1. Ohne Ziele ist Krieg nicht rational zu führen
Es gilt: In eine Unternehmung Waffen und Geld zu investieren, ist nur solange gerechtfertigt, wie Aussicht besteht, dass das damit Erstrebte auch wirklich „produziert“ werden kann. Ist diese Aussicht nicht mehr gegeben, so ist das Unternehmen abzubrechen, ist nicht länger, wie im Geschäftsleben formuliert wird, dem schlechten Geld noch gutes hinterherzuwerfen.
Die deutsche Bundesregierung mit ihrer Devise
„Aus Sicht der Bundesregierung ist es allein an der Regierung der Ukraine, über Stattfinden, Zeitpunkt, Format und Inhalt möglicher Verhandlungen mit der Russischen Föderation über eine friedliche Lösung zur Beendigung des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges zu entscheiden.“.
entzieht sich diesem Anspruch auf Rationalität qua Zweck-Mittel-Relation. Es wird aufschlussreich sein zu beobachten, ob der Bundesrechnungshof seinem Auftrag gemäß dieses Verhalten der Regierung rügen wird. In den USA jedenfalls ist es seit Frühjahr 2024 anders; da hat der Gesetzgeber die Regierung, konkret die Ministerien für Verteidigung und für Außenpolitik, verpflichtet darzulegen, welche Ziele sie mit weiteren Geld- und militärischen Mitteln für die Ukraine in dem dortigen Krieg erreichbar machen will.
„Zweck“ in dieser Zweck-Mittel-Relation sind Kriegsziele. Die sind erfahrungsgemäß fluide, sie wechseln mit dem Verlauf eines Krieges. Der aktuelle Ukraine-Krieg ist stilisierend in drei Phasen mit offensichtlich unterschiedlichen Zielen seitens der Ukraine bzw. des Westens zu unterteilen:
- Februar 2022 bis Ende April 2022;
- Anfang Mai 2022 bis Oktober 2023;
- November 2023 bis heute.
Die erste Phase der Kampfhandlungen nach dem Beginn des russischen Angriffs wurde von Anbeginn an von Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland begleitet. Die USA spielten da keine Rolle. Die kamen mit ihren Zielen erst in der zweiten Phase ins Spiel bzw. zum Zug, als die Ukraine sich gegen Ende dieser ersten Kriegsphase entschloss, das westliche Unterstützungsangebot für einen Vollkrieg der Ukraine gegen Russland mit dem Ziel einer Vertreibung von ihrem Territorium anzunehmen.
Dafür steht terminlich das erste Treffen der Ukraine-Unterstützergruppe in Ramstein am 26. April 2022 sowie die Etablierung der Task Force Dragon seitens der Vereinigten Staaten in Deutschland. Letztere hatte die Aufgabe, die Ukraine, die sich damit zur Proxy-Kriegsführung verpflichtet hatte, strategisch zu führen. Die eilig zusammengestellte Task Force Dragon war aus Mitarbeitern des Hauptquartiers des US Army’s XVIII Airborne Corps zusammengestellt worden und war einem Brigade-General unterstellt. Im Oktober 2022 wurde diese ad-hoc-Konstruktion ersetzt durch eine neue Formation – die Security Assistance Group-Ukraine (SAG-U) wurde eingesetzt, geführt von einem General-Leutnant der U.S. Army.
2. Zweite Kriegsphase: Das offizielle Ziel der USA verdampft im Scheitern der Sommeroffensive
Ziel ab Mai 2022, in der zweiten Phase, war die militärische Rück-Eroberung der 2014 bzw. in den ersten Kriegswochen verlorenen Gebiete des ukrainischen Staates. Um dem zu begegnen, gruppierten sich die russischen Truppen großflächig um. Als Schlüsselphase wurde beidseits die Zeit nach Ende des Winters 2022/23 eingeschätzt. Im Konzept der ukrainischen Seite bzw. nun der USA als Führungsmacht der westlichen Allianz setzte man alles auf die Sommeroffensive des ukrainischen Militärs (UAF). Am 5. Juni 2023 wurde sie gestartet, scheiterte alsbald, zog sich aber noch bis Oktober 2023 hin.
Kiew hat mit der Sommeroffensive versucht, eine strategische Wende im Krieg im Süden, im russophilen Gebiet, einzuleiten. Das Konzept war, zunächst nach Melitopol durchzustoßen, einer 70 km südlich gelegenen Verwaltungsstadt, und von dort dann zur etwa 100 km entfernten Küste des Asowschen Meeres. Im Falle eines Erfolgs wären der russische Landkorridor zwischen Mariupol und der Krim durchtrennt und die Versorgung der russischen Truppen im südlichen Saporischschja und östlichen Cherson über den Landweg abgeriegelt. Zugleich wollte Kiew die Seeverbindungen und die wenigen Brücken zur Halbinsel Krim durch Angriffe mit Drohnen und Raketen zerstören. Diese Doppelstrategie sollte Russland zum Rückzug aus den Südgebieten und schließlich von der Krim zwingen.
Den Hauptschlag einer Gegenoffensive gegen die russische Armee in den besetzten Gebieten sollten die ukrainischen Streitkräfte mit Hilfe der vom Westen bereitgestellten etwa neun Kampfbrigaden führen, die bis dahin als eine strategische Reserve gehalten wurden. Die waren zum Teil im Westen ausgebildet worden und waren mit westlichen schweren Waffen ausgerüstet, darunter über 100 Kampfpanzer, über 150 Schützenpanzer, Rad- und Panzerhaubitzen, Mehrfachraketenwerfer sowie Minenräum- und Brückenlegepanzer.
Damit war ein taktischer Einbruch erreichbar, und südlich von Orichiw wurde er auch erzielt, da schafften die ukrainischen Streitkräfte mit diesen Truppenteilen einen örtlich begrenzten taktischen Einbruch von etwa 10 bis 15 km Breite und Tiefe. Mehr aber auch nicht. Um den taktischen Einbruch zu einer Durchbruchsoperation auszuweiten, die einen Stoß in die Tiefe zugelassen hätte, hätten gepanzerte Reserven konzentriert und mit massiver Feuer-, Pionier- und Luftunterstützung eingesetzt und gleichzeitig die langen Flanken gegen Gegenangriffe geschützt werden müssen. Nur dann wäre es möglich gewesen, in einen Bewegungskrieg überzugehen und Raum zu gewinnen.
Der lange erwartete Angriff der UAF, der am 5. Juni 2023 startete, wurde jedoch nicht als ein konzentrierter Schlag geführt, es wurden vielmehr lediglich breitflächige taktische Aufklärungsvorstöße in Kompanie- und Bataillonsstärke durchgeführt. Das Resultat, fünf Monate nach Beginn der Sommeroffensive, war der erwähnte taktische Einbruch südlich von Orichiw. Das Résümée lautet: Selbst der Einsatz von neun Brigaden mit westlicher Bewaffnung und Ausbildungshilfe hatte sich nicht als Game Changer erwiesen. Diese neun Brigaden werden zudem nicht länger als „Reserve“, als “Joker“, gehalten, sie sind inzwischen in den täglichen Abwehrkampf der ukrainischen Streitkräfte eingereiht.
Über den Grund für den Misserfolg kann man spekulieren. Lag es an einem Mangel an Material, an Gerät – also am Westen? Oder lag es an einem unzureichenden Einsatzkonzept, also am ukrainischen Militär? Oder war es noch ganz anders? Ich neige zu der Auffassung, dass es ein Wettlauf beider Seiten in der Nachführung von Reserven war. Neun Brigaden können eben viel oder wenig sein relativ zu den einsetzbaren Reservekräften des Gegners. Und im Sommer 2023 hatte die russische Seite bereits soviele Kräfte ihrerseits herangeführt, dass die vom Westen ausgerüsteten und ausgebildeten Brigaden objektiv nicht reichten.
Für die Zeit danach, die aktuelle Phase des Krieges, herrscht der Eindruck vor, dass nun ohne (strategische) Ziele einfach weitergekämpft wird. Es scheint das Habermassche Urteil der konzeptionellen westlichen Strategielosigkeit in diesem Krieg zu gelten – zumindest seit Scheitern der Sommeroffensive.
Bevor das Scheitern Fakt geworden war, konnte man als real gewollt unterstellen, dass das Ziel der vom Westen geleisteten aufwändigen Unterstützung der Ukraine ein Erfolg dieser Entscheidungsschlacht sei. Erklärtes Ziel und faktisches Ziel waren bis Herbst 2023 identisch. Das schloss nicht aus, dass der Co-Produzent USA eigenständige Nebenziele verfolgte; wie übrigens die Ukraine auch, die natürlicherweise das Ziel verfolgte, das westliche Militär stärker hineinzuziehen, um die ukrainischen Streitkräfte in ihrer opfereichen Sonderrolle zu entlasten.
3. Ziellose aktuelle Kriegsphase?
Mit dem Scheitern der Sommeroffensive und der Analyse ihrer Gründe sind sich die Beteiligten im Westen darüber klargeworden: Einen zweiten Versuch dieser Art wird es nicht geben – er wäre aussichtslos. Damit hat die Ukraine keine offensiven Fähigkeiten mehr, damit ist ihr Ziel, welches zugleich das offizielle Ziel der westlichen Allianz ist, die Ukraine zu befähigen, ihr ihr völkerrechtlich zustehendes Territorium rückzuerobern, ein Ding der Unmöglichkeit geworden.
Dennoch ist das Phänomen: Die ukrainischen Kräfte kämpfen weiter und der Westen unterstützt das Kämpfen weiterhin finanziell und mit Lieferungen höchstwertigen militärischen Geräts. Das muss einen Grund bzw. ein Motiv haben, und zwar eines, das nicht auf der Hand liegt. Mir fallen drei ein.
- Es gibt keine westliche Strategie.
- Es gibt eine Strategie und Kriegsziele, die aber sind so unmoralisch und, offenbarte man sie, zerrüttend für das Verhältnis zur Ukraine, dass sie unerklärt bleiben müssen. Schließlich lässt die Führung der Ukraine ihre Soldaten in Mengen sterben, traumatisieren und verstümmeln, während die westlichen Unterstützer ihren postheroischen Bevölkerungen ein „mourir pour Kiev“ nicht zuzumuten vermögen. Die „Lastenteilung“ innerhalb dieser Allianz ist extremst asymmetrisch.
- Es geht um das Überlebensinteresse der gegenwärtig herrschenden ukrainischen Kreise. Die schließlich waren es, die im April 2022 das doppelbödige wenn nicht vergiftete westliche Angebot zum Langzeitkrieg angenommen haben. Und ihnen ist gewahr, dass sie bei einer Beendigung des Krieges zu Bedingungen, die schlechter sind als die, die man im März/April 2022 hätte haben können, bei denen also das Sterben und die Opfer der Bevölkerung während zweieinhalb Kriegsjahren sich als umsonst erweisen, aus ihren Ämtern gejagt und, sofern sie nicht fliehen, zur Rechenschaft gezogen werden werden.
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Jochen Luhmann hat, was den Herren Faber, Hofreiter, Röttgen und Roth (FAZ, 23.8.24) so bitter abgeht: Expertise, Verstand und Gemüt.