In ihrem Buch „Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens“ beleuchten die Autoren Johannes Plagemann und Henrik Maihack unterschiedliche Wahrnehmungen und Erwartungen der Länder des Globalen Südens in Bezug auf die Weltpolitik. In insgesamt vier Kapiteln zeigen die Autoren auf, warum der Globale Süden aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen die lange Zeit vom Westen dominierte internationale Ordnung mit einer gewissen Skepsis betrachtet, warum „der Westen“ den Gesellschaften und Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas besser zuhören muss und warum eine multipolare Welt mit einem erstarkten Globalen Süden auch für Europa neue Chancen eröffnet.
Das Buch erscheint gerade zur rechten Zeit, denn die Bedeutung des Globalen Südens hat in den vergangenen Jahren sukzessive zugenommen. Längst beanspruchen die aufstrebenden Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika die Zukunft der internationalen Ordnung mitzuprägen. „Der eigentliche Epochenbruch“, so die Autoren des Buches, „ist ein seit Jahren fortschreitender Prozess von einer unipolaren hin zu einer komplexeren multipolaren Welt“. Im Westen tun sich allerdings noch viele schwer damit, den Blick des Globalen Südens auf die internationale Politik zu verstehen. So wurde beispielsweise im Globalen Süden das Ende des Kalten Krieges nicht als Beginn eines neuen Zeitalters der Demokratie und des Friedens wahrgenommen, sondern als eine „Zeit der fortgesetzten Abhängigkeit und sozio-ökonomischen Krisenerfahrungen“. Erschwerend kommt hinzu, dass es oftmals nicht nur die Krisen selbst, sondern auch die westlichen Krisenreaktionen waren, die die Probleme in den Entwicklungs- und Schwellenländern nochmals weiter verschärft haben. Johannes Plagemann und Henrik Maihack verweisen dabei etwa auf die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in den 1980er Jahren, den Impfstoff-Protektionismus Europas und der USA während der Corona-Krise oder die Folgen des maßgeblich vom Westen verursachten Klimawandels.
Denkmuster Europas
Auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde im Globalen Süden anders als in der westlichen Welt nicht als eine „globale Zeitenwende“ perzipiert. Stattdessen sehen die Regierungen im Globalen Süden den Krieg in Europa in erster Linie als ein internes Problem des Westens. So sagte etwa der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar beim GLOBSEC 2022 Forum in Bratislava: „Europa muss aus dem Denkmuster herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas“. Der Rezensent hat selbst erfahren müssen, zu welchen Anfeindungen die Einbeziehung der Sichtweisen des Globalen Südens in der innenpolitischen Debatte führt. Nachdem ich im Deutschen Bundestag darauf hinwies, dass zwar 141 Regierungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen einer Resolution zur Verurteilung des russischen Überfalls gefolgt waren, dabei aber die entscheidenden Länder sich der Stimme enthielten oder sogar dagegen stimmten, wurde mir eine Verharmlosung der Tat Putins unterstellt.
Insofern ist es gut, dass auch die Autoren differenzierter kommentieren und betonen, dass die Haltung außerhalb des Westens nicht als Zustimmung zu Russlands Krieg missverstanden werden dürfe. Vielmehr verweisen viele Länder des Globalen Südens darauf, dass sie durch die Nahrungsmittelinflation und die dadurch verschärfte Schuldenkrise in besonderer Weise von dem Krieg betroffen sind – und dass der Westen selbst das internationale Völkerrecht in der Vergangenheit lediglich selektiv angewandt hat. In der Tat hat der Westen durch die gescheiterten Interventionen im Nahen Osten und Afrika und durch die Missachtung internationaler Normen in den vergangenen Jahren wichtiges Vertrauen im Globalen Süden verspielt. Hinzu kommt, dass die internationalen Institutionen, wie die Vereinten Nationen, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank nach wie vor die globalen Mächteverhältnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges abbilden und nicht die von heute. So besitzt beispielsweise derzeit kein einziges afrikanisches Land einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, obwohl er „fast 70 Prozent seiner Abstimmungen zu bewaffneten Konflikten in Afrika durchführt“.
Interessen und Stimmen der Länder
Die Autoren fordern deshalb eine „Demokratisierung der internationalen Politik“. Die Verteidigung der multilateralen Ordnung wird nur gelingen, wenn es uns gelingt, inklusivere und demokratischere internationale Institutionen zu schaffen, die die Interessen und Stimmen der Länder des Globalen Südens besser repräsentieren. Gleichzeitig verweisen Johannes Plagemann und Henrik Maihack aber auch darauf, dass eine Welt, in der der Globale Süden ein größeres politisches Gewicht hat, nicht automatisch eine gerechtere Welt sein wird, denn viele Staaten des Globalen Südens werden nach wie vor autokratisch regiert. All dies zeigt: Auf die im Entstehen begriffene Weltordnung wird es keine einfachen Antworten geben. Umso wichtiger ist es allerdings, dass wir im Westen ein besseres Verständnis für die berechtigen Interessen und Anliegen des Globalen Südens entwickeln.
Mit dem Buch „Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens“ tragen Johannes Plagemann und Henrik Maihack auf kluge und differenzierte Weise dazu bei, die Perspektivunterschiede zwischen dem Globalen Süden und dem Westen aufzuzeigen, kritisch einzuordnen und zu erklären und leisten damit einen essentiellen Beitrag für die Entwicklung einer strategischen deutschen und europäischen Außen- und Entwicklungspolitik mit den Ländern des Globalen Südens. Der entscheidende Vorteil des Buchs ist neben der Aktualität, dass die Autoren aus ihren praktischen Erfahrungen jahrelanger Arbeit und des Zuhörens mit Vertretern des Globalen Südens berichten können. Insofern heben sie sich von denen ab, die zu selbsterklärten Experten wurden und nicht davor zurückschrecken, Begriffe wie „Kalter Krieg 2.0“ in die Debatte einzuwerfen, unwissend, wie der größere Teil der Welt auf eine schreckliche Epoche zurückblicken muss.
Zum Autor: Rolf Mützenich ist seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2019 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion