Der Busfahrer in Compiègne, einer Kleinstadt 80 Kilometer nördlich von Paris, direkt an der Oise gelegen, zuckt die Schultern, als ich ihn nach dem Waffenstillstandsmuseum frage. Ob er dort hinfahre? Nein. Er kennt den Ort genauso wenig wie seine Kollegen. Schade, denn das Fahren mit öffentlichen Bussen in dieser Stadt ist umsonst. Schließlich fragen wir die Dame am Fahrkartenschalter im Bahnhof, die sonst Fahrkarten verkauft und Auskünfte über die Ankunfts- und Abfahrtzeiten gibt. „Mit dem Taxi kommen Sie dahin. Rund 15 Kilometer entfernt von hier.“
Compiègne ist bekannt in Frankreich, wenn man so will historisch berühmt. Hier wurde im 18. Jahrhundert für Ludwig XV ein klassizistisches Schloss gebaut, das Napoleon Bonoparte 1810 kurz nutzte, um seine spätere Frau zu begrüßen. Napoelon III ließ es ausbauen zu seinem Hauptsitz. Das Schloß gehört neben Versailles und Fontaineblau zu den bedeutendsten Schlössern und kaiserlichen Residenzen im ganzen Land. Der Wald vom Compiègne ist begehrt von Jägern, worauf Verzierungen mit Jagdmotiven an den Häusergiebeln hinweisen. Auch Radfahrer schätzen die Wege durch die Wälder. In Compiègne grüßt von einem reiterlichen Standbild Jeanne D Árc, in Erinnerung daran, dass die Jungfrau von Orleans im Mai 1430 vor den Mauern der Stadt von den Burgundern gefangengenommen und an die Engländer ausgeliefert wurde. Und dann gibt es noch eine berühmte Kirche aus dem 13.Jahrhundert. Die Stadt hat einiges zu bieten. Fast hätte man uns gefragt, was wir denn da draußen im Walde verloren hätten.
Das Museum, diese Lichtung irgendwo im Wald mit dem Eisenbahn-Wagen und den Denkmälern sowie den Waffen wird nur von wenigen angefahren. Hier sagen sich Fuchs und Igel gute Nacht. Der Taxifahrer, ein Vater von drei Kindern, kennt sich aus und wundert sich über das spezielle Interesse dieser deutschen Touristen. Die Fahrt mit dem Taxi kostet 15 Euro. Und man muss sich im Museum ein Taxi für die Rückfahrt rufen lassen. Es ist einsam da draußen. Nur ein paar Autos fahren vorbei, auf dem Parkplatz stehen wenige PKW. Im Museum begegnen wir einer Handvoll Besucher.
Der Wagen von Compiègne, der Eisenbahnwagen, hat historische Bedeutung. Als Speisewagen gebaut und eingesetzt, wurde er in ein Büro des Marschalls Foch umgewandelt, der ihn in den Herbstmonaten 1918 und 1919 nutzte. In ihm wurde im November 1918 der Waffenstillstand unterzeichnet, der den Ersten Weltkrieg, für die Franzosen der Grande Guerre, beendete. Der Wagen von Compiègne wurde so etwas wie das mobile Büro der Entente, die Gewinnerin dieses Krieges. Wobei vor allem Frankreich seinen Marschall Foch als solchen feierte. Hier musste das Deutsche Reich seine Niederlage unterschreiben, dies fiel dem Staatsekretär Matthias Erzberger zu. Im Zug wird genau festgehalten, wer wo saß, der Vertreter Frankreichs, der des Deutschen Reiches und die anderen Repräsentanten der Entente.
Am 22. Juni 1940 drehte Adolf Hitler den Spieß um und sorgte nach dem siegreichen Überfall auf Frankreich dafür, dass genau hier in demselben Wagen die Kapitulation Frankreichs gegenüber dem Deutschen Reich durch die Generäle Wilhelm Keitel auf deutscher und Charles Huntziger auf französischer Seite unterzeichnet wurde. Dafür musste der Waggon extra aus einem Museum geholt werden, in dem ihn die Franzosen abgestellt hatten.
Man wird hier in Compiègne an beide Kriege erinnert, an die so genannte Erzfeindschaft zwischen den beiden Nachbarn Frankreich und Deutschland, die längst miteinander befreundet sind und die Achse Europas bilden. Auf der Lichtung steht ein übergroßes Denkmal von Marschall Foch, ein anderes Denkmal erinnert an die deutsche Niederlage gegen die Entente: ein deutscher Adler, der von einem französischen Schwert durchstochen wird. Man sieht Waffen, die im Krieg eingesetzt waren, man stößt auf die Namen der Schlachtfelder, kleine Kanonen sind ausgestellt, man liest von den vielen Toten, die es auf beiden Seiten gab, wie sie sich in den Gräben von Verdun vergruben und sich gegenseitig umbrachten. Tausende und Abertausende. Dabei waren die deutschen Soldaten schon fast bis Paris, genauer bis Senlis, ein Ort auf halber Strecke zwischen der Hauptstadt und Compiegne. Man liest von den französischen Helden der Nation, die das Elsaß und Lothringen befreiten.
In Compiègne gab es im Ersten Weltkrieg ein großes Lazarett und in den Jahren 1917/1918 befand sich hier das Große Hauptquartier der französischen Armee.
Man sieht an anderer Stelle Hitler und Göring und andere Nazi-Größen, wie sie 1940 den Wagen bestiegen. Man liest die Propaganda, die die Nazis aus diesem Ereignis für sich entwickelten.
Compiègne wurde unter der Herrschaft der Nationalsozialisten auch berühmt-berüchtigt. Hier ließen die Nazis ein Transit- und Internierungslager errichten und zwar von 1941 bis Sommer 1944. Der erste Zug mit politischen Häftlingen verließ die Gegend um Compiegne am 6. Juli 1942. Das Ziel: Das Vernichtungslager Auschwitz, in dem Millionen Menschen, vor allem Juden vergast wurden.
Von dem berühmten Eisenbahnwagen ist allerdings kaum etwas übriggeblieben. Der Wagen selber wurde 1940 als Kriegsbeute nach Berlin gebracht und später nach Crawinkel in Thüringen ausgelagert, wo er gegen Kriegsende zerstört wurde. In der heutigen Gedenkstätte steht ein Salonwagen, der aber ein baugleiches Modell des historischen Waggons ist. Nur winzige, bedeutungslose Einzelteile sind erhalten und ausgestellt.
Als Zeichen der Verbundenheit zwischen Frankreich und Deutschland wurde gegenüber dem Foch-Denkmal eine Eiche gepflanzt, die man dem Wald von Crawinkel entnommen hat.
Es war kein siegreicher „Überfall“,
sondern Frankreich erklärte dem Reich den Krieg, den sie in nur sechs Wochen verloren!