- Rückblick: 2019 in Deutschland
Im nächsten Jahr, wohl im Juni, ist Europawahl. Dann geht die fünfjährige Amtszeit der jetzigen Kommission und des Europa-Parlaments zu Ende. Zu den Aufgaben, die sie sich programmatisch vorgenommen hatten, gehörte vor allem der „European Green Deal“. Die Verabschiedung von dessen Elementen befindet sich gegenwärtig auf der Zielgeraden, das gilt insbesondere für das klimapolitische Paket darin, mit dem Namen „Fit for 55“ (Ff55). Vieles ist nur informell als Ergebnis von „Trilog-Verfahren“ bislang festgeklopft, deswegen nur Spezialisten bekannt. Doch das, was unter Leitung von Kommission mit erheblicher Unterstützung durch das Parlament unter dem Widerstand beinahe aller zum Wandel gezwungenen Wirtschaftskreise durch die Gremien geschleust worden ist, ist bedeutend – nach meinem Urteil von säkularer Bedeutung.
Versetzen wir uns noch einmal zurück in das Start-Jahr 2019. Die Wahl zum Europäischen Parlament fand vom 23. bis 26. Mai 2019 statt. Nicht lange zuvor, im August 2018, hatte Greta Thunberg zum ersten Mal den Schulstreik für das Klima ausgerufen. Diese Idee hatte in ganz Europa eine breite Gefolgschaft gefunden, so auch in Deutschland, und war stark präsent in den Medien. Das Ergebnis der Europawahl war eindeutig und ein Schock für etliche Parteien: Die jungen Wähler-Kohorten waren weit überwiegend zu denjenigen Parteien übergelaufen, die das Klimathema priorisiert hatten.
In den darauffolgenden Monaten des Jahres 2019 gaben sich sämtliche Parteien, die im Deutschen Bundestag vertreten sind, ergänzende Programme , um dem manifestierten Anliegen der jungen Generation zu entsprechen – es zumindest zu signalisieren. In Deutschland wurde ein Klimakabinett gegründet, deren Agenda, so die bemerkenswerte Entscheidung von Bundeskanzlerin Merkel, durch ein Gutachten des Sachverständigenrates für Wirtschaft (sic!), nicht durch den Sachverständigenrat für Umweltfragen, vorbereitet wurde. Das Klimakabinett beschloss im September 2019, wofür der Rat der Wirtschaftsweisen sich stark gemacht hatte: Einen Preis für die CO2-Emissionen aus Millionen von Kleinquellen, im Verkehr und in Gebäuden einzuführen – umgesetzt in einer faktisch verbrauchsteuerlichen Form, als Preisaufschlag für Heizöl, Erdgas und fossile Treibstoffe. Als die Vertreter der Bundesregierung am 20. September 2019, einem Freitag, nach durchverhandelter Nacht morgens mit rotgeränderten Augen mit diesem Programm vor die Presse traten, waren draußen die Straßen schwarz von Menschen, die dem Protestaufruf von Fridays for Future gefolgt waren. Ein hochsymbolischer Moment.
Was die Bundesregierung da beschlossen hatte, war offenkundig verfassungswidrig – das Niveau der Entscheidungsvorbereitung durch den Rat der Wirtschaftsweisen war so gering gewesen, dass diese Warnung nicht auf dem Tisch des Kabinetts landete. Die FDP war verführt, die frisch beschlossene Maßnahme über eine Organklage zu Fall zu bringen. Doch der klimapolitische Imageschaden wog in der Abwägung letztlich doch höher – man verzichtete auf diesen Schritt. Heute, vier Jahre später, nachdem die Atmosphäre des Jahres 2019 vergangen ist, scheint die FDP in ihrer Not anders abzuwägen. - Der Start des Green Deal auf EU-Ebene
Auf EU-Ebene gab es eine erhebliche Verzögerung in der Bestellung der neuen Kommission. Es war zu einem inter-institutionellen Konflikt zwischen Rat und Parlament gekommen, weil der Rat das Ergebnis des Spitzenkandidaten-Prinzips nicht unbesehen um die damit erwählte Person mittrug. Erst im Dezember 2019 kam die neue Kommission unter Ursula von der Leyen ins Amt. Aber dann das vielsagende Ereignis:
Gleich am Anfang, bereits zehn Tage nach ihrer Amtsaufnahme, legte die Kommission ihre Mitteilung über den EU Green Deal vor. Das besagt: Die Arbeiten daran waren unabhängig von der Ausstattung der Kommission in ihren personellen Spitzen längst durchgeführt worden – so breit war der Konsens hinter diesem Anliegen, diesem Projekt. - Das Thema der Gelbwesten
Ein zweites Phänomen, dessen Anfang im Jahr 2019 liegt, sind die Gelbwesten (Gilets Jaunes) in Frankreich. Deren Massendemonstrationen starteten im November 2018 und zogen sich über das ganze Jahr 2019 hin. Zunächst richtete sich der Protest gegen ein Element im klimapolitischen Konzept der französischen Regierung, nämlich die Treibstoffe höher zu besteuern – also das, wozu die Wirtschaftswissenschaft die Politik in Deutschland zeitgleich gedrängt hatte. Alsbald aber wurde der Protest allgemeiner, er richtete sich gegen soziale Ungleichheit generell. Die Aktionen erschütterten das öffentliche Leben in Frankreich. Die politischen Kreise außerhalb Frankreichs waren sich dessen sehr bewusst, dass diese Bewegung auch auf die Nachbarländer übergreifen könnte. Das war dann nicht in vergleichbarer Heftigkeit der Fall, doch die Präsenz der drohenden Möglichkeit war dann wieder im Sommer 2022 zu erleben, als es um die Konsequenzen des Energiepreisanstiegs im Gefolge des Ukraine-Krieges ging. Da wurde in Deutschland tief in die öffentlichen Kassen gegriffen und der Beschluss des (Klima-)Kabinetts vom Oktober 2019 umgehend für ein Jahr ausgesetzt – statt zu sagen: Der Preisanstieg ist Teil des Opfers, welches wir für unsere Solidarität mit der Ukraine als Gemeinschaft zu tragen haben; Ausgleichsansprüche mit dem Argument „Inflation“ sind illegitim!
Insgesamt kann man sagen: Es gibt eine neue Aufmerksamkeit für wahrgenommene Ungerechtigkeit des „politischen Systems“ bei uns und dass dieses Empfinden aktivierbar ist über die sozialen Auswirkungen politischer Wende-Initiativen. Es handelt sich gleichsam um eine Glut, die jederzeit zu Flammen entfacht werden kann – und das einzige Mittel dagegen ist bislang, die Flammen mit viel Staatsgeld zu ersticken. Da auch Staatsgeld ein knappes Gut ist, kann das im Prozess vielfältiger Wenden im Kontext der Klimapolitik keine Lösung auf Dauer sein. Politischer Träger dieses Empfindens mit Latenz EU-Ebene ist bei uns in Deutschland die AfD. Da diese unter der Herrschaft eines schmuddeligen rechtsnationalen Flügels steht, erlauben sich Medien wie andere Parteien es sich, die Thematisierung vielfältiger Gerechtigkeitslücken bzw. Privilegierungen der Oberen bei uns durch die AfD nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Im Hintergrund der Gelbwesten-Proteste steht ein Thema, welches mit der Finanzkrise 2009 hochgekommen ist und seitdem immer wieder die öffentliche Debatte bewegt: Die massive und vor allem zunehmende Ungleichheit der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen. Dabei scheint es zwar auch darum zu gehen, dass die Unteren mehr für sich wollen; doch mit dieser Betonung des Eigeninteresses trifft man den Punkt des Ärgernisses in dieser Auseinandersetzung nicht wirklich. Wirklich abstoßend sind die Privilegierungen der Oberen sowie das offenkundige Desinteresse der Mächtigen, wenn es um Durchsetzung des Legalen und Beschneidung des Illegitimen bei den Ihrigen geht. - Der Ursprung: die „one percent“-Bewegung in den USA
Dieses Thema kam aus den USA zu uns, in der Form des Begriffs der „one percent“ – oder komplementär ausgedrückt als „We are the 99%“ von der „Occupy Wall Street“-Bewegung. Damit ist darauf verwiesen, dass ein immer größerer Teil des Volkseinkommens und des Volksvermögens in immer weniger Händen konzentriert ist. Man könnte auch sagen: Eine Tendenz zur „Oligarchisierung“ ist auch in den USA wahrnehmbar. Und sie ist in den USA auch wahrscheinlich bzw. zwangsläufig, seitdem dort, durch Entscheid des Obersten Gerichts, die Kaufbarkeit von Politik mittels „PACs“ möglich gemacht wurde.
Das „one percent“-Thema ist inzwischen auch institutionell etabliert. Regelmäßig erscheint der „Inequality World Report“ und der „Survival Of The Richest Report“ . An der Paris School of Economics wurde ein World Inequality Lab eingerichtet.
Es passte also zu den Schwerpunktthemen des Jahres 2019, dass die neu berufene Kommission als ihr politisches Manifest den EU Green Deal vorlegte. Das „Green“ steht als Antwort auf die klima- und umweltbedingten Herausforderungen, deren Bewältigung erklärtermaßen „die entscheidende Aufgabe dieser Generation“ ist. Der „Deal“ steht in Rooseveltscher Tradition für den nachholenden sozialen Ausgleich.
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