War es das wert, Herr Merz, diese Frage stellte ich mir, nachdem ich einige Stunden der Bundestagsdebatte zugehört hatte? War es wirklich nötig, den gemeinsamen Weg der Demokraten der Mitte zu verlassen, um bei den Rechten die nötigen Stimmen zu holen? Musste das sein, dass diese AfD, die nicht nur meiner Meinung nach nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht, sich gebauchpinselt gefühlt haben muss, weil sich stundenlang im Hohen Haus fast alles um sie drehte? Weil die AfD Geflüchtete rausschmeißen will, die Grenzen schließen, scharfe Kontrollen, Europa-Recht spielt ja für diese Partei eh keine Rolle, sie will ja raus der EU wie übrigens auch aus der NATO. Remigration nennt das diese Partei, die NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst „Nazi-Partei“ genannt hat, der aber dann, so hörte ich ihn vor Tagen, nicht den Mut aufbrachte, seinem Parteichef und Kanzlerkandidaten zu widersprechen, dass er hier, in diesem Punkt, falsch liege. Solidarität im Wahlkampf, der Kanzlerkandidat hat immer Recht, damit es keine Streitereien gibt wie damals zwischen Laschet und Söder?
Grenzen schließen, Geflüchtete an den Grenzen abweisen usw. Wen wundert es, dass die AfD im Bundestag durch ihre Vorsitzende der Union vorwerfen ließ, sie habe das alles kopiert, abgeschrieben bei der AfD? Eine historische Debatte? Den Begriff bemühten viele der Rednerinnen und Redner. Richtig daran ist, dass es wohl das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik war und ist, dass eine demokratische Partei wie die CDU/CSU eine Mehrheit im Bundestag notfalls auch mit der AfD akzeptiert, ja sogar es ausgesprochen hat in der Debatte. Damit verändert sie das politische Klima im Lande, weil sie die Verfassungsfeinde salonfähig macht. Warum sollte sie später nicht erneut mit der AfD eine Mehrheit in anderen Fragen anstreben, wenn die möglichen Koalitionspartner Grüne und SPD nicht mitspielen? So ist das, Herr Merz, wenn man ins Risiko geht und die Grenzen des Umgangs miteinander und der politischen Kultur überhaupt überschreitet.
Friedrich Merz hat eine Mehrheit für seine umstrittenen Migrationsanträge im Deutschen Bundestag seit Tagen auch mit der AfD gesucht. Er hat es zugelassen, dass die AfD ihm eine Mehrheit verschaffen soll. Ich dachte bisher immer, die Union, die SPD, die Grünen, die FDP sind politische Gegner, aber Demokraten, die AfD hielte und halte ich für Verfassungsfeinde. Deshalb ja auch die Debatte über ein Verbot der AfD. Mit den Feinden des Staates mach ich doch keine Gesetze, treffe ich keine Übereinkunft. Allein deren Haltung zur Migration ist zutiefst fremdenfeindlich. Die Würde des Menschen ist im Grundgesetz verankert, Artikel 1. Ungeachtet der Kritik an Merz durch die SPD und die Grünen, ungeachtet der Brandbriefe beider Kirchen, in denen sie ob dieser Politik von Merz Alarm schlugen und sich befremdlich äußerten hat der Christdemokrat an seinen Plänen festgehalten. Eine andere Migrationspolitik, national ausgelegt, ohne Rücksicht auf Europa und die Befindlichkeiten der Nachbarn. Ich, Friedrich Merz, entscheide.
Die AfD konnte sich aufgewertet fühlen. Durch die Wende von Friedrich Merz. Dabei hatte der Kanzlerkandidat der Union noch vor wenigen Wochen der AfD bescheinigt, sie sei ausländerfeindlich, antisemitisch, führe Radikale und Kriminelle in ihren Reihen, sie sei ein Freund von Putin und wolle aus der EU und der Nato. Und derselbe Merz hatte mit breiter Brust in den ARD-Tagesthemen im Interview mit Jessy Wellmer getönt: „wir würden die Seele der CDU verkaufen“, wenn wir gemeinsame Sache „mit denen“ machten. Einmal 33 reicht, hatte er noch gesagt, als die Fernseh-Moderatorin ihn auf Österreich ansprach und den rasanten Meinungswechsel der ÖVP und den möglichen künftigen Kanzler Kickl, der nun wirklich kein Muster-Demokrat ist, sondern eher autokratisch ausgelegt, fremdenfeindlich. Sein Schicksal als Parteivorsitzender der CDU wollte Herr Merz daran knüpfen, er werde sein Wort halten, nach der Wahl nicht mit der AfD zusammen zuarbeiten. Mehr geht kaum. Und jetzt das.
Historischer Tag
Nein, Herr Merz, sie sind falsch abgebogen, sagt man wohl neudeutsch, in die ultrarechte Ecke. Sie wollten ihre Ideen durchpeitschen, egal wie, egal mit wem, wer Ihnen folgen wolle, solle das tun, wer nicht, solle es bleiben lassen. Sie wussten genau, dass Grüne und SPD Ihnen niemals folgen würden, weil Sie sich verirrt haben. Grenzen dicht und keinen mehr reinlassen, der nicht über die nötigen Papiere verfüge. Das ist eindeutig gegen europäisches Recht gerichtet. Damit verprellen Sie ihre/unsere europäischen Nachbarn. Und Sie werten die AfD auf, das mit der Brandmauer können wir also vergessen, fast genau 93 Jahre nach dem Ermächtigungsgesetz. Axel Hegmann, ein früherer Mitarbeiter des großen Kabarettisten Dieter Hildebrandt, hat daran erinnert. Es war und ist wahrlich ein historischer Tag im Deutschen Bundestag.
Bundeskanzler Olaf Scholz stellte u.a. das Grundrecht auf Asyl heraus. Ja, das ist wichtig. Politisch Verfolgte müssen weiter bei uns Zuflucht suchen können. Und sich sicher fühlen. Die Abschiebedebatte wird sie mitnehmen. Kein Flüchtling verlässt doch mir nichts dir nichts seine Heimat, er flieht, weil er verfolgt, bedrängt wird, um sich und seine Familie sich sorgt. Und sie müssen sich das alles anhören von den AfD-Mitgliedern, die sie rausschmeißen wollen. Allein die Tonart ist menschenfeindlich. Die AfD ist keine demokratische Partei.
Und sage niemand, er sei nicht gewarnt geworden. Wir führen diese Debatte seit Monaten. Gestern war es Rolf Mützenich. Wenn ein seriöser und hoch angesehener Mann wie der SPD-Fraktionschef dem Oppositionschef Friedrich Merz wegen seiner Asyl- und Migrationspläne „Wortbruch“ vorwirft, hätte Merz aufhorchen müssen. Mit wem will, kann der Kanzlerkandidat der Union nach der Bundestagswahl denn noch koalieren, wenn sogar einer wie Mützenich ihm die Glaubwürdigkeit abspricht. Er habe im Herbst nach dem Bruch der Ampel-Regierung mit Merz vereinbart, dass keine Anträge in den Bundestag eingebracht würden, bei denen man auf die Stimmen der AfD angewiesen sei. „Ich habe mich auf dieses Wort verlassen“, betonte der Kölner Sozialdemokrat, irgendwo zwischen erbost und enttäuscht. „Das ist keine lässliche Sünde“, greift Mützenich auf ein Vokabular der katholischen Kirche zurück. Das ist es gewiss nicht, zumal in diesen Tagen, da man weltweit an den 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee erinnert. Und an dem Tag, da der Bundestag über die Anträge der Union diskutieren und entscheiden will, gedenken die Abgeordneten im Reichstag in einer Gedenkstunde der Verbrechen der Nazis gegen die Juden, hält ein jüdischer Überlebender namens Roman Schwarzman aus Odessa eine nachdenkliche Rede. (Hitler wollte mich vernichten, weil ich Jude bin, Putin will mich vernichten, weil ich Ukrainer bin“)
Diese Woche könnte sich, mahnte und warnte Mützenich, tief in das parlamentarische Gedächtnis, wenn nicht sogar in das Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland eingraben. Als Sündenfall, als Anfang vom Ende, weil man die Verfassungsfeinde der AfD hoffähig gemacht hat. Durch Merz, die Union. Die Kritik von den Bischöfen beider Kirchen konnte Merz nicht umstimmen. Er hat sich verrannt. Gilt das Wort des CDU-Chefs nicht mehr, das er gegeben hatte schon im letzten Herbst im Bundestag und vor wenigen Tagen in den Tagesthemen der ARD im Interview mit Jessy Wellmer? Hat Merz, wie Mützenich weiter kritisch anmerkt, gezeigt, dass er nicht Kanzler der Bundesrepublik werden könne, weil er das Zeug dafür nicht habe, eben Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit, Standfestigkeit?
Debatte um Grundsätzliches
Es war eine Debatte um Grundsätzliches, wie der Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck betonte. Es ging und geht in der Zukunft immer auch um die Demokratie, die Demokraten braucht, die für sie eintreten. Und da macht man eben kein Spiel mit Anträgen, die den Rechten Spielräume einräumen, die man ihnen nie geben darf. Man lässt sie nicht ins Zimmer, weil man sie nie wieder los wird. Recht brechen um Recht zu verändern, nannte Habeck die Pläne der Union. Und er warf Merz vor, sich nie um eine andere Mehrheit bemüht zu haben.
Etwas, das auch später SPD-Chef Lars Klingbeil dem CDU-Frontmann vorhielt. Klingbeil könnte nach der Wahl der Politiker sein, mit dem Merz über eine mögliche Koalition verhandeln muss. Ähnliches gilt für Habeck, falls Schwarz-Grün gewollt und möglich ist. Immer wieder hörte man aus der Debatte heraus den Appell an Merz, bitte an die Gemeinsamkeiten der Demokraten zu denken und weniger an die Parteipolitik und den laufenden Wahlkampf. Wollen Sie wirklich, so war zu vernehmen an die Adresse des CDU-Chefs und möglichen Kanzlers, für ein paar lumpige Prozent Stimmen mehr die politische Kultur beschädigen?
Für die Bundesländer äußerte sich die Ministerpräsidentin des Saarlandes, Anke Rehlinger(SPD). Sie erinnerte an die vielen parteiübergreifenden Kompromisse in der Runde der Ministerpräsidenten, wo eben Leute der CDU, der CSU, der SPD, der Grünen und zuletzt auch der Linken vertreten waren und es immer wieder zu Verständigungen gekommen sei. Auch von dieser Seite der Appell zur Gemeinsamkeit und die Mahnung und Warnung, nicht die Seite der Demokraten zu wechseln, um dann gemeinsame Sache mit den Feinden der Demokratie zu suchen. Einer wie Christian Lindner von der FDP arbeitete sich in der Debatte mehr an den Grünen und der SPD ab, da hängt bei ihm wohl noch einiges in den Kleidern aus den Ampel-Jahren. Nur soviel Herr Lindner, das nimmt Ihnen kaum einer ab, dass es nur die Grünen vor allem und die Sozialdemokraten waren, die besseres Regieren verhindert hätten, so auch in der Migrationspolitik.
Tabu- und Dammbruch, der Scheideweg, an dem die Politik stehe, die Brandmauer, die ins Wanken komme, die Gemeinsamkeit der Demokraten. Die Fragen der Migration berühren viele Menschen, vor allem, wenn Integration nicht gelingt. Dass es daran hapert, steht außer Frage. Dass wir mehr Lenkung und Kontrolle benötigen, damit die Menschen nicht überfordert werden, mehr Ordnung, ohne den Boden der Humanität, der Menschlichkeit, der Solidarität mit den Geflüchteten zu verlassen, das ist es, was nötig ist. Die Rechten, die Feinde der Verfassung und dieses Staates, der im Gegensatz von Frau Weidel nicht am Boden liegt, dürfen bei Wahlen nicht noch stärker werden und sie dürfen vor allem nie die Macht im Staate bekommen. So sagte es Anke Rehlinger, sie verband das erneut mit einem Appell an Merz und die CDU: Die ausgestreckte Hand bleibt ausgestreckt, damit die Demokraten Kompromisse erzielen anstatt auf die Falschen zuzugehen.
Nachtrag: Mit den Stimmen der AfD wurde der Antrag der CDU/CSU zur Migration angenommen. Jubel und Umarmungen bei der AfD, Schweigen bei der Union, Schämt-Euch-Rufe aus den Reihen der SPD Richtung Merz und CDU/CSU.
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