Der Kölner Schriftsteller Jürgen Becker ist im Alter von 92 Jahren gestorben. Wie der KStA schrieb, war er neben Heinrich Böll und Dieter Wellershoff „einer der drei Literatur-Granden der Nachkriegszeit. Mit Jürgen Beckers Tod endet diese Ära endgültig.“
Becker erhielt zahlreiche Literatur-Preise; u.a. den Preis der Gruppe 47 (im Jahre 1967); den Heinrich-Böll-Preis (1995) und den Georg-Büchner-Preis (2014). Er veröffentlichte zahlreiche Gedichtbände, Romane und Journale. Letztere waren sein bevorzugtes Genre. In ihnen reflektierte er über Erinnerungen, historische Ereignisse und erlebte Alltagsbegebenheiten. Seine Sache waren Beobachtungen des Tages, die er oft mit Erinnerungen an weit zurückliegende Ereignisse verwob. In seinem Gedichtband Die Rückkehr der Gewohnheiten heißt es: „Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie ganz anders.“
Beckers Stil war gradlinig, pointiert und zuweilen auch lapidar. Ein Beispiel: „Kein Schmetterling kommt, wenn du nach ihm rufst./ Lebst du allein, sprichst du mit dir selber./ Das Weiterleben kannst du auf morgen verschieben,/ aber Brot holen musst du schon heute.“
Ich hatte eine zeitlang Briefkontakt mit ihm. Er schien daran interessiert zu sein, wenn man ihm Fragen stellte oder Lese-Eindrücke mitteilte. Er antwortete stets ausführlich und geduldig; schrieb seine Briefe mit der Hand, in einer kleinen, kaum leserlichen Schrift.
Ich habe in meinem Buch Stelldichein mit Literaten (BoD 2024, 228 Seiten) aus den Briefsentenzen einen fiktiven Text konstruiert. Darin versuche ich, auf einige Merkmale seines Schreibens hinzuweisen. Da heißt es z.B.:
Mir ging es darum, die Bewegungen eines Bewusstseins durch die Wirklichkeit und deren Verwandlung in Sprache. ‚Bewusstsein’: das ist meines in seinen Schichten, Brüchen und Verstörungen; Wirklichkeit: das ist die tägliche, vergangene, imaginierte.
Meine Texte enthalten nur Mitteilungen aus meinem Erfahrungsbereich; das ist die Stadt, mein tägliches Leben, die Straße, die Erinnerung. All das reflektiere ich in einer jeweils veränderten Sprechweise, die aus dem jeweiligen Vorgang kommt. So entstehen Felder; Sprachfelder, Realitätsfelder. ‚Felder’ – das sind die jeweiligen ‚Wahrnehmungsbereiche’, wobei jedes Feld eine andere ‚Sprachfigur’ repräsentiert.
Was dabei entstand, waren sprachliche Reflexe dessen, was sich im Bewusstsein abspielte, dort im Kopf, wo sich die Phänomene des Alltags mit den Imaginationen, den Bildern der Vorstellungen und Träume mischten; die plötzlichen Augenblicke mit den Warteschleifen der Erinnerung; die Stimmen von der Straße mit den Geräuschen der Stadt; das tägliche Gerede und die öffentlichen Verlautbarungen.
Ich wendete mich mit diesen frühen Texten konsequent gegen die Vorherrschaft literarischer Konventionen, die nach meiner Auffassung aufgrund ihrer rigiden Gattungsgrenzen nicht länger geeignet erschienen, die Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Komplexität moderner Lebenswelten zu erfassen. Ich versuchte, für die vielfältigen Erfahrungsbereiche meiner Nahwelt jeweils spezifische literarische Ausdruckformen zu finden. Roman, Erzählung, Drama, Lyrik – das waren mehr oder weniger Begriffshülsen, die kaum noch etwas darüber aussagten, inwieweit sie geeignet waren, Wirklichkeitssegmente sprachlich zu erfassen.
Für mich war entscheidend, wie im Schreibprozess selbst die Wirklichkeit oder besser: die Erfahrung von Wirklichkeit sprachlich erschlossen werden kann. Ich wollte nicht mehr der souveräne Autor sein, der die Wirklichkeit nach Maßgabe seiner selbst gesetzten Kriterien strukturiert. Diese Art Literatur hielt ich für überholt. Dagegen setzte ich ‚das Abenteuer des Schreibens’ – ein offener Prozess, der Überraschungen nicht ausschließt und bewusst der Gefahr des Scheiterns sich aussetzt.
In einem Gespräch sagte er einmal: „Sie müssen wissen: eigentlich wollte ich ‚Landschaftsmaler’ werden, aber mir fehlte das Talent dazu. Deshalb sagte ich mir: ‚Dann erfinde ich eben Landschaftsbilder in der Poesie und lass die dabei entstehenden Bilder erzählen’. Solange es noch Landschaften gibt, über die erzählt werden kann.“
Wir sollten froh sein, dass es so gekommen ist.
Bildquelle: Von Hpschaefer www.reserv-art.de – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, via Wikipedia