In Ihrer Roman-Trilogie Die Schlafwandler, die ich wohl als Ihr Hauptwerk bezeichnen darf, stellen Sie am Beispiel von drei Männern aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten den allmählichen Wertezerfall während des Wilhelminischen Zeitalters dar. Was sind die zentralen Motive, die Sie in Ihren Romanen ausführen?
Bevor ich auf Ihre Frage eingehe, möchte ich kurz ausführen, worum es mir hauptsächlich ging: ich suchte nach Erklärungen dafür, wieso es den Herrschenden immer wieder gelingt, ganze Völker gegeneinander aufzuhetzen, die ansonsten wenig Berührungspunkte miteinander haben. Ja, um es zuzuspitzen: sie so weit zu bringen, dass sie einander hassen und bereit sind, Kriege gegeneinander zu führen.
In jedem der drei Romane steht eine andere Hauptfigur im Zentrum und jede repräsentiert einen bestimmten Zeitabschnitt. Der Offizier Pasenow die Zeit um 1888, der Kleinbürger Esch die um 1903 und der Kaufmann Huguenau den Zeitraum um 1918. Alle drei Figuren werden von ‚irrationalen Motiven’ getrieben. Pasenow vertritt noch das in Auflösung begriffene ‚romantische Weltbild’ des Adels; er glaubt an die herkömmliche Hierarchie und vertritt Werte wie Ordnung und Disziplin. Esch hofft auf eine irgendwie geartete ‚Erlösung’. Er leidet an der ungerechten gesellschaftlichen Ordnung und kämpft dagegen an. Halt sucht er in der Religion, aber auch in der Politik, aber er schwankt orientierungslos zwischen den beiden Wertesystemen hin und her. Und Huguenau schließlich verkörpert den Typ des wertneutralen, kalt berechnenden, zweckrationalen Geschäftsmannes, dessen einzige Handlungsmaxime der geschäftliche Erfolg ist.
Ihnen geht es um die ‚Macht des Irrationalen’ in einer unüberschaubar gewordenen Welt. Alle drei Figuren versuchen vergeblich, ihrem Leben einen ‚Sinn’ zu verleihen, weil ihnen die geeigneten Mittel fehlen. Sie werden von existentiellen Ängsten und irrationalen Gefühlen getrieben, die ihr Handeln bestimmen, deren Ursachen ihnen nicht bewusst sind. Sie sehnen sich nach ‚Führung’ und ‚klaren Verhältnissen’, aber sie leben und handeln in einem gesellschaftlichen Umfeld, das in Auflösung begriffen ist. So taumeln sie mehr oder weniger ‚orientierungslos’ dahin. Hat dieser Zustand Ihnen das Motiv des Schlafwandelns nahegelegt?
Durchaus. Der Schlafwandler lebt in einer Art ‚Schwebezustand’. Man könnte sagen: in einer ‚unwirklichen Wirklichkeit’ zwischen ‚Noch-nicht-Wissen’ und ‚Schon Wissen’. Er ahnt, dass etwas Unheilvolles in der Luft liegt, weiß aber nicht genau, was es sein könnte. Er wird von Ängsten oder Ohnmachtsgefühlen getrieben, versucht diese zu beherrschen, muss aber erleben, dass sie sich ständig reproduzieren, wobei die Anlässe relativ beliebig sind. Mal sind es Erinnerungen, das andere Mal Sehnsüchte und Begierden, und dann ist da die Wut auf das ganze Treiben um sie herum, das undurchdringlich und unbegreifbar erscheint. Es ist das ‚Verschwommene’, ‚Dunkle’, das ‚Nicht-Wissen’ und eine Art ‚Paralyse des Denkens’, die den Schlafwandler ausmacht und ihn nach einem ‚Heilsbringer’ Ausschau halten lässt.
Ihre Romane spiegeln vor allem die Verhältnisse der Vorkriegszeit wider, die zum Ersten Weltkrieg führte; geschrieben haben Sie sie allerdings in der Zeit von 1928 bis 1931, als sich schon wieder neues Unheil ankündigte. Haben Sie Ihr Schreiben auch als Warnung an Ihre Zeitgenossen verstanden, wachsam zu sein?
In der Tat wollte ich zeigen, welche gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Ursachen dem irrationalen Wunsch nach einem Führer und Erlöser zugrunde liegen. Ich zeichne den Entwicklungsprozess nach, der zur Krise der liberalen Gesellschaft und zum Zusammenbruch des Wirtschafts- und Währungssystems führte. Vor allem die Massenarbeitslosigkeit, die große Teile der Bevölkerung ins Elend stürzen lässt, erweist sich als idealer Nährboden für die Nazi-Ideologie. In der Figur des Schlafwandlers begegnet uns der orientierungslos dahin taumelnde Zeitgenosse, der sich nach einem Heilsbringer sehnt; auch wenn ich damals noch nicht ahnte, in welch verhängnisvoller Weise dieser Wunsch Wirklichkeit werden würde.
Nun haben Sie keinen ‚historischen Roman’ geschrieben, sondern Ihnen kam es darauf an, die ‚innere Gedanken- und Gefühlswelt’ Ihrer Figuren sichtbar zu machen. Das was sie bewegt, umtreibt, ängstigt, wütend macht.
In der Tat bilden die historischen Ereignisse nur den Rahmen oder Hintergrund des Ganzen. Ich wollte zeigen, wie die Menschen den Zusammenbruch einer Werteordnung erleben. Sie begreifen schlichtweg nicht, was ihnen geschieht. Viele halten – wenn überhaupt – an herkömmlichen Konventionen fest. Die Meisten aber leben bewusst oder unbewusst dahin, passen sich den veränderten Bedingungen vorbehaltlos an oder verweilen in einem Zustand des Dahindämmerns und der Gleichgültigkeit. Aber gerade in dieser Rolle des dahindämmernden, schlafwandelnden Menschen werden sie zu Prototypen ihrer Zeit und zu symptomatischen Objekten einer Herrschaft, die sie im Grunde ablehnen müssten. In diese irrationalen, unbewussten Tiefenschichten wollte ich vordringen. Die äußeren Ereignisse zu schildern ist Sache der Historiker; etwas tiefer zu schauen ist Aufgabe der Literatur und Kunst.
Zu den beeindruckenden Passagen Ihres dritten Romans gehören für mich Ihre zehn ‚Essays über den Wertewandel’. Was hat Sie bewogen, derart anspruchsvolle geschichtsphilosophische, psychologische bzw. geistesgeschichtliche Elemente in Ihren Roman einzubauen? Und sehe ich das richtig, dass Sie wesentliche Erkenntnisse aus der Phänomenologie Edmund Husserls bezogen haben?
Nicht nur mit Husserl, auch mit Lukács. Es gibt da eine Affinität zwischen den Beiden, die mich interessiert hat: Beide sind sich einig darin, dass die Wissenschaften als Tatsachenwissenschaften ihre Bedeutung verloren haben. Sie sind unfähig, ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen: die Menschen über den Sinn ihres Daseins aufzuklären. Stattdessen sammeln sie unentwegt mit immer raffinierteren Methoden Einzeltatsachen, deren Herkunft (Zeitlichkeit) und Bezug zur gesellschaftlichen Totalität ihnen verborgen bleibt. Im Gegenteil: indem sie durch die Konzentration auf eine Teilrealität die Sicht auf das Ganze geradezu verstellen, tragen sie zur gesamtgesellschaftlichen Irrationalität bei, da ihre eigene Sicht begrenzt und rudimentär bleibt.
Beide sehen in der formelmathematischen, rationalen Erkenntnis das Kennzeichen der ganzen Epoche. Für Husserl ist es eine Krise des Denkens, der Philosophie vor allem, für Lukács eine Krise des Kapitalismus. Lukács sagt: ‚Das Prinzip der auf Kalkulation, auf Kalkulierbarkeit eingestellten Rationalisierung in der die Bewegung der von menschenfremden ‚objektiv-rationalen Gesetzen beherrschten Sachen von den Menschen vorhersehbar und manipulierbar ist, entspricht auf der anderen Seite die Irrationalität der ganzen Welt, einer Welt, in der sich der Mensch fremd bewegt, seinen Platz nicht finden kann und irrationalen Mächten ausgeliefert ist’.
Ganz ähnliche Aussagen trifft man bei Husserl an, nur dass für ihn das Ganze eine Krise des Geistes ist, was für Lukács eine der menschlichen Produktions- und Verkehrsformen ist. Husserls Konzept der ‚Lebenswelt’ ist eine einzige Kritik des Denkens seiner Zeit. Die spezialisierten Einzelwissenschaften haben den Blick für ‚das Ganze’ verloren und damit auch die ‚Verantwortlichkeit’ für ihr Tun.
Genau das war der Grundgedanke der ‚Schlafwandler-Trilogie.’ Vor allem der dritte Roman Huguneau behandelt diese Problematik. Huguneau ist geradezu der Prototyp eines Tatsachenmenschen. Einmal heißt es von ihm: Tatsachendenken schafft Tatsachenmenschen! Sie glauben nur an das, was sich messen und quantifizieren, sprich: berechnen lässt und aus dem sie Gewinn schlagen können. Alles andere ist ihnen gleichgültig.
Husserl war zu der Zeit, als Sie Ihre Trilogie schrieben, einer der am meisten diskutierten Denker. Sein Vorzug und der Reiz, sich mit ihm zu beschäftigen, lag für Sie wohl darin, dass es ihm nicht nur darum ging, philosophische Grundsatzfragen zu klären, sondern dass er versucht hat, eine Brücke zur Lebenswelt der Menschen zu schlagen.
Ich wollte das Phänomen des ‚Wertewandels’, die Auflösung einer Jahrhunderte währenden Werteordnung nicht nur konstatieren und an bestimmten Ereignissen demonstrieren, sondern sie in ihrem Zerfallsprozess verstehen und so weit wie möglich erklären. Welche Veränderungen sind es, die das Denken der Menschen derart radikal verändert haben? Und welche Entwicklungen der Religion, Philosophie, Naturwissenschaften, Ökonomie und Kunst haben mit zur ‚Umwertung aller Werte’ beigetragen?
Ganz allgemein gesprochen kann man sagen, dass mit der Ablösung der seit dem Mittelalter geltenden Idee einer einheitlichen christlichen Weltordnung, eine zunehmende ‚Abstraktion’ des Denkens einsetzt. Das neue wissenschaftliche Weltbildes führt dazu, dass sich die einzelnen Wissensbereiche verselbständigen und in der ‚Logik dieser Zersplitterung’ liegt begründet, dass sie jeweils zur Dominanz streben und in ihrer Funktionalität zu einer Art ‚radikaler Aggressivität’ neigen. Besonders deutlich wird dies an der zunehmenden ‚Dominanz des ökonomischen Denkens’ und für die Zeit, in der die Romane spielen, gewinnt das Militärische die Oberhand. Es geht nicht mehr um den ‚Sinn des Ganzen’, sondern um Geld oder Krieg. Der ‚Nützlichkeitsmensch’, der skrupellos nach dem unmittelbaren Erfolg strebt, wird dominant. Vor allem trieb mich die Frage um, wie die damalige allgemeine ‚Kriegsbegeisterung’ im Vorfeld des Ersten Weltkrieges zu erklären war; dieses Ausmaß an Irrationalität, wo doch jedem rational denkenden Menschen die katastrophalen Folgen klar sein mussten. Und wie es möglich war, dass Menschen so fundamental gegen ihre eigenen Interessen handelten. Als ich die Romane 1931 abschloss, sah ich die Gefahr, dass dies erneut geschieht.
Eine Ihrer Erklärungen besteht darin, dass Sie zeigen, dass bei aller ‚Rationalität der gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Teilbereiche’ keinesfalls so etwas wie eine ‚Gesamtrationalität’ entsteht. Im Gegenteil. Die ‚Erfolge’ in Teilbereichen, beispielsweise der Ökonomie, können Resultate zeitigen, die verheerend sind, zu Kriegen führen oder z.B. die Zerstörung der natürlichen Ressourcen nach sich ziehen.
Genau das ist der entscheidende Punkt. Die ‚autonom gewordene Vernunft’, die sich in den Teilsystemen entwickelt, kann zerstörerische Auswirkungen für das gesellschaftliche Ganze haben. Jedes dieser Wertesysteme repräsentiert immer nur eine Teilrationalität; man könnte auch sagen: Ihre zunehmende ‚Rationalität’ trägt zur ‚Irrationalität des Ganzen’ bei. Ein paradoxer Vorgang, der schwer zu begreifen ist. Diesen Prozess wollte ich mit meinen Romanen nachzeichnen.
Sie haben sich vieler verschiedener Stilmittel bedient, um Ihr Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Die Essays über den ‚Wertewandel’ sind nur eines. Daneben gibt es lyrische und dramatische Passagen; innere Monologe; Naturschilderungen; wissenschaftliche Abhandlungen; Briefe u.a.m.
Mir war wichtig, die Romanteile in Sprache, Darstellungsweise und Aufbau so zu gestalten, dass die wechselnden Stilformen das Charakteristische der Epochen und der Figuren widerspiegeln. Der erste Roman folgt einem realistischen Erzählstil. Im zweiten zerfasert die Handlung und weist keinen kontinuierlichen Erzählstrang auf. Und der dritte Roman sprengt vollends den Rahmen des ‚bürgerlichen Romans’ und enthält die von Ihnen genannten Stilelemente. Darin ähnelt er dem ‚Ulysses’ von Joyce, mit dem ich im Übrigen gut befreundet bin. Er war einer der Wenigen, die den Roman seinerzeit verstanden haben.
Erschwerend kam wohl hinzu, dass die Rezeption Ihres Werkes durch die Nazi-Zeit unterbrochen wurde und der 1931 erschienene Roman erst in den fünfziger Jahren – wenn überhaupt – wieder zur Kenntnis genommen wurde.
Ich arbeitete von 1928 bis 1931 an der Trilogie. Meine Bücher wurden in Deutschland verbrannt. 1938 wurde ich von der Gestapo verhaftet, konnte aber über England nach Amerika entkommen. Das alles und der nachfolgende Krieg haben natürlich die Wirkungsgeschichte meiner Romane erheblich beeinflusst. Aber das ging ja nicht nur mir so.
Kann man sagen, dass Sie trotz dieser deprimierenden persönlichen Erfahrungen am Schluss Ihrer Trilogie versuchen, so etwas wie einen positiven oder hoffnungsvollen Ausblick zu geben? Denn am Schluss Ihres dritten Romans heißt es: ‚Aus der schwersten Finsternis der Welt tönt die Stimme, die das Gewesene mit allem Zukünftigen verbindet. Es ist die Stimme des Menschen und der Völker, die Stimme des Trostes und der Hoffnung und der unmittelbaren Güte’.
Das kann man so sagen, denn der Roman endet mit dem Appell des Apostels Paulus: Tu dir kein Leid! Denn wir sind alle noch hier!’