Kurt Drawert wuchs in der DDR auf. Ich lernte ihn auf einer Lyrik-Tagung kennen, auf der er einige seiner Gedichte vortrug. Seinen Texten merkte man an: das ist ein Autor, der etwas zu verarbeiten hat; der Verletzungen erlitten hat, die nicht verheilt sind; der ein Ventil sucht für die Demütigungen und Zurichtungen, denen er in seiner bisherigen Lebensgeschichte ausgeliefert war. Man spürte ständig sein Ringen um Orientierung. Der Autor kam mir vor wie ein Suchender, der zu wissen scheint, dass er nicht findet, wonach er sucht.
Wir unterhielten uns mehrere Male kurz. Hätten wir mehr Zeit gehabt, hätten wir vielleicht das folgende Gespräch geführt. Da ich wusste, dass er in der DDR aufgewachsen war, fragte ich ihn danach.
Ja, mein Erfahrungsraum ist der Osten Deutschlands. Dort habe ich meine Kindheit erlebt; unter der geistigen Enge gelitten und versucht, den Zumutungen von Elternhaus, Schule und Behörden zu widerstehen. Seither bin ich dabei, diese Erfahrungen abzustreifen und sie möglichst vergessen zu machen. Das Schreiben soll mir dabei helfen.
In Ihrem Prosatext ‚Spiegelland’ haben Sie die Erfahrungen Ihrer Kindheit und Jugend reflektiert. Es sind Zeugnisse des (Selbst)Hasses und eine einzige Anklage – insbesondere adressiert an den regimetreuen Vater, der seinem Sohn ohne jedes Verständnis begegnet und an eine soziale Umgebung, die in einer Mixtur aus Anpassung und Gleichgültigkeit die Existenz des Heranwachsenden bedroht.
Zeitweilig habe ich an Selbstmord gedacht – diesen Entschluss dann aber immer wieder hinaus geschoben. Wenigstens zwanzig Jahre alt wollte ich werden. Bis dahin galt es, zu überleben, indem man sich möglichst selbst verleugnete und unsichtbar machte.
In meinem Text heißt es:
‚Ich kann jede Stadt und jede Landschaft und jede Herkunft entschieden verlassen, denn ich verlasse immer eine Fremde und tausche sie aus gegen eine andere, unbekanntere Fremde, ich verlasse eine Stadt oder eine Landschaft oder eine Herkunft in dem Gefühl, einen Zusammenhang mit ihr leugnen zu müssen. Man musste immer wieder die Dinge verlassen, die man um sich aufgebaut hat. Man musste das Bild verlassen, das sich die anderen von einem machen und dem man aus Gewohnheit entspricht’.
Alles abbrechen, ein anderer werden – das ist leicht gesagt, zumal, wenn einem auch die Sprache abhanden gekommen ist. Wenn die Sprache ihre Eindeutigkeit eingebüßt hat und die Begriffe das nicht hergeben, was sie verheißen. Dann werden sie zur nackten Hülse; wieder und wieder gebraucht, wiederholt, gedankenlos dahergesagt, ohne dass auch nur nach ihrem Sinn gefragt würde. Für einen Heranwachsenden, der hinreichend sensibel ist, gibt es keinen Ausweg, keine Alternative. Alles ist verbaut. Hat er die Wirklichkeit so weit durchschaut, dass ihm alles nur noch als Lug und Trug erscheint, bleibt nur eine Art innerer Emigration, Verbitterung, Verzweiflung’.
Ich muss der allereinsamste Mensch gewesen sein, der nur noch ins Verkommen und ins Nichtstun geraten wollte. Ich befand mich in einer schier unerträglichen, geisttötenden und sterbenslangweiligen Ausbildung, mit ihren Zwängen und Verlogenheiten und Anpassungsritualen. Immer wieder nahm ich mir vor, abzubrechen und umzukehren, wenn ich an der beleuchteten Aufschrift „Der Sozialismus siegt“ vorbei über die Straße in die Lehranstalt lief. Diese sogenannte Lehranstalt ist eine Verhinderungsinstanz des Denkens gewesen, die aber auch jeden Ansatz von Individualität, wo immer sie möglich war, zerstörte. Zu denken war etwas Feindliches und Absonderliches und ganz und gar Schädliches, das auf verbotene Lektüre schließen ließ und bekämpft werden musste mit allen Mitteln der proletarischen Diktatur.
Und dann kam das Jahr 1989. Wie haben Sie die Zeit erlebt? Hatten Sie persönlich die Hoffnung auf Besserung?
Nur für kurze, sehr kurze Zeit konnte man hoffen, dass dieses abgestandene und heruntergekommene, kleine deutsche Land im Osten etwas hervorbringen könnte, was allein unserer Idee von einem ‚besseren Leben’ entsprungen war. Es war die Hoffnung darauf, dass die Menschen einen Sinn in sich haben, dessen Text sie nur noch nicht kannten und dessen Sprache sie nur noch nicht zu sprechen gelernt hatten. Gleichwohl sind sie auf die Straße gegangen, zu Hunderttausenden, selbst auf die Gefahr hin, zu sterben. Sie sind auf die Straße gegangen, weil sie den Sinn in sich wahrgenommen haben und auf der Suche nach einer Sprache für diesen waren. Auf der Suche nach einem Diskurs, der die bekannten Diskurse verlässt, die Diskurse der Unterwerfung. Ich glaubte in diesen Tagen an die Anwesenheit einer Würde, die noch nicht Sprache und noch nicht Text geworden ist, aber bereits ahnbar als Sinn, der uns alle mit einander verband.
Die Zeit der Illusion währte nur kurz. Ich musste feststellen, dass es nicht gelang, eine neue Sprache zu kreieren, die Begriffe zu klären, ihnen neue Bedeutungen zu geben. Die Sprache blieb dem System der Unterwerfung verhaftet. So war diese Revolution von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Das Beeindruckende an Ihren Texten ist, dass sie keine abstrakten Erörterungen bleiben. Vielmehr versuchen Sie, die individuellen Voraussetzungen der historischen Umwälzung in den Blick zu nehmen. Wenn man so will: den ‚subjektiven Faktor’. Dabei wird klar, dass ein Sozialisationsprozess, der auf Anpassung und Unterwerfung beruhte, nicht einfach abgestreift werden kann, auch nicht in Phasen revolutionärer Veränderung.
Ich habe versucht, durch lebensgeschichtliche Rückblenden den Grad individueller ‚Entfremdung’ aufzuzeigen. Deutlich wird dabei, so hoffe ich jedenfalls, dass das aus der Notwehr geborene, aus Verweigerung und Abkehr bestehende Verhalten der Menschen bei weitem nicht ausreichte, um sich selbst, geschweige denn die Gesellschaft zu verändern. Zu tief haben sich die Spuren der Erziehung im alten System eingegraben.
Sie sind dann in den Westen gegangen, mussten aber die Erfahrung machen, dass sich auch hier für einen Schriftsteller, der noch wenig bekannt war, kaum Perspektiven anboten. Die Übersiedelung in den Westen brachte neue Probleme mit sich. Vereinfacht könnte man sagen: An die Stelle des Mangels und der Enge trat nunmehr die Überflutung mit den Reizen der Konsumwelt.
Der Reiz des Neuen war schnell verflogen. Ich sah mir die banalsten Filme an, fingerte in den allerdümmsten Zeitschriften herum, verbrachte die Tage in finsterster Geistlosigkeit und Leere und gab die letzten Ersparnisse aus, die ich mir mit meiner Schreibarbeit mühsam beschafft hatte. Ich ließ mich fallen und verführen. Ich schaltete, gesunken und entleert, wie ich geworden war, sofort mit dem Erwachen den Fernseher an und döste bis zum Frühstück in die jeweilige vollkommen geistlose Sendung hinein, und dieses Hineindösen nannte ich ‚motivierendes Wachwerden’. Ganz im Ernst, ich wollte motiviert und produktiv, informiert und umsichtig in den Tag kommen. Eine Werbesendung lief, schön, all diese Neuheiten und Perfektionen, die die Neuheiten und Perfektionen von gestern um ein Detail übertrafen, man kann ja immer am Laufen und Bestellen und Anziehen und Wegwerfen sein, in Gedanken ging ich meinen letzten Kontoauszug durch, es war ein Tag wie alle anderen, aber dann merkte ich es irgendwann gar nicht mehr.
Ich blieb im Bett, solange es irgendwie ging, und schlief, solange ich konnte. Oder ich lag wach und schaute an die Zimmerdecke und dachte darüber nach, für was sich das Aufstehen lohnen würde. Sobald ich nachzudenken begann, war ich sehr um Objektivität bemüht, mit der ich die Vor- und Nachteile des Aufstehens zu erwägen versuchte. Aber was ich herausfand, waren immer nur jede Menge Nachteile. In dem Schlafzimmer, das ich gleichzeitig als Arbeitszimmer nutzte, geschah tatsächlich nichts, es war ein mit Geistesprodukten angefüllter, indessen vollkommen leerer Raum geworden, den ich bald schon ehrlicherweise ‚Nichtstunraum’ nannte und in dem ich oft stundenlang fast unbeweglich und gedankenlos saß.
Es gelang mir lange nicht, auch nur einen niederschriftsreifen, brauchbaren Satz zu produzieren. Ich ging in verschiedene Cafés, aber diese waren dann entweder zu laut oder zu dunkel oder sonst wie unpassend. All das hinderte mich, das hervorzubringen, was ich mir als Tagespensum vorgenommen hatte: Die Würde eines einzigen, gültigen, brauchbaren Satzes hervorzubringen.
Die Begriffe gaben nicht her, was sie verhießen. Die Freiheitsversprechen erwiesen sich als leer und hohl. Es gelang mir nicht, eine Sprache für die neue Wirklichkeit zu finden. Alles schien verkehrt und blockiert; ich empfand die Wirklichkeit als ‚unaussprechbar’ – als etwas der Sprache vollkommen Jenseitiges.
Ich verstand diese ganze Begriffswelt nicht. Ich verstand gar nichts. Ich war vor lauter Aufklärungsmaterial vollkommen desorientiert, alle Werbe-, Informations- und Gesetzesbroschüren, die in hohen und nicht mehr zu ordnenden Stößen meinen Schreibtisch füllten, waren mir eine einzige Desorientierung. Ich verstand alles falsch, füllte alles falsch aus, stand an den falschen Schaltern, sprach mit den falschen Leuten, stellte falsche Fragen und gab falsche Antworten.
Meine totale Desorientierung infolge des Bedeutungsverlustes der Begriffe führte zu psychosomatischen Störungen, denen mit herkömmlichen medizinischen Therapien nicht beizukommen war. Die Ärzte empfahlen einen gesünderen Lebenswandel durch Sport und Bewegung. Verboten das Rauchen und Trinken. Kurzum: sie verstanden die Ursachen meines Leidens nicht.
In meiner Verzweiflung kehrte ich an den Ort meiner Herkunft im Osten zurück und hoffte darauf, eine vertraute Umgebung vorzufinden, die mich zur Ruhe kommen ließ. Aber was ich vorfand, war eine öde, zerrissene Landschaft, die voll war von toter oder sterbender Gesellschaft, voll von toter oder sterbender Sprache, die von einer anderen toten oder sterbenden Sprache ersetzt worden war.
Wo vorher Losungen standen, gab es jetzt hastig hin geklebte Reklameschilder. Überall Frittenbuden, Plunderkisten, Billigartikel, vergoldeter Ramsch, Prostituierte, Autowracks, ohne Nummernschild, in Seitenstraßen gestellt, als wären sie schon wieder Vergangenheit; provisorische Zeltunterkünfte für Banken, Firmen und Warenketten; um mich her schien es nur noch Idioten, Spekulanten und Verbrecher zu geben.
So sah sie aus, die ‚Anschlussgesellschaft’ nach der sogenannten deutschen Wiedervereinigung. Die vormalige Ödnis wurde durch eine neue ersetzt. Die alte Fremdheit durch die neue. Nirgendwo ein Ort, der einen heimisch werden ließ. Denn zusätzlich zu den neuen Umständen, die mir weitgehend unverständlich blieben, weil ich noch keine Sprache für sie gefunden hatte, krauchten einen die alten Erinnerungen wieder an, so dass der Versuch, neue, brauchbare Sätze hervorzubringen, zu scheitern drohte.
Ich war in eine Stadt zurückgekommen, die nur aus kranken Räumen bestand, ich kam in kranke Räume zurück, in denen mir nicht nur das Schreiben und Lesen, sondern auch das Sprechen und Hören unmöglich geworden war. Kranke Räume können nur Stummheit hervorbringen oder kranke Gedanken, in ihnen erscheint alles als nutzlos, unverständlich oder verlogen.
Sie sind dann in den Westen zurück gekehrt und aus dem drohenden persönlichen Scheitern wurde ein ‚Nachdenken über deutsche Zustände’. Wie ist es Ihnen schließlich gelungen, darüber ein ganzes Buch zu schreiben?
Das Schreiben ist ja eine absichtsvolle Handlung, und ich kam mir zunächst maßlos arrogant vor, so dass ich, um es einmal ganz plastisch zu formulieren, vor lauter plötzlich empfundener Scham beinahe über meine eigenen Füße gestürzt wäre. Dieses ganze selbstbedeutsame Buchgeschreibe und Perspektivgetue schien mir ein Anfall von ‚Intelligenzeitelkeit’ zu sein. Ich lief Gefahr, der Krankheit, der ich zu entkommen dachte, erneut zu verfallen.
Ihr Text ‚Spiegelland’ liest sich für mich wie das Protokoll eines zutiefst entfremdeten Lebens, denn der Gegenstand ist die Welt der Väter; es ist die Sprache eines beschädigten Lebens. Erst allmählich, so schien mir, gelang es Ihnen dann, sich davon zu befreien und eine eigene Sicht auf die Dinge zu entwickeln.
Das überraschte mich selbst am meisten. Sobald ich ins Erzählen geriet und meine Geschichte, um sie zu verstehen, in die Vergangenheit versetzte, kam mir eine zweite und dennoch zu mir gehörende Person wie aus der Zukunft entgegen und forderte mich auf, eine andere Wirklichkeit zu übernehmen, vor der die erfahrene Wirklichkeit sich auszulöschen schien.
Um überhaupt wieder ins Schreiben zu kommen, brach ich den Versuch ab, nach einer neuen Sprache für meine Geschichte am anderen Ende der Wirklichkeit zu suchen. Ich schrieb einfach drauflos; wie man so schön sagt: ‚Ich schrieb mir alles von der Seele’. Ich schrieb mich gewissermaßen ‚frei’, vor allem in meinen Gedichten. In ihnen konnte ich meine Gefühle, Zweifel, Ängste und Hoffnungen äußern, ohne für all das stimmige oder gar letzte Erklärungen liefern zu müssen.
Eine Fortsetzung erfuhrt dieser Vorgang erst wieder in meinem Roman ‚Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte’. Ich brauchte diese zeitliche Distanz, um das Inferno der von einer Diktatur Zermalmten zu schildern. Ich konstruierte eine fiktive Unterwelt aus Höhlen und Röhren, von wo aus die Verdammten, an sinnlosen Maschinen hantierend, hoffnungslose Botschaften nach oben senden. Ich wechselte öfter die Perspektive: mal schilderte ich den Dialog der Entrechteten; dann berichtete ich von deren Elend und wechselt hin und wieder zum Ich. Hätte ich schon früher eine Sprache für all das gehabt, wäre mir Vieles erspart geblieben. So zeichnete ich gewissermaßen ‚eine Spur des Verschwindens’ nach.
Es scheint, dass Sie auch weiterhin nach einer geeigneten Sprache suchen werden, um zu verstehen, was Ihnen lebensgeschichtlich widerfahren ist?
Auf jeden Fall harren die Fragen einer Antwort. Ob es möglich ist, sie mit Hilfe der Literatur zu beantworten, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden.