Von Willy Brandt stammt der Satz: „Der Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Wie wahr. Man könnte an dieser Stelle auch ein Wort von Brandts Parteifreund, dem ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann einflechten: „Der Frieden ist der Ernstfall.“ Ja, die Lage ist ernst in der Ukraine oder besser im Konflikt Russlands mit dem Nachbarn, den es ganz offensichtlich Richtung Westen zieht, was Wladimir Putin verhindern will. Mit aller Gewalt, wie er jetzt demonstriert hat. Der russische Präsident hat die Grenze zu einem militärischen Konflikt überschritten, erst hat er in einer Rede die Donbass-Regionen Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten anerkannt und dann Truppen in die Ost-Ukraine geschickt. Es wirkt wie eine Farce, wenn er seinen Einmarsch auf angebliche Bitten der Machthaber in diesen Gebieten stützt. Das klingt wie früher, Jahrzehnte früher, als die Sowjets Unruhen 1956 in Ungarn und 1968 in Prag niederschlugen und sich auf die Bitten ihrer KP-Brüder beriefen. Man nannte das Breschnew-Doktrin.
Die Situation ist da, las ich in einer Kolumne des Chefredakteurs der Neuen Westfälischen(Bielefeld), Thomas Seim, der sich auf ein Wort des ersten bundesdeutschen Kanzlers Konrad Adenauer berief. Die Situation ist da, weil Putin Fakten geschaffen hat. Wie vor ein paar Jahren, als es dem Kreml-Chef zu viel wurde mit den Osterweiterungs-Plänen von Nato und EU, weil diese Planspiele auch die Ukraine umfassten, altes russisches Land, wie Putin das sieht und sein Außenminister Lawrow, der der Ukraine das Recht auf Selbständigkeit abspricht. Hätte der Kreml-Chef dem tatenlos zugesehen, wäre am Ende dieser Strategie des Westens die Ukraine Mitglied der EU und der Nato, die Ostgrenze der westlichen Allianz um 1000 Kilometer Richtung Osten verschoben worden, Nato und Russland hätten eine gemeinsame Grenze gehabt. Kann man im Westen nicht verstehen, dass Russland sich Sorgen macht? Die Nato ist ein Militärbündnis, ja auch ein politisches, aber sie kommt nicht mit Blumen.
Chruschtschows Geschenk
Denken wir an die Krim, seit 1784 Teil Russlands und 1954 von KP-Chef Nikita Chruschtschow der Ukraine geschenkt. Sie wäre mit dem Hafen Sewastopol Teil der Nato geworden. Sewastopol, Standort der Schwarzmeerflotte. Die Gründe für Chruschtschows Handeln? Aus einer Laune heraus? Als Ausgleich für die Leistungen und Opfer der Ukrainer im Kampf gegen Hitler-Deutschland im 2.Weltkrieg? Egal, die Ukraine war Teil von Russland, der Sowjetunion. Nicht nur für Moskau ein Juwel, eine Art Riviera im Osten. Als Putin dann 2014 die Krim annektierte, kommentierte das Egon Bahr ganz trocken: Der russische Präsident habe Fakten geschaffen. Völkerrechtswidrig, tobte die westliche Welt, die Regierung in Kiew.
Der Westen möge allerdings seine Werte nicht so wie eine Monstranz vor sich hertragen. Da ist manche Heuchelei im Spiel. Man denke an Guantanamo. Oder den Einmarsch der USA in den Irak. Hat jemand damals Sanktionen gegen Washington gefordert? Wie war das mit Vietnam? Oder ganz früher mit den indianischen Ureinwohnern Nordamerikas?
Man hätte es kommen sehen müssen, wenn man sich in die Lage von Putin versetzt hätte. Russland ohne die Ukraine-wäre es so gekommen- sei nur noch die Hälfte wert, was Putins Ansehen in Moskau schwer zugesetzt hätte, kommentierte ein kluger Zeitgenosse. Kein Putin-Versteher.
Die Situation ist da, ungeachtet aller Bemühungen um De-Eskalation. Wer hatte nicht alles mit Putin geredet, mit ihm telefoniert: Biden, Scholz, Macron. Um die Gefahr abzuwenden, die man am Horizont aufziehen sah. Der Westen drohte seit längerem mit den härtesten Sanktionen für den Fall des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine, mit dem Aus für Nord Stream 2. Haben wir jetzt die Situation, den Ernstfall oder zählt das, was in der Ost-Ukraine passiert ist und wohl weiter passiert, nicht dazu? Weil es sich um selbständige Staaten handeln soll, die den großen Bruder in Moskau um Hilfe gebeten haben? Wäre das nicht ein zu billiger Trick, kein formaler Einmarsch? Keine Besetzung von Teilen der Ukraine? Bitte keine Scharfmacher-Rhetorik, keine Kalten Krieger.
Putin hatte zuvor eine im Ton sehr aggressive Rede gehalten, die Analytiker so auslegen, als wolle Putin das Rad der Geschichte zurückdrehen. Putin wolle Russland wieder als Weltmacht neben den USA, das sei in Wahrheit sein Anspruch, der hinter seiner Politik stecke. Er wolle den Einflussbereich Moskaus wieder erweitern, zurück zur Größe der Sowjetunion, deren Zerfall in seinen Augen eine Katastrophe gewesen sei. So seine Kritiker. Da wäre in diesem Zusammenhang zu erwähnen die Beleidigung, die der Präsident des größten Landes der Erde- und das ist Russland- durch den US-Präsidenten Obama erfuhr, als dieser die einstige Weltmacht Russland nur noch als Regionalmacht einstufte. Das hat ihn ins Mark getroffen. Putin-Kenner weisen auf seine Geltungssucht hin. Mag sein, dass das so ist. Wer ihn 2001 im Reichstag erlebt hat, würde das nicht so unterschreiben. Damals hat er das Bild seines Amts-Vor-Vorgängers Michail Gorbatschow übernommen, vom europäischen Haus gesprochen, in dem Russland gern ein Zimmer hätte. Damals sprach oder soll ich sagen träumte man von einer europäischen Sicherheitsstruktur, mit Russland und nicht gegen Russland. Auch wenn Gerhard Schröder im Augenblick nicht so gefragt und gelitten ist in der deutschen Öffentlichkeit: es wäre interessant, wie er Putin beschreiben und wie er den Einmarsch der Russen in die Ukraine einschätzen würde. Ja, ich weiß, Schröder ist ein Freund von Putin, er wird als Lobbyist beschrieben und beschimpft, weil er für russische Gas- und Ölfirmen tätig ist und dafür viel Geld bekommt. Abseits der Neid-Kommentare könnte seine Meinung hilfreich sein. Wer kennt schon Putin?
Existenzrecht der Ukraine
Den Menschen in der Ukraine das selbständige Existenzrecht zu bestreiten, ist kaum haltbar. Das wird er selber wissen, aber die mögliche Nato-Mitgliedschaft will Putin verhindern- sie steht ja auch, glaubt man den westlichen Führern, nicht auf der Agenda. Wir haben im Blog-der-Republik stets gegen Sanktionen plädiert, die nichts bringen außer die Debatte verschärfen, die Stimmung vermiesen und im Normalfall nur die Ärmsten der Armen treffen, während die Reichen immer einen Weg finden, um sich irgendwo mit ihren Dollars oder Euros einzukaufen. Natürlich ist Putins Vorgehen nicht zu rechtfertigen, kein Krieg ist zu rechtfertigen. Krieg zerstört, tötet, sorgt für Hass, vertieft die Gräben. Ich wiederhole gern, was Willy Brandt des öfteren gesagt hat: Solange geredet wird, wird nicht geschossen. Der Westen, Biden, Macron, Scholz und wie sie alle heißen, müssen Putin an den Verhandlungstisch zurückrufen, notfalls bitten.
Die Lösung darf nicht sein, was Kiew von Berlin fordert: Waffen aus Deutschland. Die würden sich im Ernstfall gegen Russland richten. Die Lösung ist auch nicht, was ich schon wieder las, dass die Nato-Mitgliedsstaaten ihre militärischen Anstrengungen verstärken, also mehr Waffen kaufen müssten. Mehr Waffen schaffen keinen Frieden. Man bedenke zudem, dass Russland eine Menge Atomwaffen hat, dass es nicht angebracht ist, zu zündeln. Kein Krieg, nirgendwo, natürlich auch nicht in der Ukraine und nicht um die Ukraine. Ein Krieg, das muss Putin wissen, das weiß jeder, kennt keine Sieger, nur Verlierer. Reden mit Putin, auf Augenhöhe, nicht vom hohen Ross des Westens, ohne Belehrungen, wie toll wir doch seien. Der Westen muss die Größe haben, auf Putin zuzugehen. Hans-Dietrich Genscher hat es kurz vor seinem Tod so gesagt, gewünscht, darum gebeten. Er wusste warum. Noch einmal: Der Frieden ist der Ernstfall. Ein Krieg ist unberechenbar, er kann wie ein Pulverfass in die Luft fliegen und all die treffen, die heute noch meinen, auf der sicheren Seite zu sein. Mit Putin reden, nicht mit dem Finger auf ihn zeigen, als wäre er der allein Schuldige. Denn wer mit dem Finger auf jemanden zeigt, muss wissen, dass drei Finger derselben Hand auf ihn zurückweisen.