Am 4. Juli 2014 – genau 60 Jahre nach dem 3:2 Sieg der von Fritz Walter angeführten deutschen Nationalelf gegen das scheinbar unbesiegbare ungarische Wunderteam um Ferenc Puskas im Berner Wankdorfstadion- stand eine knappe Meldung im Netz, die mich noch mehr bewegte, als das anschliessende 1:0 unserer Elf gegen die bärenstarken Franzosen an diesem Tag:
Die beiden Söhne von Helmut Rahn geben den linken Fußballschuh ihres Vaters, mit dem er in Bern den Siegtreffer schoss, als Dauerleihgabe an das künftige Fußballmuseum in Dortmund. Diese Meldung erinnert mitten im aktuellen WM-Fieber an mitreißende Fußballgeschichte und an das wohl wichtigste Tor des deutschen Fußballs. Der Schütze, auch „Boss“ genannt, war Vollblutstürmer und Enfant Terrible zugleich.
Dieser Helmut Rahn macht einem den Wandel des Fußballs als einen faszinierenden Sport bewusst, der heute eine ganz andere Welt ist und seine volle ökonomische Macht und Pracht nicht nur bei der WM in Brasilien entfaltet.
Rahn spielte als Bergmannssohn seit 1951 in seiner Heimatstadt für Rot-Weiss-Essen und gewann mit dem Traditionsklub 1953 sogar den DFB-Pokal. Doch der genauso legendäre, wie kauzige Stratege Sepp Herberger, der ihn durchaus als offensiven Draufgänger schätzte und ihn mit seinem Spitznamen „Boss“ fast väterlich-liebevoll ansprach, setzte ihn erst in der WM-Endrunde 1954 in der Schweiz ein, weil er seiner persönlichen Disziplin zurecht nicht ganz traute.
Der „Boss“ war wohl auch deshalb kein Stammspieler, überzeugte ihn aber dann trotz eines nächtlich-feuchten Ausflugs durch seine Schusskraft auf dem Spielfeld so, dass er in der Endrunde dann doch noch voll auf ihn setzte.. Und Helmut Rahn rechtfertigte das Vertrauen des „Chefs“ nach einem 0:2 Rückstand nicht nur mit dem zweiten deutschen Tor nach dem Treffer von Maxl Morlock, sondern auch mit dem Siegtor in der 84. Minute.
Ein Tor, das ihn unsterblich machte: Jeder, der damals am 4.Juli 1954 die Radioreportage vom Endspiel in Bern gehört hat oder in den nächsten Jahrzehnten die unzähligen Wiederholungen dieser Reportage im Fernsehen verfolgt hat, kennt heute noch die sich überschlagende Rundfunkreportage von Herbert Zimmermann auswendig: „ Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt! Toooor, Toooor Toooor…………………………………….“.
Alle Spieler der Deutschen WM-Elf wurden die „Helden von Bern“, natürlich zuvorderst der genial umsichtige Kapitän und Spielmacher Fritz Walter. Aber „Boss“ Rahn wurde durch seinen Schuss mit dem linken „Spann“ der unsterbliche Matchwinner. Er hat mit seinem linken Schuh, den „Adi“ Dassler als Weltneuheit mit Schraubstollen konstruiert hatte, wahre Glücksgefühle ausgelöst. Und das in einem Volk, das erst begann, sich ernsthaft mit der Schuld und Schande der Verbrechen des sogenannten 3. Reiches konsequent auseinander zu setzen. Auch das schon spürbare Wirtschaftswunder änderte ja nichts an der ungeheuren historischen Verantwortung und sehr berechtigten Bedrücktheit einer noch jungen BRD.
Bern war ein sportliches Wunder, erreicht von dem fußballerischen Außenseiter Deutschland gegen ein anscheinend unbezwingbares ungarisches Starensemble, das jahrelang ungeschlagen war. Das ganze Land war im Freudentaumel und konnte auf ein solche sportliche Sensation stolz sein . Es handelte sich hier zwar um eine Fussball-WM und eine von niemand erwartete internationale sportliche Überraschung, aber sicher auch um ein wichtiges gesellschaftliches Identifikationserlebnis der noch sehr fragilen Bundesrepublik.
Helmut Rahn hat unbestreitbar das wichtigste Tor in der deutschen Fußballgeschichte geschossen und war ein ständig umringter Star der 50er Jahre. Doch trotz seiner auch anschließend herausragenden Leistungen in den Stadien, 1955 deutscher Meister mit Rot-Weiß-Essen, holten ihn immer wieder seine zu große Lebensfreude, aber auch die Probleme seiner Eskapaden ein. Dennoch wurde er auch danach selbst bei der WM in Schweden 1958 zu Europas zweitbestem Spieler gewählt.
Rahn wurde so zum großen tragischen Helden des deutschen Fußballs: Als Enfant Terrible außerhalb des Spielfelds sorgte er verlässlich für negative Schlagzeilen, die keine gute Grundlage für seine berufliche Perspektive nach der aktiven Zeit auf dem Spielfeld waren. Seine trotz Übergewichts noch respektable Leistung beim Start der Bundesliga 1963 für die Zebras vom Meidericher SV ging deshalb nahtlos in einen wenig erfolgreichen Berufsweg über. Nach seinen immer noch populären und auch sportlich beeindruckenden Einsätzen bei vielen Benefizspielen in den 70er Jahren zog er sich immer mehr zurück und war dann zum Schluss nur noch in der „Friesenstube“, seiner Essener Stammkneipe, zu sehen und zu sprechen, natürlich auch immer wieder aufgrund ständiger Nachfrage zum 3. Tor in Bern. Helmut Rahn starb am 14.08 .2003 in seiner Heimatstadt Essen.
As time goes by. Der deutsche Fußball war in Rahns Zeit für Vertrags- und später Berufsspieler im Vergleich zu heute ein ungleich mageres Feld. Keine Millionenverträge, keine Spielerberater, keine Anlage – und Werbeberater und auch keine professionelle Unterstützung für Presse und PR-Arbeit. Und auch nach der aktiven Karriere keine attraktiven Angebote, im Fernsehen als Experte zu kommentieren oder als Trainer, Manager bzw. Vorstand in Vereinen des Berufsfußballs zu arbeiten, in die nicht nur die Milliarden für Fernsehrechte fliessen. Trotz einiger bescheidener Ausnahmen wie Fritz Walter oder Uwe Seeler war die berufliche Endstation großer Fußballheroen damals höchstens Betreiber eines Toto-Lotto-Ladens, einer Tankstelle oder Busbetriebs. Und das war schon Spitze! Die meisten früheren Fußballasse mussten sich mit weniger abfinden und selbst grosse Stars stürzten nicht nur beruflich ab: Sie schafften nicht den Umstieg in eine zweite Karriere. Bei einigen Helden von Bern war der Fall deshalb sehr tief.
Wenn wir heute die WM von der Copacabana zuhause mit Freunden oder beim Public Viewing verfolgen, wird uns durch tagelange Vor- und Nachberichterstattung, endlose Werbung, personelle Stäbe und riesigen Aufwand für Quartiere sowie Betreuung klar, dass Fußball vor allem eine gigantische Geldmaschine geworden ist. Ein historischer Siegertyp wie Helmut Rahn, der das wichtigste Tor in unserer Fußballgeschichte schoss, würde heute als absoluter Topspieler in dieser Geldmaschine Millionen im Jahr verdienen und mit guten Beratern auch bis ans Lebensende nicht mehr ganz verlieren können, sondern sich auch noch nach der Bundesligazeit lukrativ vermarkten. Der Fußball der FIFA von Sepp Blatter bei der WM in Brasilien oder eines Michel Platini bei der Champions-League in Europa, das ist eine ganz andere Welt als die zu den Glanzzeiten des Volkshelden Helmut Rahn.
Man mag diese Entwicklung bewerten, wie man will. Traurig stimmt es einen aber doch, dass der „Boss“ für all seine genialen Spielzüge und unglaublichen Tore materiell im Vergleich zu den heutigen Verhältnissen nur ein Trinkgeld bekam, auch für das wichtigste Tor der deutschen Fußballgeschichte. Sein Ruf als genialer Stürmer und speziell seine sportliche Leistung in Bern, genau 60 Jahre vor einer total kommerzialisierten WM in Brasilien, werden auch in Zukunft unsterblich sein. Er ist und bleibt der Matchwinner von 1954: Der beste deutsche Rechtsaußen. Millionen denken gerade in diesen Tagen an ihn. Unzählige werden das Dortmunder Fußballmuseum besuchen und seinen mit Bronze überzogenen linken Schuh betrachten. Einige werden damit ihr ganz persönliches Erlebnis verbinden: Sie waren dabei, als der „Boss“, der große Draufgänger des deutschen Fußballs, mit diesem historischen Exponat das 3:2 schoss und Deutschland zum ersten Mal zum Weltmeister machte.
Der Autor war Jugendspieler der TSG Backnang, ist langjähriges Mitglied des VfB Stuttgart und Mitherausgeber des Blogs-Der-Republik.
Bildquelle (Helmut Rahn 1960 im Trikot des SC Enschede) : Anefo 911-5201 SC Enschede cc BY-SA 3.0, Nationaal Archief, Den Haag, Rijksfotoarchief: Fotocollectie Algemeen Nederlands Fotopersbureau (ANEFO), 1945-1989 – negatiefstroken zwart/wit, nummer toegang 2.24.01.05