Herbst 2023. Die jüdische Gemeinde in München wird „mit einem dringenden Hinweis“ aufgerufen, bestimmte Plätze in der Stadt zu meiden. Zu meiden seien vor allem die Routen propalästinensischer Kundgebungen. Im Herzen der Stadt, da, wo sie seit einigen Jahren wieder ihre Synagoge haben nebst ihrem Gemeindezentrum, sollen die Jüdinnen und Juden wieder aufpassen, so der Tenor des Leiters der Sicherheitsabteilung der Israelitischen Kultusgemeinde. Also auch Verzicht auf Kippa und die Kette mit Davidstern, wie in anderen Städten auch, lese ich daraus. Der Hinweis macht beklommen, wenige Tage vor dem 9. November, weil man an diesem Tag als Jude zurückblickt auf den November 1938, als München den wenig ruhmreichen Titel trug „Hauptstadt der Bewegung“, gemeint der Nazis und ihrer Schlägerbanden. Die Nazis nannten die „Reichspogromnacht“ spöttisch „Reichskristallnacht“ und ließen die Juden den millionenfachen Sachschaden, den die Braunhemden von SS und SA angerichtet hatten, selber bezahlen. Eine Milliarde Reichsmark. Tausende wurden verhaftet, landeten im KZ Dachau, Hunderte wurden ermordet. Rund 1000 Synagogen, Betstuben und Gemeindehäuser brannten nieder oder wurden zerstört.
Ich habe gerade das Buch von Charlotte Knobloch „In Deutschland angekommen“ gelesen, wieder mal. Es ist 2012 erschienen. Das Buch beginnt mit den Nachtgedanken einer Frau in der Nacht vom 8. zum 9. November 2006. Trotz Müdigkeit kann Charlotte Knobloch nicht einschlafen, Bilder ihres Vaters, der Großmutter tauchen auf, ihr Mann Samuel, die drei Kinder. „Doch ich sehe auch, wie die Flammen aus der Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße schlagen, wie ich es Kind erleben musste. “ Dann denkt sie an Heinrich Heine, ihren deutschen Lieblingsdichter. „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Ironisch sprach Heine von einem gesunden Land, das zersplittert war, dessen Bürger unterdrückt wurden. Stunden später, Charlotte Knobloch steht vor einem ihrer wichtigsten Termine, der Einweihung der neuen Synagoge, kommen ihr die weiteren schweren Gedanken, als die jüdische Gemeinde in München von den Nazis ausgelöscht wurde, als sie an der Hand des Vaters auf der Flucht war.
„Ich bin sechs Jahre alt. An der Hand meines Vaters irre ich durch die Straßen. Ich muss mich anstrengen, um mit Vater Schritt zu halten. ..Ich darf nicht stürzen. Wir dürfen nicht auffallen. Wir sind auf der Flucht. Mitten in unserer Stadt, in München.“ Lärm und Geschrei überall in Deutschland, auch in München, das Geräusch von Glas, das auf Bürgersteigen in unzählige Scherben birst. Das Krachen prasselnder Flammen, herabstürzender Balken. Und Menschen, die johlen: „Juda verrecke! Das Grölen schmerzt mich. Manche Leute klatschen und lachen. Der beißende Geruch von Feuer durchringt die Luft des Novemberabends.“
Kind voller Angst
Das Kind ist voller Angst. Der Vater hat ihr eingeschärft, als sie ihr Haus am Bavariaring verließen: „Nicht stehen bleiben, Charlotte! Wir dürfen nicht stehenbleiben!“ In ihren eigenen vier Wänden seien sie nicht mehr sicher. Deshalb tauchen sie ein in Menschenknäuel, sehen in die Gesichter der Menge, sehen, wie einige sich bedienen, als die Scheiben von Geschäften kaputt geschlagen sind, jüdische Geschäfte sind beschmiert mit Davidsternen, Hassparolen. Regale sind umgeworfen, Waren liegen am Boden. „Nicht stehen bleiben. Jemand könnte uns erkennen.“ So geht diese Schilderung weiter. Als Leser ist man erschüttert. Angekommen in Deutschland?
Ich habe in Erinnerung, wie diese ehrwürdige Frau, Jahrgang 1932, einst Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde München und Oberbayern, davor Präsidentin des Zentralrats der Juden, auf den wieder erstarkten Antisemitismus in Deutschland, in Bayern, in München vor Jahr und Tag reagierte, die Frau, die den Mut nicht verlor und im bayerischen Landtag vor einiger Zeit den Rechten die Leviten las. „Heute und hier ist eine Partei vertreten, die Verbrechen der Nationalsozialisten verharmlost“. Gesprochen auf einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus. Daraufhin verlässt die AfD-Fraktion den Saal. „Diese sogenannte Alternative für Deutschland gründet ihre Politik auf Hass und Ausgrenzung und steht -nicht für mich- nicht auf dem Boden unserer demokratischen Verfassung.“ Und: „Es ist unsere Verantwortung, dass sich das Unvorstellbare nicht wiederholt.“ Sagt die Frau, die als kleines Mädchen 1938 nicht versteht, warum man ihren so geliebten Onkel Hugo Rothschild mit Fußtritten verletzt. Blutverschmiert sieht sie ihn, muss aber weiter, darf nicht anhalten, ihn trösten, ihm helfen. Warum tun sie das? fragt das Kind. Sie eilen weiter, den Oberanger hinunter, es ist ihr Schulweg. Dann sind sie in der Herzog-Rudolf-Straße, da ist ihre Schule, die jüdische Grundschule. Daneben steht die Synagoge, aus den Fenstern züngeln Flammen, SA-Leute werfen Gebetbücher und Thorarollen aus die Scheiterhaufen. Warum ist keine Feuerwehr da? Hat sie keiner gerufen? „Kümmert es niemanden, was mit den Juden, ihren Synagogen und Geschäften mitten in München geschieht? Vater zieht mich weiter.“ Es ist eine bedrückende Schilderung, die einen mitnimmt. Ich kenne München, habe dort studiert, Freunde dort, München, die Stadt der Kunst und einer gewissen Leichtigkeit. Aber oft habe ich mich gefragt, wie konnte es passieren, dass diese braunen Barbaren, Schreihälse, Schläger, die Oberhand in dieser schönen Stadt gewannen?
Ich kann Charlotte Knobloch jetzt nicht fragen, was ihr heute durch den Kopf geht angesichts solcher Vorkommnisse, wie sie jetzt wieder in Deutschland passieren, angesichts antisemitischer Schmierereien, Drohungen gegen Juden, einer Partei wie der AfD, die in allen Parlamenten sitzt und die einen Björn Höcke in ihren Führungsgremien hat, den man laut Gericht einen Faschisten nennen darf. Aber ich kann verstehen, dass sich Angst breit macht bei Menschen jüdischen Glaubens, die Sorge aufkeimt, dass aus dem „Nie wieder“ ein „Schon wieder“ oder „Immer wieder“ werden könnte. Ist es wieder so weit, dass Jüdinnen und Juden Angst haben müssen, weil sie Juden sind?
Für mich ist es unfassbar, was da wieder passiert, wenn ich daran denke, was unter der Diktatur der Nazis alles geschehen ist. Es macht mich sprachlos, dass einer wie Hubert Aiwanger auf vermehrte Zustimmung stieß, obwohl man ihm zumindest anlasten darf, ein ekelhaftes, antisemitisches Flugblatt in der Schultasche getragen zu haben, wenn auch als 17jähriger Schüler. Ober muss ich zuspitzen, weil? Dass dieser Aiwanger nicht in der Lage war, sich frühzeitig und glaubhaft von diesem Schmutzblatt zu distanzieren, hat mich geschockt. Und dass dieser Chef der Freien Wähler mitten in dieser Affäre, die seinen Namen trug, wieder auf die Podien der Bierzelte stürmte und seine Parolen ins Wahlvolk dröhnte, hat mich entsetzt. Und dass er dann noch mit mehr Stimmen der Wähler belohnt wurde, erneut mit der CSU die bayerische Staatsregierung bilden konnte mit ihm, Aiwanger, als Minister und stellvertretendem Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, lässt mich ziemlich verzweifeln. Macht geht vor Moral, wollte uns Markus Söder wohl damit signalisieren. Wer dieses schmutzige Schauspiel verfolgt hat, den wundert nichts mehr. Dass Charlotte Knobloch Aiwangers angebotene Entschuldigung nicht annahm, fand ich richtig. Von wegen Demokratie zurückholen! ,
Im Land der Täter
Ich bewundere den Mut von Charlotte Knobloch, dass sie in München geblieben ist, im Land der Täter, die den Jüdinnen und Juden das Leben damals zur Hölle machten. Fritz Neuland, der Vater, war für seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg mit Orden ausgezeichnet worden. Der Jurist Neuland war ein angesehener Anwalt in der bayerischen Metropole, seine Kanzlei am Stachus erfolgreich. Neuland traut den Nazis nicht, dem Adolf Hitler, aber er verlässt sich auf die deutsche Rechtsprechung. Ja, hätten nur alle „Mein Kampf“ gelesen, dann hätten sie gewusst, was dieser braune Geselle vorhatte. Und es dann umsetzte. So die Verfolgung der Juden, den Entzug aller Rechte, er machte sie vogelfrei, Ärzte und Anwälte verloren ihre Stellungen, sie durften nicht mehr mit der Trambahn fahren, noch sich auf Bänke setzen, sie wurden enteignet. Ein Prozess, der über Jahre lief. Der 9. November 1938 war ein Höhepunkt bei der Jagd der Nazis auf Juden. Knobloch schildert die Vorgeschichte mit der Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst von Rath durch Herschl Grynzspan, eine Reaktion auf die über Nacht erfolgte Ausweisung von 15000 jüdischen Polen aus Deutschland ins deutsch-polnische Niemandsland. Hitler und Goebbels feierten im Münchner Alten Rathaus wie jedes Jahr ihren gescheiterten Putsch vom 9. November 1923. Dann kam die Nachricht aus Paris. Goebbels, wohl von Hitler inspiriert, verließ den Ort und organisierte den „Volkszorn“ gegen die Juden, den die Nazis seit langem mit antisemitischen Parolen und Erlassen geschürt hatten.
Dann beschreibt Charlotte, was passiert. „Vater heißt mich, sofort meinen Mantel anzuziehen. Wir müssen unsere Wohnung verlassen. Zu dieser Stunde? Vaters Gesicht lässt keine Zeit für Fragen. Später erzählte er mir, er habe eine Warnung erhalten, man würde ihn in dieser Nacht holen.“ Man läuft los, aber nicht in Richtung Kanzlei, weil der Vater ein ungutes Gefühl gehabt habe. Er ruft von unterwegs in der Kanzlei an und fragt nach sich selber. Eine Stimme in schneidigem Ton antwortet ihm, Neuland sei nicht da, den würden sie noch zu fassen kriegen. Die SA hatte meinem Vater in der Kanzlei aufgelauert.“
Später, als die Transportzüge in die Konzentrationslager rollen, auch die geliebte Großmutter wird abgeholt, gelingt es dem Vater, die Tochter auf einem Bauernhof in Franken zu verstecken. Bei einer Familie Hummel, die Tochter Kreszentia, genannt Zenzi, war einst Dienstmädchen im Haus des Onkels von Charlotte Knobloch. Die nimmt sie auf, unter verändertem Namen Lotte Hummel als deren uneheliches Kind, was im ziemlich braunen Dorf Gunzenhausen nicht gelitten ist. Dort lebt sie in einer kleinen Kammer, mit Plumpsklo, bescheiden, wartet auf das Ende des Krieges, die Amerikaner kommen. Dann der Vater, der sie zurück nimmt ins zerbombte München. Schilderungen, die den Leser berühren.
Nürnberger Rassegesetze
Charlotte beschreibt die Nachkriegszeit, erwähnt die vielen Opfer des Krieges, kaum eine jüdische Familie, die nicht Tote zu beklagen hat, Vater, Mutter, Kinder, die Nazis ermordeten, wen sie zu fassen kriegten. Und die Täter kamen oft davon, sogar die Richter des berüchtigten Volksgerichtshofs durften später wieder richten. Kritisch geht Charlotte auch mit Konrad Adenauer um, weil er einen Globke, den Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, zum Chef des Kanzleramtes machte. Es ist ein Teil der Geschichte der Bundesrepublik und wie sie umging mit der Nazi-Zeit. Die Verhaftung von Adolf Eichmann, dem Macher des Holocaust beschreibt sie ebenso wie die Auschwitz-Prozesse. Ausländerfeindlichkeit spart sie nicht aus, sie beschreibt die Anschläge auf jüdische Einrichtungen wie auf Heime mit Fremden, nennt Hoyerswerda, Mölln, Solingen. Und dann ist da natürlich die Geschichte des Landes Israel und die Kriege im Nahen Osten, die Politiker Golda Meir, Menachem Begin, Präsident Weizman, ein jahrzehntelanger Existenzkampf, wobei sie das Leid der Palästinenser nicht vergisst.
Der Leser stellt sich am Ende des Buches auch die Frage, die die Autorin Charlotte Knobloch stellt. Warum sie in dem Land lebt, von dem der Völkermord seinen Ausgang nahm? Und in dem der Antisemitismus sich wieder ausbreitet, der Hass auf Juden. Noch einmal zurück ins Jahr 2006, 9. November. 68 Jahre nach dem Pogrom. „Ich will die Bilder, als ich an meines Vaters Hand durch die Straßen flüchtete, nicht wegdrängen. Sie gehören zu meinem Leben. Doch ich habe die Angst überwunden. Wer diese seelische Not erlebt und sie verarbeitet hat, hat den Mut der Freiheit gewonnen. Und den Mut, immer wieder aufzustehen und neu zu beginnen.“
Sätze von damals, aufgeschrieben in einem Buch aus 2012 von einer Frau, die mit vielen Ehrungen ausgezeichnet wurde, sie ist Ehrenbürgerin der Stadt München, sie hat das Große Verdienstkreuz erhalten, den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder(CSU) hat sie als ihren Schutzpatron gewürdigt, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sie geehrt. Und die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Existenz Israels zur Staatsräson der Bundesrepublik erhoben. Und hinzufügen möchte ich noch den Appell des Grünen Vizekanzlers Robert Habeck, den ich so zusammenfasse: Keine Toleranz den Feinden der Demokratie, keine Toleranz den Intoleranten. Respekt vor dieser Frau! Was sie noch sagte: Nicht resignieren, sondern aufstehen.
Charlotte Knobloch mit Rafael Seligmann: In Deutschland angekommen. DVA München 2012. 332 Seiten. ISBN 978-3-421-04477-8