Martin Walser, der letzte der vier großen Erzähler, die der Literaturszene der jungen Bundesrepublik ihren Stempel aufdrückten, ist tot. Er war im wahrsten Sinn des Wortes – mit 96 Jahren – ein Jahrhundertdichter. Walser, 1927 geboren, war zehn Jahre jünger als Heinrich Böll, ein Jahr jünger als Siegfried Lenz und Jahrgangsgenosse des ebenfalls 1927 geborenen Günter Grass.
Die großen Vier der bundesrepublikanischen Nachkriegs-Literatur – jenen Vier, deren Namen auch einem literaturfernen Publikum der Republik am ehesten präsent sind.
Böll, Grass, Lenz, Walser: Das Schreiben als Bindeglied unterschiedlichster Charaktere. Der politische Raufbold Grass, der oft über das Land verzweifelte Böll, der stille Erzähler Lenz und der vor Selbstbewusstsein strotzende Bodensee-Bildungsbürger Walser.
Drei von ihnen bekamen ihren schriftstellerischen Ritterschlag mit Preisen der legendären „Gruppe 47“. 1000 DM damals zu Beginn der Fünfziger. Viel Geld für einen wie Heinrich Böll, der vom Schreiben nicht leben konnte, als er 1951 erstmals zum Treffen der 47er in Bad Dürkheim eingeladen wurde. Verarmt kam er, der seinen Lebensunterhalt als Aushilfskraft im Statistischen Amt der Stadt Köln verdiente, dort an. Kaum einer kannte ihn. Der Impressario der Gruppe 47, Hans-Werner Richter, hielt ihn für den Hausmeister des Tagungslokals. Als er mit seinem rheinischen Singsang aus der satirischen Kurzgeschichte „Die schwarzen Schafe“ las und den Preis der Gruppe erhielt, war das der Durchbruch, der ihm Auflagen und Auskommen in seinem lebenslangen Kölner Hausverlag Kiepenheuer &Witsch bescherte.
Geld, das war für Martin Walser kein drückendes Thema, als er 1955 den Preis der Gruppe für die Erzählung „Templones Ende“ bekam. Der über Kafka promovierte Literaturwissenschaftler hatte beruflich ein zweites Standbein als Mitarbeiter beim Süddeutschen Rundfunk. Der Preis beflügelte ihn, sich als freier Schriftsteller am Bodensee niederzulassen. Zunächst in Friedrichshafen, dann ab der 60er Jahre in einem idyllischen Rückzugsort direkt am See in Überlingen-Nussdorf.
Das sah für Günter Grass ganz anders aus, als der bettelarme Überlebenskünstler 1958 im „Gasthof zur Post“ im allgäuischen Großholzleute von der Gruppe eingeladen war. Mit dabei hatte er Teile des „Blechtrommel“-Manuskripts. Bei der Lesung Applaus und Staunen der literarischen Avantgarde der Nachkriegszeit. Die Zuhörer waren hin und weg. Sie ahnten, dass der schreibende Bildhauer, der aus Paris in das Provinznest gereist war, eine neue Literaturepoche eingeläutet, oder besser, mit Oskar Matzerath, der kleinwüchsigen Hauptfigur seines Romans, eingetrommelt hatte. Dass der ihm ein Jahr später beim Erscheinen Weltruhm bescheren sollte, ahnte Grass nicht. Zumal der spätere Großkritiker Marcel Reich-Ranicki als einziger zunächst den Daumen gesenkt hatte und sich später korrigieren musste.
Nicht seine einzige Fehleinschätzung. Auch über Siegfried Lenz hatte Reich-Ranicki sein Urteil früh gefällt. Der tauge für kurze Strecken, für Erzählungen, für einen Marathon, einen großen Roman reiche ihm die Puste nicht. Lenz „Deutschstunde“, neben der „Blechtrommel“ von Grass das wohl bekannteste Werk der Nachkriegsliteratur, blamierte den literarischen Alleswisser.
Walser und Grass wurden in den sechziger Jahren zu Polit-Akteuren, kämpften 1961 und 1965 gemeinsam für Willy Brandt und gegen die CDU. Eine Haltung, die Heinrich Böll fremd war. Wahlkampfunterstützung lehnte er ab mit der Begründung, ein Schriftsteller dürfe sich nicht mit irgendeiner Macht gemein machen. Brüsk belehrte er Hans-Werner Richter, der solle endlich kapieren, dass die hundertprozentige Ablehnung der CDU nicht ein Ja zur SPD bedeuten müsse. 1972 dann ließ sich Böll darauf ein, Wahlkampf für die Sozialdemokratie zu machen. Vor allem wegen und für Willy Brandt.
Während Grass immer ein Kämpfer für die SPD blieb, Siegfried Lenz zeitlebens ein Bewunderer und stiller Freund von Helmut Schmidt war, sympathisierte Böll am Ende seines Lebens mit den damals streng pazifistischen Ideen der Grünen. Walser, dem Ende der sechziger Jahre die SPD nicht mehr überzeugend links war, sympathisierte für eine kurze Lebensphase mit der DKP.
Für eine turbulente politische Aufregung sorgte Walser Jahrzehnte später, als er sich 1998 in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels dagegen verwahrte, den industriellen Massenmord der Nazis in Auschwitz „als Moralkeule“ zu benutzen. Wie hätte der 1985 gestorbene Heinrich Böll auf diese Entgleisung reagiert? Man kann es ahnen, wenn man weiß, dass Böll als einer der ersten in der jungen Bundesrepublik das Verdrängen des Holocaust anprangerte. In einem Beitrag für die „Kölnische Rundschau“ am Gründonnerstag 1954 nannte er es unverzeihlich, letztlich unmoralisch, dass in den Schulen das Thema Auschwitz und die damit verbundene ungeheure Schuld als Tabuthema verschwiegen werde. Er forderte österlich eine „Auferstehung des Gewissens“. Die Angriffe jener, die die Naziverbrechen aus dem Gedächtnis streichen wollten, nahm er in Kauf. In der Ablehnung jeglicher Relativierung der Nazigräuel blieb er radikal. Sein Leben lang.
Wie wäre Böll, den die Kriegserfahrungen, Verletzungen innerer und äußerer Art als eingezogener Wehrmachtssoldat nie losgelassen haben, mit dem späten Bekenntnis von Grass umgegangen, freiwillig in Hitlers SS eingetreten zu sein? Vermutlich war es gut für ihn, diese Irrungen und Wirrungen des Großmoralisten Grass nicht mehr erleben zu müssen.
Tragisch, dass Nazivergangenheit auch Siegfried Lenz am Ende seines Lebens eingeholt hat. Nicht die eigene, sondern die seiner Romanfigur in der „Deutschstunde“ Max Ludwig Nansen. Der Maler war von den Nazis mit Malverbot belegt. Als Vorbild diente Lenz der reale Maler Emil Nolde, der ein glühender Nazi-Verehrer war und Hitler eigene Vorschläge zur Judenvernichtung unterbreitete. Eine Geschichte, die im Nachkriegsdeutschland lange geklittert wurde und einer breiten Mehrheit erst Jahrzehnte nach dem Lenz-Roman bekannt wurde. Böll, Grass. Lenz, Walser. Sie haben große Geschichten und Geschichte geschrieben. Jeder von ihnen unverwechselbar und unersetzlich für die literarische DNA der Republik.
Bildquelle: Wikipedia, Von Blaues Sofa from Berlin, Deutschland – BSB 2007: Gruppe 47. Sechzig Jahre danachU, ploaded by Magiers, CC BY 2.0