Demokratien können auf verschiedenen Wegen sterben. Nach dem Bob Woodward zugeschriebenen Bonmot sterben sie im Dunkeln, ohne den Scheinwerfer kritischen Journalismus: Democracy dies in darkness. Ebenso gefährlich für Demokratien ist es jedoch, wenn die aktive Beteiligung bürgerschaftlichen Engagements fehlt: Democracy dies without you.
Die Zivilgesellschaft spielt eine entscheidende Rolle im Gelingen des demokratischen Projekts. Sie gerät in vielen Teilen der EU jedoch zunehmend unter Druck. Es ist eine zentrale Aufgabe sozialdemokratischer Europapolitik, sich für ein demokratisches Europa einzusetzen und für die europäische Zivilgesellschaft zu kämpfen.
Bedeutung der Zivilgesellschaft
Zivilgesellschaftliche Beteiligung kann unterschiedliche Formen annehmen und sich auf eine Vielzahl inhaltlicher Fragen beziehen. Zivilgesellschaftliche Organisationen treten als Watchdog auf und stellen Verantwortlichkeit her – etwa im Bereich der Menschenrechte, wie Human Rights Watch oder Amnesty International. Zudem gibt es Organisationen, die sich bestimmten Interessen verschrieben haben, wie sozialen oder ökologischen Fragen – hierzu gehören Organisationen wie der ASB, der BUND, die Gesellschaft für Freiheitsrechte oder Greenpeace. Nicht zuletzt können zivilgesellschaftliche Einrichtungen auch einen Schutzraum bieten – etwa Frauenhäuser, der Kinderschutzbund oder die vielen LGBTIQA+-Verbände.
Neben den großen Namen der Zivilgesellschaftbestehen abertausende kleine Organisationen, die tagtäglich für ihre Vorstellung einer besseren und gerechteren Welt eintreten. In ihnen sind Millionen Menschen in der gesamten EU organisiert. Zugleich gilt dies nicht in allen Mitgliedstaaten gleich stark – so geht eine Übersichtsstudie aus dem Jahr 2010 davon aus, dass in Schweden etwa mehr als 40 % der Bevölkerung aktiv an der Zivilgesellschaft teilnehmen, in Deutschland etwa 30-40 %, in Bulgarien weniger als 10 %.
Die zivilgesellschaftliche Arbeit ist dabei Grundrechtsausübung in ihrer reinsten Form. Zivilgesellschaftliche Organisationen helfen den Einzelnen dabei, ihre Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit auszuüben – indem sie wiederum ihre Vereinigungsfreiheit gebrauchen. Diese Freiheiten gewährt nicht nur das Grundgesetz auf nationaler Ebene, sondern auch die Grundrechtecharta und die EMRK auf europäischer Ebene. Die Gründungsverträge der EU erkennen sogar dezidiert an, dass der zivilgesellschaftliche Dialog zentral dafür ist, die Ziele der Union zu erreichen (Art. 11 Abs. 2, Art. 15 Abs. 1 AEUV).
Bedrohungen in den Mitgliedstaaten
Zivilgesellschaftliche Arbeit ist grundlegend für unsere Demokratie und grundrechtlich geschützt – der Raum, den zivilgesellschaftlichen Organisationen für ihre Arbeit haben, wird jedoch zunehmend kleiner. Viele Mitgliedstaaten der EU sowie private Akteure schränken den zivilgesellschaftlichen Raum (engl. Civic Space) immer mehr ein.
Deutlich macht dies eine Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (Fundamental Rights Agency, FRA) aus dem Jahr 2022. Hiernach bezeichnet ein Drittel (33 %) der befragten zivilgesellschaftlichen Organisationen (Civil Society Organizations, CSOs) die Bedingungen für ihre Arbeit als „schlecht“ oder „sehr schlecht“. Darüber hinaus gab fast ein Drittel (28 %) der teilnehmenden nationalen oder lokalen Organisationen an, dass sich die Lage im Jahr 2021 im Vergleich zu dem Vorjahr „verschlechtert“ oder „erheblich verschlechtert“ habe.
Dies deckt sich mit den Befunden des CIVICUS-Monitor 2022. Dieser stellt allgemein fest, dass der Civic Space in elf EU-Staaten „eng“ und in drei EU-Staaten (Griechenland, Polen, Ungarn) „gestört“ ist, wobei Griechenland von „eng“ zu „gestört“ herabgestuft wurde. Auch Staaten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, wie das Vereinigte Königreich oder Serbien, haben hiernach einen gestörten zivilgesellschaftlichen Raum.
Die Restriktionen sind dabei vielfältig. Ein zentraler Punkt für die Effektivität zivilgesellschaftlicher Arbeit ist deren Finanzierung. Der Zugang zu staatlicher wie privater Förderung ist zugleich der einfachste Hebel für Staaten, den zivilgesellschaftlichen Raum zu verkleinern. So hat Polen etwa ein zentrales Institut geschaffen (das sog. Nationale Freiheits-Institut), das staatliche Fördergelder für CSOs verteilt und dieses Institut mit Vertrauten der Regierung besetzt.
Zudem wird die Arbeit der CSOs durch Beschränkungen der Vereinigungsfreiheit erschwert. Hierzu zählen etwa sog. foreign agents laws, die CSOs erhöhte Berichts- und Sorgfaltspflichten auferlegen. Ungarn hatte ein solches Gesetz beschlossen und es erst wieder zurückgenommen, nachdem die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hatte.
Auch die Versammlungsfreiheit erfährt zunehmende Einschränkungen – so erschweren Staaten die Vorschriften zur Anmeldung und Genehmigung von Versammlungen und weiten die Befugnisse der Polizei aus. So hat das Vereinigte Königreich in letzter Zeit wiederholt die Befugnisse der Polizei ausgeweitet, etwa um gegen „langsames Marschieren“ vorzugehen.
Doch auch die praktische Arbeit von CSOs wird erschwert. Die Ausübung der Meinungsfreiheit leidet unter Maßnahmen gegen Terrorismus und die Überwachung der Aktivität durch Spionagesoftware (wie Pegasus). Solche Eingriffe sind in manchen Fällen gerechtfertigt, oft hingegen gerade darauf gerichtet, Kritik mundtot zu machen. Hierzu kommen vielfältige Angriffe und Einschüchterungen, online wie offline. So berichten 40 % der Befragten im Rahmen der Konsultation der FRA im Jahr 2020 von Online-Angriffen. Zudem sehen sich MenschenrechtsverteidigerInnen und UmweltaktivistInnen zunehmend missbräuchlichen Klagen (sog. Strategic Lawsuits Against Public Participation, SLAPPs) ausgesetzt. Hiervon geht eine bedeutender Chilling Effect, also eine abschreckende Wirkung, aus.
Besondere Einschränkungen des zivilgesellschaftlichen Raums ergaben sich zudem im Zusammenhang mit COVID-19, wo viele Mitgliedstaaten einen Notstand ausgerufen und Notstandsgesetze erlassen haben. Solche Notstandsgesetze schränkten oft die Handlungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft weitgehend ein. Darüber hinaus wurden sie selbst meist in beschleunigten Verfahren erlassen und haben so Beteiligungsmöglichkeiten verkürzt.
Intersektionalität kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Gerade bei Organisationen und MenschenrechtsverteidigerInnen, die mit Minderheiten oder Geflüchteten arbeiten, gegen Rassismus kämpfen, sich für die Rechte von Frauen und die Rechte von LGBTIQA+-Personen einsetzen, fallen zumeist mehrere Anknüpfungspunkte für eine Benachteiligung zusammen. Die sich hieraus ergebenden kumulativen Belastungen können dann besonders einschneidend sein.
Antworten der EU
Die EU ist in der Pflicht, derartigen Entwicklungen entgegenzutreten. Gerade als Ausdruck des Demokratiegrundsatzes (Art. 2 EUV) wie auch der Grundrechte der Grundrechtecharta trifft sie eine (auch) rechtliche Verpflichtung, den zivilgesellschaftlichen Raum in der EU zu schützen und die Zivilgesellschaft zu stärken. Dafür hat die EU bereits ein Bündel an Maßnahmen etabliert – manche sind gleichwohl verbesserungswürdig.
So setzt die EU auf ein breitgefächertes Monitoring. Die FRA erstellt regelmäßig – oben bereits zitierte – Berichte zu dem Thema. Auch der Rechtsstaatsbericht der Kommission adressiert Bedrohungen für die Zivilgesellschaft. Zugleich liegt hier Verbesserungspotential: Die Kommission sollte einen eigenen Index für den Civic Space der Mitgliedstaaten ins Leben rufen – so wie er mit dem CSO-Meter für die Länder der östlichen Partnerschaft bereits besteht. Zudem sollte der Rechtsstaatsbericht ein eigenes Kapitel für die Beurteilung des zivilgesellschaftlichen Raums erhalten.
Wesentlich ist zudem, dass die EU selbst aktiv CSOs finanziert und Rahmenbedingungen schafft, die ihre Finanzierung sicherstellen. Mithilfe des Programms „Bürgerinnen und Bürger, Gleichstellung, Rechte und Werte“ (Citizens, Equality, Rights and Values, CERV) stellt die EU im Zeitraum 2021-2027 über 1,4 Mrd. Euro bereit, um zivilgesellschaftliche Arbeit direkt vor Ort zu fördern. Zugleich ist dies, verteilt auf alle Mitgliedstaaten und den gesamten Finanzierungszeitraum, nur ein relativ kleiner Betrag – etwa 50 Cent pro BürgerIn und Jahr. Hier können und müssen wir mehr tun: mehr Geld bereitstellen, langfristige Finanzierungen schaffen, Verfahren vereinfachen. Dabei kann es nötig sein, dass die EU sich gerade auf die Mitgliedstaaten konzentriert, in denen die Zivilgesellschaft besonders unter Druck steht.
Schließlich greift die EU ein, um die CSOs und die Menschen, die sich engagieren, unmittelbar zu schützen. So hat die Kommission kürzlich – auf Druck des Parlaments – eine Anti-SLAPP-Richtlinie vorgeschlagen. Diese soll missbräuchliche Klagen (SLAPPs) unterbinden. Hier gilt es nun, im Parlament eine progressive Position zu finden, um in den anstehenden schwierigen Verhandlungen mit dem Rat tatsächliche Schutzgewinne zu erreichen. Zudem hat die Kommission vorgeschlagen, in der EU einheitliche Mindeststrafen für Hassrede und Hasskriminalität festzulegen – manche Mitgliedstaaten blockieren dies leider. Und – ebenfalls auf Anregung des Parlaments – wird die Kommission bald einen Vorschlag für ein europäisches Vereinsstatut vorlegen. Ziel ist es, zu verhindern, dass einzelne Mitgliedstaaten Vereine aus dem Land drängen und finanziell wie administrativ gängeln können.
Kampf an den Urnen Der Kampf um die europäische Zivilgesellschaft ist einer, den die EU an vorderster Front bestreiten muss. Eine aktive Zivilgesellschaft trägt dazu bei, die Grundfeste der EU zu schützen. Dies gilt gerade in den Mitgliedstaaten, die bereits heute an einem großen demokratischen und rechtsstaatlichen Defizit leiden. Dabei hat die EU schon manches erreicht – viel bleibt gleichwohl noch zu tun. Die kommenden Europawahlen werden auch insoweit eine Weichenstellung sein für die Zukunft der EU.
Zur Autorin: Katarina Barley (SPD), ist seit dem 2. Juli 2019 Abgeordnete des neunten Europäischen Parlaments und eine von dessen vierzehn Vizepräsidenten. Sie war von 2013 bis 2019 Mitglied des Deutschen Bundestages, zuvor war sie von Dezember 2015 bis Juni 2017 Generalsekretärin der SPD, von Juni 2017 bis März 2018 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, von September 2017 bis März 2018 zusätzlich geschäftsführende Bundesministerin für Arbeit und Soziales sowie von März 2018 bis Juni 2019 Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz.
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