und Würden kamen, ohne sich je für ihr Verhalten während der Jahre der braunen Herrschaft verantwortet zu haben?
Die deutsche Einheit ist ein Prozess, der im Gange ist und längst nicht vollendet. Wenn er denn je vollendet sein kann. Ein Linker als Ministerpräsident von Thüringen wird gewiss nicht das Ende des Abendlandes oder das der Republik und nicht einmal das von Erfurt und Umgebung bedeuten. Zudem muss er erstmal gewählt werden. Und wenn das passiert ist, was schwierig genug sein wird, muss er mit einer einzigen Stimme Mehrheit regieren. Und wenn das den Menschen in Thüringen nicht gefällt, werden sie ihn in wenigen Jahren abwählen. Das ist ein demokratischer Prozess, der entschieden wird durch die Wählerinnen und Wähler und nicht durch ein umstrittenes Wort eines Präsidenten, der einst der Kandidat der Grünen und der SPD war und den die Kanzlerin und ihre Partei, die Union, erst erwählte, als der amtierende Präsident Wulff zurücktrat.