Ich hatte dem Kölner Schriftsteller Jürgen Becker eine kleine Abhandlung über sein Frühwerk, für das er 1967 den Preis der ‚Gruppe 47’ erhalten hatte, zugeschickt. Zu meiner Überraschung erhielt ich einige Wochen später einen längeren, handgeschriebenen Brief von ihm. Darin hieß es u.a.:
Sie bringen mich ein wenig in Verlegenheit. Ich wusste gar nicht, dass meine alten Texte noch gelesen werden. Durch Ihre intensive Beschäftigung damit haben Sie sie mir wieder ins Gedächtnis zurück gerufen.
Mir ging es damals darum, die Bewegungen eines Bewusstseins durch die Wirklichkeit und deren Verwandlung in Sprache darzustellen. ‚Bewusstsein’: das ist meines in seinen Schichten, Brüchen und Verstörungen; Wirklichkeit: das ist die tägliche, vergangene, imaginierte.
Meine Texte enthalten nur Mitteilungen aus meinem Erfahrungsbereich; das ist die Stadt, mein tägliches Leben, die Straße, die Erinnerung. All das reflektiere ich in einer jeweils veränderten Sprechweise, die aus dem jeweiligen Vorgang kommt. So entstehen Felder; Sprachfelder, Realitätsfelder. ‚Felder’ – das sind die jeweiligen ‚Wahrnehmungsbereiche’, wobei jedes Feld eine andere ‚Sprachfigur’ repräsentiert.
Was dabei entstand, waren sprachliche Reflexe dessen, was sich im Bewusstsein abspielte, dort im Kopf, wo sich die Phänomene des Alltags mit den Imaginationen, den Bildern der Vorstellungen und Träume mischten; die plötzlichen Augenblicke mit den Warteschleifen der Erinnerung; die Stimmen von der Straße mit den Geräuschen der Stadt; das tägliche Gerede und die öffentlichen Verlautbarungen.
Ich wendete mich mit diesen frühen Texten konsequent gegen die Vorherrschaft literarischer Konventionen, die nach meiner Auffassung aufgrund ihrer rigiden Gattungsgrenzen nicht länger geeignet erschienen, die Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Komplexität moderner Lebenswelten zu erfassen. Ich versuchte, für die vielfältigen Erfahrungsbereiche meiner Nahwelt jeweils spezifische literarische Ausdrucksformen zu finden. Roman, Erzählung, Drama, Lyrik – das waren mehr oder weniger Begriffshülsen, die kaum noch etwas darüber aussagten, inwieweit sie geeignet waren, Wirklichkeitssegmente sprachlich zu erfassen.
Für mich war entscheidend, wie im Schreibprozess selbst die Wirklichkeit oder besser: die Erfahrung von Wirklichkeit sprachlich erschlossen werden kann. Ich wollte nicht mehr der souveräne Autor sein, der die Wirklichkeit nach Maßgabe seiner selbst gesetzten Kriterien strukturiert. Diese Art Literatur hielt ich für überholt. Dagegen setzte ich ‚das Abenteuer des Schreibens’ – ein offener Prozess, der Überraschungen nicht ausschließt und bewusst der Gefahr des Scheiterns sich aussetzt.
Aus heutiger Sicht finde ich mein ‚Schreibprogramm’ ein wenig ‚ambitioniert’, wenn nicht gar ‚verwegen’. Ich unterschätzte die damit verbundenen Schwierigkeiten. Auch war es etwas zu ‚prätentiös’. Viele Kollegen fühlten sich auf den Schlips getreten. Aber im Stillen habe ich stets versucht, meinen Intentionen treu zu bleiben.
Falls Sie einmal nach Odenthal kommen, können wir gerne einmal über diese Dinge diskutieren. Zur Zeit habe ich allerlei Verpflichtungen, aber wir sollten in Kontakt bleiben.
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Ich las weitere Texte von ihm, und eines Tages machte ich mich auf den Weg ins Bergische. Odenthal liegt sehr malerisch am westlichen Rand des Bergischen Landes und von Wäldern umgeben. Etwas abseits liegt der alte Bauernhof, auf dem Jürgen Becker wohnt. Zu einer persönlichen Begegnung mit ihm kam es leider nicht, aber ich stellte mir vor, wie mein Gastgeber mich vielleicht am Tor erwartet hätte, mich über das Grundstück führt und mir stolz die Scheune zeigt, die er in Eigenarbeit zu einem ‚Atelier’ für seine Frau, die Künstlerin Rango Bohne, ausgebaut hatte.
Bei schönem Wetter hätten wir uns zum Kaffee in den Garten gesetzt, die gute Luft genossen und womöglich das folgende Gespräch geführt:
Als wir damals das Anwesen zum ersten Mal in Augenschein nahmen, waren wir sofort begeistert. Die Stille, der Ausblick, das ganze Ambiente gefiel uns. Freunde rieten uns ab, weil sie befürchteten, wir würden uns zu sehr isolieren. Aber für uns war es genau das Richtige. Wir haben noch keinen Tag bereut, uns hierher zurück gezogen zu haben.
Ich hatte mir überlegt, worauf ich ihn ansprechen könnte und als mir der passende Moment gekommen zu sein schien, sagte ich: Ein Charakteristikum Ihres Schreibens ist ja die sprachliche Annäherung an die jeweilige ‚Topographie’, die Sie umgibt. Einige Ihrer Texte wirkten auf mich, als hätten Sie die wahrgenommenen Fragmente ihrer Umgebung gewissermaßen wörtlich ‚protokolliert’ und relativ wahllos in ‚Sprachfetzen’ verwandelt. Er überlegte kurz und meinte dann:
Mir war immer klar, dass die Ereignisse um mich herum ‚parallel’ stattfinden, sprachlich aber nur in der zeitlichen Abfolge, als Aneinanderreihung von Wahrnehmungen und Ereignissen darstellbar sind. Dennoch habe ich versucht, sprachliche Ausdrucksformen zu finden, die dem unmittelbaren Erleben möglichst nahe kommen.
Ich machte die Erfahrung: Die Gleichzeitigkeit verschiedener Vorgänge ist ‚wahrnehmbar’, aber nicht ’darstellbar’. In jeder syntaktischen Anordnung erscheinen sie immer nur als ein Nacheinander; nicht in ihren wahren Dimensionen. Gleichwohl habe ich versucht, mir ein ‚Terrain’ für das angestrebte ‚offene Schreiben’ zu schaffen, in dem ich immer wieder neue literarische Formen erprobt habe.
Ich kann mir vorstellen, dass Ihre Hinwendung zur Lyrik diesem Vorhaben entgegen kam. Ihre Gedichte kamen mir immer vor, als seien es ‚Experimentierformen’ Ihres literarischen Anliegens. In der Lyrik können Sie die ‚Sprachfetzen’, von denen ich vorhin etwas despektierlich sprach, am ehesten darstellen.
Die lyrische Form ist, wenn Sie so wollen, flexibler als die formal festgelegte und etwas steife Prosa. Die literarischen Versuche, diese gewissermaßen zu ‚sprengen’, wie sie beispielsweise Joyce oder Arno Schmidt unternommen haben, sind enge Grenzen gesetzt. In der Lyrik konnte ich mich freier ausdrücken.
Wobei ja Ihre Gedichte sich durch eine sehr spezielle Form auszeichnen. Für mich sind sie eine Art ‚lyrische Prosa’ bzw. ‚prosaische Lyrik’. Sie sind weniger ‚rhythmisch’, sondern enthalten ein ganzes Spektrum an Wahrnehmungen: Erinnerungen; Irritationen; Frustrationen; Melancholie; Ängste und Verstörungen anderer Art. Sie bilden ein ganzes ‚Kaleidoskop’ von Lebenserfahrungen ab, die immer auch eine biografische bzw. geschichtliche Dimension haben.
Das sehen Sie richtig, und einige dieser literarischen Experimente haben mich dazu angeregt, mich dem ‚Journalschreiben’ zuzuwenden. Auch diese Form kommt meinem Anliegen entgegen, die Dinge so darzustellen, wie ich sie erlebe. Ich habe mich einmal selbst als ‚Fanatiker des Authentischen’ charakterisiert. Anders als der Roman-Autor, der von der Position des Wissenden aus schreibt, so als sei die Welt überschaubar wie ein weißes Blatt Papier, das er beliebig füllen kann, kommt es mir darauf an, meine Erfahrungen möglichst präzise zu rekonstruieren. Mein Credo lautet: ‚Schreiben vom Prozess der Erfahrung erfordert ein wiederholtes Zurückgehen auf die präsentische Situation des Schreibenden; jeder Fortsatz muss ins Offene führen und sich offen halten für überraschende Wendungen.
Ich denke, dass Ihr Anliegen, den ‚Prozess der Erfahrung’ in Sprache zu übersetzen, sich vom bloßen Abbilden des ‚Erlebten’ unterscheidet.
Ja, der Begriff der ‚Erfahrung’ ist von dem des ‚Erlebens’ zu unterscheiden. Erfahrungen resultieren aus der reflexiven Verarbeitung von Erlebnissen. Insofern ich den Prozess der Erfahrung sprachlich rekonstruiere, reflektiere ich das Erlebte noch einmal und reduziere es auf die wesentliche Sprachform. Es geschieht das, was man als ‚ methodische Verdichtung’ bezeichnen könnte.
Dabei fungiert das wahrnehmende Subjekt als Medium zwischen Sprache und Wirklichkeit. Es ist das Ich, das wahrnimmt, erfährt, unternimmt, redet, treibt, auflöst, verlässt, verschluckt, vergisst, heißt es an einer Stelle in den ‚Feldern’.
Das heißt: Der Autor empfängt die Impulse seines Schreibens aus einem ‚inneren Ressort’, in dem das gegenwärtig Wahrgenommene, die Projektionen der Phantasie, die eigene Geschichte, das Erinnerte, die Orte, in denen er gelebt hat und lebt sowie die Bedingungen seiner Existenz ihren Niederschlag finden.
Entscheidend ist, was in den Momenten des Schreibens, der Schreibende in seinem Bewusstsein wahrnimmt, und zwar innerhalb des Zusammenhangs, der in den Momenten des Schreibens entsteht. Dieser Zusammenhang entsteht durch den Rückbezug des Ichs auf sich selbst und seine Umgebung sowie der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die stets reflektiert, überprüft und angezweifelt werden. Man könnte von permanenten ‚Bewusstseinsschüben’ im Schreibprozess selbst sprechen, die sich offen halten für Veränderungen.
Insofern ist das Journalführen, wie Sie es verstehen, etwas anderes als das übliche Tagebuchschreiben, das die Ereignisse mehr oder weniger ‚buchhalterisch’ festhält. Mir fiel auf, dass viele Ihrer Texte unverkennbare autobiographische und oft auch historische Bezüge aufweisen; aber alles Datierbare, Lokalisierbare, ja Private stets nur der Ausgangspunkt für die sprachliche Konstruktion von ‚Erfahrungsmustern’ ist. Ihre spezifische Form des Journalschreibens, lässt sich meines Erachtens auch an Ihrem Verständnis von ‚Ort und Zeit’ demonstrieren, denen ganz bestimmte Funktionen zukommen.
An Orten und Umgebungen interessiert mich vor allem, was sie in mir auslösen. Sie bestimmen die unmittelbare Gegenwart dessen, was vergangen, erdacht, möglich, anwesend und augenblicklich wirksam ist. Das heißt: Der Ort kann konkret in Erscheinung treten oder eine Synthese aus Erinnerungen oder Imaginationen sein. Immer aber bleibt das Ich mit seinen gegenwärtigen Bedingungen das Medium. Dessen Bewusstsein erfährt die Wirklichkeit des Ortes als Objekt der vergangenen bzw. vergehenden Zeit.
Dazu ein Beispiel: Ich kenne diese Straße seit langem, aber als Impuls für meine Einbildungen wird sie zu einer Straße, auf der einst etruskische Händler ankamen, mit ihren Töpfen, Bronzen, Waffen. Es ist dieser Vorgang, der die Dimension der Zeit in eine bestimmte Form der erfahrbaren Wirklichkeit verwandelt, und diese Transformation wird gewissermaßen in den Schreibprozess hineingenommen. Neben dem Umgang mit Ort und Zeit zeigt sich, dass die Darstellung assoziativer Wahrnehmungen immer wieder reflexiv gebrochen wird. Aber anders als im Film oder in einer Fotoreihe wird alles ‚schön der Reihe nach’ erzählt.
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Ich vermute, dass Sie das dazu geführt hat, ein weiteres interessantes Experiment zu wagen: Sie haben sich der Fotographie zugewandt. War es der Versuch, die Grenzen des Sprachlichen zu erweitern?
Ganz sicher hat es mich gereizt, diese und jene Sache einfach zu fotografieren, festzuhalten und mitzunehmen als ‚Bild’. Aber ich denke, dass Fotos vor allem das Entdecken und das Warten auf den richtigen Moment dokumentieren. Ich habe in dieser Phase ‚Foto-Folgen’ produziert und ihnen Titel beigegeben, die sich wie Sätze einer noch ungeschriebenen Prosa lesen.
Oft schreibe ich über Dinge, die mir bei Spaziergängen in der näheren Umgebung auffallen, während ich Häuser, Himmel, Wasser, Straßen oder Landschaften sehe. Solche Objekte kommen auch in meinen Fotografien vor, aber dabei geht es mir nicht so sehr um die Objekte selbst, sondern eher um das, was man ‚die Bewegung hin zu einem Objekt’ nennen könnte. Was ich dabei empfinde, versuche ich zu schildern: als Vorgang, der sich im Zeitablauf vollzieht. Das kann eine Erinnerung sein oder das Nachdenken über ein historisches Ereignis.
Dann dient Ihnen das Fotografieren nicht nur dazu, bestimmte Ereignisse zu fixieren, um sich später damit auseinander zu setzen, sondern als Auslöser von Schreibimpulsen. Inwieweit wirkt sich dieser Vorgang auf die formalen Aspekte und die Art Ihres Schreibens aus?
Welche Bedeutung die Fotografie für mein Schreiben hat, darüber habe ich in meinem Buch ‚Ende der Landschaftsmalerei’ reflektiert. Da heißt es sinngemäß: ‚Mit dem Fotografieren hat das Schreiben eigentlich erst angefangen. Während ich mich mit den Bildern einer Landschaft beschäftigte, kamen zugleich die Wörter wieder über die Landschaft, über ihre Veränderungen, über das Ende der Ruhe und Schönheit einer Landschaft’.
Insofern können Sie ‚Das Ende der Landschaftsmalerei’ als lyrische Kontextualisierung des fotografischen Mediums ansehen. Auf den Fotos sehen Sie, wie es einmal war; aber Sie sehen nicht, wie etwas entstanden ist und was es einem bedeutet. Dies darzustellen, ist dann die Aufgabe des Schriftstellers.
Sie müssen wissen: eigentlich wollte ich ‚Landschaftsmaler’ werden, aber mir fehlte das Talent dazu. Deshalb sagte ich mir: ‚Dann erfinde ich eben Landschaftsbilder in der Poesie und lass die dabei entstehenden Bilder erzählen’. Solange es noch Landschaften gibt, über die erzählt werden kann. Neben zahlreichen Literaturpreisen erhielt Jürgen Becker 2014 den Georg-Büchner-Preis. In der Begründung hieß es u.a., er habe uns durch sein Werk die alltägliche Welt auf neue Weise sichtbar gemacht.