1. Einleitung: “Gaskrieg”?
In der Zeit vor dem 24. Februar 2022 standen die Pipelines im Fokus allfälliger Gaskriegs- bzw. Erpressungs-Szenarien. Die prinzipiell bzw. kurzfristig richtige Aussage war: Nord Stream 2 sei überflüssig, weil die bestehende Ferntransport-Kapazität ausreichte, um die zugesagten Lieferungen aus Russland, einschließlich des erwarteten Zuwachses zum Ersatz der auf Null gehenden Mengen aus den Niederlanden, möglich zu machen. Der Bedarf für Nord Stream 2 wurde vom Bergamt Stralsund denn auch auf der Basis der Tatsache festgestellt, dass das ukrainische Pipeline-System (UGTS) noch aus sowjetischer Zeit in die Jahre gekommen ist und zwischen Russland und der Ukraine über 15 Jahre kein Abkommen zur Instandsetzung des grenzüberschreitenden System, welches auf ukrainischem Territorium das UGTS ist, zustande gekommen ist. Gegenwärtig haben wir somit eine Transportkapazität, incl. der technisch genehmigten Pipeline Nord Stream 2, die von Russland nach Europa führt, die mehr als doppelt so hoch ist wie die, die unter Normalbedingungen erforderlich ist. Für das, was Russland bis Mitte Juni 2022 geliefert hat, hätte es fünffach gereicht.
Vor diesem Hintergrund ist eine (angebliche) Pipeline-Knappheit ein seltsames Phänomen. Doppelt frappierend ist: (1) Die Spitzen der EU-Kommission und des BMWK (Habeck) in Deutschland behaupten, Russland habe einen „Gaskrieg“ bereits begonnen. Und der mache sich (2) überwiegend fest an willkürlich gesperrten Transport-Kapazitäten auf Nord Stream 1, welche mit 65 Mrd. cbm/a lediglich 20 % der Gesamtkapazität der von Russland nach Europa führenden Pipelines von rd. 300 Mrd. cbm/a ausmacht. Das, also Störungen auf 20% der Pipeline-Kapazität, habe zu einem Rückgang der Gaslieferungen geführt wie in der Abbildung der EU-Kommission gezeigt.
Schaut man genau hin, so muss man allerdings konzedieren:
- Der Begleittext zur gezeigten Abbildung formuliert die Geschichte der schrittweise zunehmenden Einschränkungen der Pipeline-Kapazität, die aus Russland nach Europa führt, korrrekt und vollständig – allerdings subjektlos. D.h. im fachlichen Teil wird von der Kommission doch lieber offen gelassen, wer zu welchen Teilen an der Misere der Liefereinschränkungen schuld ist, ob Russland wirklich der alleinige Täter ist.
- Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell spielt eh eine bellizistische Sonderrolle. Für ihn ist seit längerem ausgemacht, dass Russland einen Gaskrieg (gas as weapon) führt, zuletzt im Herbst 2021 gegen Moldawien. Für ihn ist dieser Vorwurf nicht neu.
Angesichts der bestehenden massiven Überschüsse an Transport-Kapazitäten ist es auffällig, dass sich die westliche Gaskriegs-Perzeption in solch exzessiver Weise an den sinkenden Lieferungen via Nord Stream 1 festmacht. Die Transportrouten-Beschränkungen, die Polen (Yamal) und die Ukraine (Südstrang-UGTS) im Mai 2022 herbeigeführt haben, wurden von deutscher Seite klaglos hingenommen, obwohl doch klar war, dass das eine Endspiel-Rolle von Nord Stream 1 befördert, dass dessen Nadelöhr-Rolle von Polen und der Ukraine erst geschaffen worden ist – vermutlich absichtsvoll.
Erst aus Anlass der Einschränkungen auf Nord Stream 1 vom 14./16. Juni 2022, die mit der ausstehenden Rücklieferung einer Gasturbine aus dem Reparaturwerk in Kanada begründet wurde, rufen EU-Kommission und Minister Habeck (BMWK) Alarm. Verbunden wird das von beiden mit einer Strategie des moralischen Blaming, der Unterstellung illegitimer Absichten des Geschäfts-Partners Gazprom bzw. des politischen Gegners Putin persönlich. Panik in der Öffentlichkeit und an den Märkten ist die – erwartbare – Folge. Warum die Wahl einer Strategie der Diffamierung des Gegenspielers zu dem späten Zeitpunkt, wo die Verletzlichkeit durch zu geringe Gaslieferungen aus Russland öffentlich dramatisiert wurde? Warum der Wechsel in diese Kommunikations-Strategie im Juni?
2. Die Verdichterstation in Portovaya – technischer Hintergrund
Anhand des Konflikts um die Gasturbine aus der Verdichterstation für NS1 in Portovaya lässt sich dazu einiges klären.
Die Besonderheit einer Unterwasser-Pipeline wie Nord Stream 1 (und 2) ist, dass sie wegen geringerer sicherheitstechnisch motivierter Beschränkungen mit viel höheren Drücken betrieben werden kann als eine Land-Pipeline. Letztere arbeiten mit maximal 70 to 80 bar, entsprechend braucht es alle paar x00 km am Verlauf der Pipeline eine Kompressor-Station. Nord Stream 1, die offshore-Pipeline, wird mit einem maximalen Druck von 220 bar betrieben. Das hat die Anlage in Portovaya, kurz vor dem Abtauchen von Nord Stream 1 in die Ostsee, zu leisten, mit einer Kapazität von 366 MW. Und die reicht aus, um das Gas ohne eine nochmalige Druck-Injektion die gesamte Strecke bis Lubmin, d.i. über 1.200 km, transportieren zu können.
Die Gasturbinen, die das zusammen leisten, sind solche, wie sie auch in Strahlflugzeugen verwendet werden. Die Kapazität von 366 MW muss durch Summierung von Einzel-Gasturbinen erreicht werden – die genaue Konstellation in Portovaya ist öffentlich nicht bekannt. Da der erforderliche Druck immer gehalten werden muss, auch wenn eine Gasturbine mal ausfällt, hat die nominale Höchst-Kapazität aller in Betrieb befindlichen Gasturbinen aber deutlich höher als 366 MW zu liegen. Die Reservekapazität erster Stufe läuft immer mit, dadurch, dass nicht alle eingesetzten Turbinen gleichzeitig Volllast fahren. Es gibt eine zweite Stufe des Begriffs „Reserve“ für Gasturbinen: Das sind die, die sich nicht im Betrieb befinden, die bei Bedarf vor Ort zum Austausch bereit stehen. Darüber hinaus gilt: Gasturbinen müssen etwa alle 2 bis 3 Jahre zur Revision ins Herstellerwerk. D.h. eine der Gasturbinen ist fast immer in der Revision, nicht vor Ort.
Herstellerwerk ist in diesem Falle das in Montréal, weil das die Betriebsstätte von Rolls Royce war, bei der Gazprom für Nord Stream 1 die Turbinen einst gekauft hatte. Sie ist im Eigentum der britischen Firma Industrial Turbine Company Limited (ITCL), welche heute eine Tochter von Siemens Energy ist.
3. Wer führt den Gaskrieg, wer reagiert nur?
Eine Turbine befand sich im nun zu Siemens Energy gehörenden Gasturbinen-Werk in Montréal (Kanada) gerade zur Instandsetzung, als der Westen Sanktionen erließ, die Falle also zuschnappte. Es ging aber nicht um die einzelne Turbine, es geht für den Betreiber von Nord Stream 1 allgemeiner um die Möglichkeit, die Gasturbinen in der Verdichterstation Portovaya regelmäßig im Werk in Montréal warten und reparieren zu lassen.
Unter Verweis auf die Blockade dieser Turbine durch die Regierung Kanadas hatte Gazprom die Gaslieferungen via Nord Stream 1, zu denen andere Teile des Unternehmens anscheinend unter Langfristverträgen verpflichtet sind – das betrifft insbesondere RWE und Uniper –, deutlich gekürzt: Von voller Kapazität (167 Mio. m3/d) auf 100 Mio. m3/d am 14. Juni 2022 und weiter auf 67 Mio. m3/d am 16. Juni 2022. Das Unternehmen argumentiert mit der Intention, vertragstreu zu sein, zieht deshalb die Force Majeure-Karte. Uniper hat das rechtlich strittig gestellt.
Auf westlicher Seite reagierten die genannten politischen Spitzen, also der Staat. Die verlautbarten, ohne Substanz zu bieten, diese Behauptung von Gazprom sei lediglich ein Vorwand („pre-text“). Das bedeudet: Ihres Erachtens führe der Staat Russland via Gazprom einen Gaskrieg, ohne ihn zu erklären. Das ist, durchschaubar, die „Haltet den Dieb“-Methode: Man führt selber Krieg, kommuniziert aber, der Gegner führe Krieg und man reagiere darauf lediglich angemessen. Medial und von Think-Tanks wird diese Kommunikationslinie der Spitzen von EU-Kommission und BMWK unterstützt, vgl. z.B. Jannis Kluge von der SWP hier.
Die Differenz zwischen „Krieg“ (explizitem Vertragsbruch mittels staatlicher Sanktionen) und trickreichem Nutzen aller Optionen, die Markt und Rechtsstaat hergeben, ist ggfls. viel Geld wert. Man neigt im Westen dazu zu vergessen, wie ausgebufft Geheimdienste auf letzterer Klaviatur zu spielen verstehen – wesentliche Teile des DDR-Staatsvermögens sind dank der Intransparenz-Regeln des westlichen Marktregimes bis heute nicht wieder beigebracht worden. Wenn es dermaleinst wieder beruhigte Beziehungen geben wird, wird die Frage des Schadensersatzes für vertragswidrig nicht gelieferte bzw. nicht abgenommene Gas-Mengen die Schiedsgerichte beschäftigen. So oder so braucht es perspektivisch eine Abmachung für einen expliziten „Gasfrieden“.
Die nicht-substantiierte Unterstellung von EU-Kommission und BMWK kann seit Mitte Juli gecheckt werden. Das Oxford Institute for Energy Studies (OIES), das auf Öl- und Gas-Markt-Fragen spezialisiert ist, hat eine Untersuchung zu den Hintergründen der von Kanada sanktionierten Gasturbine vorgelegt. Darin wird erstmals der technische und vertragliche Hintergrund aufgeblättert. Damit ist klärbar, ob die politischen Spitzen auf Ebene der EU und in Deutschland (Gas-)Kriegstreiber sind oder dieserhalb wirklich lediglich von Gazprom Getriebene. Dabei darf man nicht unterstellen, dass Gazprom nicht auch mit Haken und Ösen agiere – entscheidend aber ist, ob man Gazprom „Krieg“ (Bruch der Regeln) oder Agieren an den Grenzen des rechtlich Erlaubten mit der klaren Intention der Schädigung der westlichen Partner attestiert. Zwischen beiden Zuschreibungen liegen Welten.
4. Die hilflose Blaming-Strategie von EU-Kommission und BMWK
Aus der Darstellung der technischen Funktion der Gasturbinen wird deutlich: Ohne ein (vertragsgerechtes) Funktionieren der gesamten Logistik der Wartung von „Reserve-Gasturbinen“ kann Nord Stream 1 nicht vertragsgemäß betrieben werden. Genau darauf, das sicherzustellen, hatte Gazprom in dem Konflikt gezielt – im Ergebnis, am 10. Juli 2022, hat Kanadas Energie-Minister Jonathan Wilkinson mitgeteilt, die Regierung habe entschieden: In den nächsten zwei Jahren können die anstehenden maximal 6 Turbinen in Montréal zur planmäßigen Revision kommen und dürfen das Land auch wieder verlassen. Allerdings firmiert die Zusage unter dem Adjektiv „revocable“ – dass Gazprom eine „Zusage“ erhalten habe, ist deswegen ein bisschen zweifelhaft.
Die Bemerkungen, die Kommissionspräsidentin von der Leyen dazu öffentlich gemacht hat, „Es gibt keinen Vorwand, kein Gas zu liefern.“ „Es ist nicht die einzige Turbine auf der Welt, die passt. Es gibt identische Turbinen.“ waren rein polemischer Natur – das ist auf Basis der hier gegebenen Schilderung offenkundig. Die Zuspitzung auf eine Turbine hat Methode. Deren planwidrige Nicht-Verfügbarkeit in Zukunft tangiert zudem offenkundig das Sicherheitskonzept des Einsatzes der Verdichterstation unter Volllast und damit die volle Nutzung der Pipeline-Kapazität. Das ist das Ergebnis der OIES-Kurzstudie. An der sicheren Verfügbarkeit ist Deutschland interessiert. Anders gesagt: Frau von der Leyen wollte mit ihren Bemerkungen die deutsche Position unterhöhlen. Hintergrund ist diese Geschichte von blauäugigen Fehleinschätzungen.
In ihrer Unterrichtung bereits vom 8. März 2022, also einem wirklichen Schnellschuss, heisst es, die EU wolle ihren Gas-Import aus Russland, der in 2021 eine Höhe von insgesamt (via Pipeline und LNG) 155 Mrd. cbm hatte, bis Ende 2022 auf ein Drittel (53,5 Mrd. cbm) reduzieren. D.h. um 100 Mrd. cbm (alles in Jahreswerten angegeben).
Richtig nachgedacht hat man erst dann, im Nachhinein. In den Dokumenten, die die Kommission am 18. Mai publiziert hat, wird eine Minimum-Reduktion (immer in Ganzjahreswerten ausgedrückt) von Pipeline-Importen aus Russland in Höhe von 30 Mrd. cbm angekündigt, im Maximum-Fall 70 Mrd. cbm. Im Staff Working Document (SWD) wird das Maximum-Ziel aufgeteilt 10 Mrd. cbm aus zusätzlichem Pipeline-Import, 50 Mrd. cbm zusätzlichen LNG-Importen und 10 Mrd. cbm Reduktion der Nachfrage.
Das wurde da so öffentlich mitgeteilt – aber die Feind liest doch mit! Die Botschaft an Gazprom/Moskau ist völlig offenherzig: Wir werden nicht kaufen, gerne auch Verträge nicht einhalten. Aber bitte liefere uns das, was wir brauchen, um über den nächsten Winter zu kommen! So blauäugige Wirtschaftskriegsführung hätte ich mir nicht vorstellen können.
Schwer verständlich ist die Motivlage von BMWK-Chef Habeck. Schließlich hat er sich für die Durchsetzung von Gazproms Forderungen zusammen mit seiner Außenministerin in Ottawa sehr engagiert. Das ist keine einfache Mission, weil es in Kanada die größte Auslands-Ukrainer-Gemeinde gibt, worum Deutschland gebeten hat, ist dort ein innenpolitisch konfliktreiches Thema. Was mag ihn dazu gebracht haben, die eigene Forderung zu delegitimieren? Im schlimmsten Fall ist dies, anders als bei Frau von der Leyen, nicht Ergebnis kalkulierter Kommunikationsstrategie sondern Ausdruck persönlicher Voreingenommenheit. Im weniger schlimmen Fall ist es so, dass ihm die Option, dass Gazprom eine kalkulierte Strategie gegen Deutschland insbesondere führen könnte, erst am 14. Juni 2022 wie Schuppen von den Augen gefallen ist. Jetzt, wo man in die Falle gelaufen ist, versucht man das zu vernebeln, indem der Gegner desavouiert wird („Sie lügen einem ins Gesicht“ – welch Botschaft unter Partnern in einem Poker-Turnier). Jedenfalls ist das Ergebnis seiner öffentlichen Auftritte, dass in Deutschland hinsichtlich des möglichen Ziehens der Gaskriegs-Option über Wochen eine hysterische mediale Debattenlage eintrat, mit entsprechenden Preissteigerungen für Gas. Substanz erhielt die Debatte erst sehr spät, erst als am 21. Juni 2022 die BNetzA ihre Szenarienrechnungen vorlegte. Der Ablauf machte einen improvisierten Eindruck. Professionelles Pokern geht anders.
Das ist endlich einmal ein informativer Artikel, der jenseits aller Proganda die mindestens nötige Detetailliertheit bietet, um sich so etwas, wie ein eigenes Urtel im europäischen Sanktionsdrama bilden zu können.