Da können die Mehrheitsverhältnisse noch so deutlich sein, da kann auch die Wertschätzung für den Amtsinhaber überragend, sein Ansehen in der Bevölkerung überwältigend sein: Reine Formsache ist die Wahl des Bundespräsidenten nie; auch die Wiederwahl von Frank-Walter Steinmeier für eine zweite – und damit zugleich letzte – Amtszeit war bei aller Vorhersehbarkeit des Ausgangs ein Festtag für die Demokratie.
Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen: Die Bundesversammlung kam nicht im Plenarsaal zusammen, sondern im Paul-Löbe-Haus. Das nach dem Reichstagspräsidenten der Weimarer Republik und Alterspräsidenten des ersten deutschen Bundestages benannte Funktionsgebäude musste im Innern aufwendig umgebaut werden, um die 1472 Mitglieder starke Versammlung unterzubringen; im Plenarsaal unter der Kuppel wäre das beim besten Willen nicht möglich gewesen – schon gar unter den geltenden Corona-Schutzregeln.
Denn mit dem im September gewählten bisher größten deutschen Parlament wuchs auch das Gremium zur Bundespräsidentenwahl auf Rekordgröße an. Die Wahl verlief dem strengen Reglement entsprechend steifer und bot auch weniger bunte Tupfer als früher die Prominenz aus den Ländern einbrachte. Für Begegnungen am Rande blieb schlicht weniger Raum. Immerhin war die Sache mit dem ersten Wahlgang entschieden.
Der richtige Mann zur richtigen Zeit im höchsten deutschen Amt: So lässt sich die zurückliegende Amtszeit von Frank-Walter Steinmeier in aller Kürze charakterisieren. Seine Auffassung von dem Amt, seine Herangehensweise an die Aufgabe, die Akzente, die er vom Schloss Bellevue aus gesetzt hat, passten zu den Krisen der Zeit. Und es gehört keine besondere Weitsicht dazu, solche präsidialen Tugenden auch für die kommenden fünf Jahre zu erwarten.
Ausgleichen, versöhnen und die Gesellschaft in der Mitte der Demokratie zusammenzuführen, sind Steinmeiers Bemühungen in Zeiten höchster Verunsicherung. Die Corona-Krise, der erstarkende Nationalismus und die bedrohlichen rechtsextremistischen Auswüchse stehen im Zentrum seiner Reden. Nicht die eine große Ansprache, sondern das beharrliche sich immer wieder zu Wort melden, zu mahnen und an die Verantwortung für das Gemeinsame zu erinnern, zeichnen die bisherige Amtsführung aus.
Mehr davon wird nötig sein, um in den nächsten Jahren die Gesellschaft vor neuen Rissen und die Demokratie vor ihren Feinden zu bewahren. Der Sozialdemokrat, der Politik in verschiedenen Regierungsämtern gemacht hat, hat in der überparteilichen Aufgabe seine Rolle gefunden. Sie lebt von der Macht des Wortes.
Sich in dem vielstimmigen, lauthalsen Geplapper unserer Tage Gehör zu verschaffen, gelingt nicht allein durch die Autorität des Amtes. Um unter all den modernen Marktschreiern und Beifall heischenden Populisten durchzudringen, muss ein Bundespräsident den richtigen Ton treffen, die wesentlichen Botschaften vermitteln und nah bei den Menschen sein. Steinmeier hat sich durch leises und nachdenkliches, aber auch geradliniges Auftreten Respekt verschafft.
Sein Image des bescheidenen und demütigen Staatsdieners bekam einen Riss, als er sich schon im vorigen Frühjahr selbst für eine zweite Amtszeit bewarb. Damals lagen die neuen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und die Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Olaf Scholz noch in weiter Ferne; die frühe Festlegung erwies sich für Steinmeier als weitsichtig, der Ampelkoalition machte sie zu schaffen. Die Grünen hätten mit Katrin Göring-Eckardt nach zwölf Männern gern die erste Frau ins Präsidentenamt gewählt; doch der Zug war mit dem Vorpreschen des beliebten Amtsinhabers abgefahren. Um nicht mit einer reinen Männerriege an der Staatsspitze dazustehen, gab es mit Bärbel Bas (SPD) eine Parlamentspräsidentin.
Ihr fiel nun die Aufgabe zu, die 17. Bundesversammlung zu eröffnen und zu leiten. Außerdem gab es ein Wiedersehen mit Altkanzlerin Angela Merkel, und unter den Nicht-Politikern fanden sich der Virologe Christian Drosten und die Biontech-Gründerin Özlem Türeci, etliche Pflegefachkräfte, Chemie-Nobelpreisträger Benjamin List, Astronaut Alexander Gerst, Fußballer wie Nationaltrainer Hansi Flick und SC-Freiburg-Coach Christian Streich, Nationalspieler Leon Goretzka von Bayern München, der Pianist Igor Levit, die Schriftsteller Saša Stanišić und Gaby Hauptmann, der Schlagersänger Roland Kaiser, die Schauspielerinnen Renan Demirkan und Sibel Kekilli und der Entertainer Bernd Stelter.
Alle mit medizinischer FFP-Maske und alle aktuell getestet. Nur so durften die Delegierten das Paul-Löbe-Haus betreten. Auch jene natürlich, die für Steinmeiers Gegenkandidaten stimmten, den von der Linkspartei nominierten Arzt Gerhard Trabert, die von den Freien Wählern aufgestellte Physikerin Stefanie Gebauer und den von der AfD benannten Chef der „Werteunion“, Max Otte. Letzterer eine Provokation von Rechtsaußen, die Schindluder mit der Demokratie treibt und nicht einmal vor dem Amt des Bundespräsidenten halt macht. Es wird zu den vordringlichen Aufgaben in Steinmeiers zweiter Amtszeit gehören, Angriffe auf die Demokratie abzuwehren.
Bildquelle: Bundespräsidialamt/Steffen Kugler