Mein Blogbeitrag unter der Überschrift „Fritz Bauer hatte Recht!“ hat Aufmerksamkeit erfahren: Er wurde gelesen und mit einem Kommentar versehen. Das freut mich; zugleich möchte ich auf einen Punkt erwidern.
Der unter dem Namen Werner Renz verfasste Kommentar lautet wie folgt:
„Ich stimme Ihnen in allem zu. Siehe meine Monografie ‚Auschwitz vor Gericht‘ (Hamburg 2018, EVA). Doch macht es Sinn, Bauer, der nicht Prozessbeteiligter war, nicht Anklagevertreter, ‚Chefankläger‘ zu nennen? Die vier Anklagevertreter in der HV hätten sich diese heute so gängige Überhöhung Bauers verbeten. Bauer bedarf der Ikonisierung nicht.“
Ich gehe davon aus, dass es sich bei dem Kommentator um den bekannten Germanisten und ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts Werner Renz handelt. Insofern freut es mich, dass ein so profunder Kenner der Materie meine Ausführungen gelesen hat und mir „in allem“ zustimmt. Schließlich ist es nur richtig und gut, wenn unterschiedliche Professionen an der Bewertung der Ereignisse und Personen mitwirken – hin zu einer ganzheitlichen Betrachtung.
Als diskussionswürdig empfinde ich die vom Kommentator aufgeworfene Frage, inwiefern man Fritz Bauer als Chefankläger bezeichnen sollte beziehungsweise kann, zumal der Kommentator mit Recht darauf hinweist, dass es sich um eine „heute so gängige“ Bezeichnung handelt.
Um es gleich vorwegzunehmen: Ich denke, dass es sich hierbei um ein leicht auszuräumendes Missverständnis handelt. Ich hatte geschrieben, dass der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer als Chefankläger am ersten Frankfurter Auschwitzprozess beteiligt war. Und dabei bleibe ich auch, und zwar mit der erläuternden Ergänzung, dass sich die Bezeichnung „Chefankläger“ allein auf das Amt des Generalstaatsanwalts bezieht. Kurzum: Generalstaatsanwälte sind für mich Chefankläger – damals wie heute.
In dieser Sichtweise fühle ich mich bestätigt mit Blick auf die Behördenstruktur: Staatsanwaltschaften sind und waren hierarchisch aufgebaute Behörden. Passend dazu sowie zur Vorschrift des § 147 GVG, insbesondere zur Rolle des Generalstaatsanwalts, heißt es bei Brocke (in: MüKoStPO, 1. Aufl. 2018, GVG § 147 Rn. 4):
„Dem Generalstaatsanwalt steht gem. Nr. 3 [Anm.: gemeint ist § 147 Nr. 3 GVG ] das Recht zur Aufsicht und Leitung gegenüber den ihm nachgeordneten Beamten bei der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht (§§ 142 Abs. 1 Nr. 2, 144) sowie gegenüber allen weiteren Staatsanwälten bei den Landgerichten des oberlandesgerichtlichen Bezirks einschließlich der Amtsanwälte zu.“
Hinzu kommt, dass der Begriff „Chefankläger“ nicht nur in den Medien (wie bereits eine kurze Google-Suche belegt), sondern auch in der Juristenwelt schon länger eine gängige Bezeichnung für den zuständigen Generalstaatsanwalt ist. Siehe exemplarisch die Nachricht der beck-aktuell-Redaktion vom 25. November 2004 (becklink 131530 ), wo es heißt: „(…) betonte Sachsen-Anhalts Chefankläger (…)“, sowie den Beitrag vom 3. November 2022 auf der Homepage des sächsischen Justizministeriums zur Amtseinführung des neuen Generalstaatsanwalts, wo man Folgendes liest: „Justizministerin Katja Meier gratulierte Martin Uebele und unterstrich seine Stärken als neuer Sächsischer Chefankläger (…)“. Interessanterweise stößt man, wenn man den Suchbegriff „Chefankläger“ mit Fritz Bauer verbindet, auch auf einen Online-Beitrag von Werner Renz vom 5. Januar 2019. Der Beitrag trägt den Titel „Fritz Bauers Verschwinden aus der Öffentlichkeit“ und wird auf der Homepage der Frankfurter Rundschau mit folgenden Worten eingeleitet:
„Vor 50 Jahren starb der Jurist Fritz Bauer, Chefankläger im Frankfurter Auschwitzprozess. Auf dem Gebiet der Verfolgung und Ahndung der NS-Verbrechen gab es nach Bauers Tod einen Rückschritt.“
Darüber hinaus sei betont, dass es mir nicht um Ikonisierung oder um Überhöhung Bauers gegenüber den Sitzungsvertretern der Staatsanwaltschaft im Auschwitzprozess geht, sondern um die Anerkennung seiner Lebensleistung. Dazu gehört auch Bauers juristisches Wirken im Rahmen der Frankfurter Auschwitzprozesse.
Im Ergebnis kann ich mich dem Befund von Renz (in: Recht und Politik 2019, 285, 296) daher nur anschließen:
„Bauer ist fraglos ein Vorbild.“
Na klar, Bauer ist fraglos ein Vorbild.
Deshalb haben ja viele von uns in den 1960/70er Jahren Jura studiert. Und in der public history ist Fritz Bauer über drei Erinnerungsgenerationen hinweg DER Held in der Meistererzählung von der erfolgreichen Auseinandersetzung unserer Gesellschaft mit den Verbrechen des NS-Staates.
In der jungen BRD war er derjenige, der die Strafverfolgung von NS-Tätern in Gang setzte. 20 Jahre später in den 1980er Jahren war die neu entstandene Aufklärungs- und Aufarbeitungsbereitschaft häufig mit der Erinnerung an ihn verbunden. Wiederum 20 Jahre später in den Kino-Filmen der Jahre nach 2000 traten weitere zeitgeistorientierte Alleinstellungsmerkmale („Der schwule Generalstaatsanwalt“, „Der Nazi-Jäger“) hinzu. Und heute – erneut 20 Jahre später – ist der Blick manchmal noch verklärender.
Diese public history hat mit der historischen Wahrheit aber in mancher Hinsicht wenig zu tun. Richtig ist: Ohne Fritz Bauer hätte schon der Remer-Prozess in Braunschweig und die damit verbundene Rehabilitierung des 20. Juli 1944 nicht stattgefunden, ohne ihn hätte Eichmann in Jerusalem nicht vor Gericht gestanden, ohne ihn hätte es den Auschwitz-Prozess nicht gegeben, und ohne Bauer wäre der gesellschaftliche Prozess der Auseinandersetzung mit dem NS-Staat vermutlich noch später auf die Tagesordnung der politischen Diskussion in Westdeutschland gekommen. Bauer ist dafür verantwortlich, dass es mit dem Auschwitz-Prozess diesen Wendepunkt in der deutschen Geschichte gegeben hat. Und auch ihm ist zu verdanken, dass diese Gesellschaft bis heute daran festhält: Nicht wegsehen und – bezogen auf das, was in deutschem Namen geschehen ist: Nie wieder!
Bei dieser Meistererzählung von der erfolgreichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gerät aber in Vergessenheit: Von heute geschätzt mehr als 200.000 NS-Tätern sind in der Bundesrepublik etwa 6.500 (in der DDR weitere etwa 13.000) verurteilt worden. Die übrigen Täter waren unter uns.
Und was Bauer angeht: Er hat als Generalstaatsanwalt – „Chefankläger“ hin oder her – etwa 100 Verfahren gegen hochbelastete Juristen des NS-Staates in den Jahren nach 1960 höchstpersönlich eingestellt (siehe dazu auch „Einsicht 14“, Bulletin des Fritz Bauer Institutes, S. 40 ff.). Er hat sich auch in seinem engsten beruflichen Umfeld für Justiz-Täter eingesetzt, deren Belastung er genau kannte. Dafür mag es verschiedene Gründe geben. Vielleicht hätte die Justiz eine gründlichere Strafverfolgung auch gar nicht leisten können. Möglicherweise erklärt das, warum Bauer Verfahren gegen evident hochbelastete Juristen einstellte und warum er schon hinsichtlich der Auschwitz-Prozesse der Auffassung war, dass die eingeleiteten Verfahren nur exemplarischen Charakter haben könnten, denn angesichts der Mitwirkung von so vielen Deutschen an den Verbrechen könnten die wenigen Angeklagten nur eine Sündenbockfunktion erfüllen.
Werner Renz hat schließlich vor allem darin recht: Bauer bedarf der Ikonisierung nicht! Insoweit sei dem Blog-Verfasser und Kollegen aus Magdeburg mein Interview „Reine Helden braucht nur die Ikonographie“ in Betrifft JUSTIZ 2016, S. 40 ff. bzw. NRV-Info 09/2016, S. 12 ff. zur Lektüre empfohlen.
Leserinnen und Leser des „Blogs der Republik“ sei die zweibändige Edition von Bauers „Kleine Schriften“ (2018) empfohlen, mittlerweile vom Campus-Verlag online frei zugänglich gemacht. Siehe auch meine Würdigung „Fritz Bauer – Streitbarer Jurist und leidenschaftlicher Aufklärer“ (Bonner Rechtsjournal, 02/2023, S. 128-133).