Der 8. und der 9. Mai sind in weiten Teilen Europas Tage der Erinnerung, des Aufatmens, der Befreiung. Es war der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der am 8. Mai 1985, 40 Jahre nach dem Ende des 2.Weltkrieges, das Wort vom Tag der Kapitulation des Deutschen Reiches ersetzte durch die Formulierung: es sei ein Tag der Befreiung vom Joch der Nazi-Diktatur durch die alliierten Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich. Ein Begriff, den Wochen vorher Bundeskanzler Helmut Kohl bei einer Rede in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen verwendet habe, woran Kohl-Freunde gern erinnern. Egal, durch Weizsäckers Rede wurde es weltweit verbreitet: Befreiung statt Kapitulation. Will sagen: Die Deutschen hätten zu danken für die Hilfe der Mächte, die dafür Millionen Opfer gebracht hatten. Der 9. Mai ist der Tag, an dem in der Sowjetunion und im heutigen Russland der Sieg über den Faschismus gefeiert wird.
Wer je die Gelegenheit hatte, im Sowjetreich diesen Tag zu erleben, wird das nicht vergessen. Wir, eine Bonner Journalisten-Gruppe, waren vor Jahren am 9. Mai in St. Petersburg, waren auf dem Friedhof, wo Tausende und Abertausende von toten Soldaten und Zivilisten beerdigt sind. Wo an dem Tag die ganze Stadt auf den Beinen ist, die Alten in ihren Uniformen, bestückt mit allen Ehrenabzeichen, die Jungen im Sonntagsstaat. Man legt Blumen und Kränze nieder, ja man gedenkt der Toten und feiert den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg über Nazi-Deutschland, das die Sowjetunion 1941 überfallen hatte und bis kurz vor Moskau gekommen war. Allein durch die Blockade von Leningrad-so hieß Petersburg einst- wurden eine Million Menschen getötet, sie verhungerten, erfroren, weil Hitler die Vernichtung wollte.
Ich erwähne das aus guten Gründen, ehe ich später auf Putins Rede in Moskau am 9. Mai 2023 eingehe. Übrigens stammt Putins Familie aus St. Petersburg. An der Blockade der Stadt-vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944- war der Offizier Richard von Weizsäcker beteiligt wie auch der Offizier Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler, der gelegentlich vom „Scheiß-Krieg“ sprach, wenn die Rede darauf kam. Weizsäcker war schon am Überfall der Wehrmacht auf Polen dabei am 1. September 1939, einen Tag später fiel sein Bruder Heinrich. Beim „Unternehmen Barbarossa“ im Juli 1941 gehörte der Offizier Weizsäcker dazu, bis auf 35 Kilometer näherten sich deutsche Truppen, Panzer und Flugzeuge der Hauptstadt Moskau. Bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen 1947 war der Jura-Student Richard von Weizsäcker einer der Hilfsverteidiger seines Vaters Ernst von Weizsäcker, der als ehemaliger Staatssekretär im Auswärtigen Amt angeklagt und verurteilt wurde wegen der Deportation französischer Juden ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Er saß ein paar Jahre in Haft im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg/Lech, ehe er wegen einer allgemeinen Amnestie auf freien Fuß kam.
Der Sohn verteidigte den Vater
Zur Geschichte gehört, dass der Sohn Richard später die Verurteilung des Vaters als „historisch und menschlich ungerecht“ bezeichnete, der Historiker Norbert Frei(Friedrich-Schiller-Uni Jena und Leiter des Jena-Center Geschichte des 20. Jahrhunderts) jedoch vom „Ende der Weizsäcker-Legende“ sprach. So unterschiedlich sind die Ansichten, wenn wir auf die braunen Jahre zurückblicken, auf den Holocaust, auf die Bücher-Verbrennung, die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, auf den von Nazi-Deutschland entfesselten 2. Weltkrieg mit 55 Millionen Toten. Allein auf die Sowjetunion mit der Ukraine entfielen 27 Millionen Tote durch die Nazi-Aggression. Sie kamen um als Soldaten bei der Verteidigung gegen den deutschen Vernichtungswahn, sie starben in Kriegsgefangenenlagern, weil die Nazis sie dort buchstäblich krepieren ließen. Sie wurden in der Ukraine in Erdgruben gesteckt, wo die „Einsatzgruppen“ der SS Juden, Roma und Kommunisten zu Hunderttausenden durch Genickschuss ermordeten.
Zur Geschichte gehört, weil ich Weizsäckers Rede erwähnt habe und später noch aus ihr zitieren werde, dass das mit der Moral damals so eine Sache war. Man kann das nachlesen u.a. über einen Dialog, den die Schriftsteller und Journalisten Marcel Reich-Ranicki und Frank Schirrmacher (FAZ) in den 90er Jahren führten zum „Gutachten über das Amt und die Vergangenheit“. Da äußerte sich der sprachlich nicht immer zimperliche Marcel Reich-Ranicki, die Weizsäckers hätten „mehr Dreck am Stecken als sie zugäben“. Und Schirrmacher stellte in dem Dialog die „Glaubwürdigkeit des Unschuldsengels Richard von Weizsäcker infrage“. Harter Tobak. Und zur Geschichte gehört natürlich, dass dieser Reich-Ranicki einst die Hölle des Warschauer Juden-Ghettos überlebte, seine Eltern und sein Bruder in Konzentrationslagern ermordet wurden.
Der 8. Mai also Tag der Befreiung, sagte Richard von Weizsäcker 1985, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit. Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa. Tag der Erinnerung. „Wir Deutsche haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können, ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.“ Wörtlich der Bundespräsident in der vielgepriesenen Rede, viel beachtet, mit Beifall bedacht, weil er uns allen ins Gewissen redete, wissend, was passiert war, was viele Deutsche mitgemacht hatten, im Sinne von Mitwirken und Leiden. Er wusste es auch.
Kein Tag zum Feiern
Aber klar stellte er auch fest: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern“, “ vor allem ein Tag der Erinnerung… und des Nachdenkens. Je ehrlicher wir ihn begehen, umso freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.“ Wo sich doch viele später als Widerstandskämpfer sahen, obwohl sie mitgemacht, mitgeschrieen und den rechten Arm in die Höhe gestreckt oder einfach weggeschaut hatten, wenn der Nachbar von der Gestapo abgeholt wurde oder andere einfach über Nacht verschwanden.
Lassen wir weiter den Bundespräsidenten reden: „Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren.. Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit… Und der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Menschliches Leid dürfe dabei nicht vergessen werden, aber: „Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn der Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai nicht vom 30. Januar 1933 trennen“. Der Tag der Machtergreifung, genauer: an diesem Tag wurde Adolf Hitler, der Vorsitzende der NSDAP, vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt.
„Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen.“ Mahnte das Staatsoberhaupt und plädierte dafür, den 8.Mai 1945 als Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“ Und eben ein Tag der Erinnerung und des Gedenkens „aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft, gedenken der sechs Millionen Juden, die in deutschen KZs ermordet wurden, gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihre Leben verloren haben, gedenken der eigenen Landsleute, die als Soldaten und/oder bei Fliegerangriffen und/oder bei der Vertreibung getötet wurden. Gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mussten..“
Gegen Feindschaften und Hass
Vorurteile, Feindschaften, Hass, das alles habe Hitler geschürt, erinnerte Weizsäcker, der „die Bitte an die jungen Menschen“ nachschob: „Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen und Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander. ..Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht.“
Das alles könnte, sollte man dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zurufen, wenn der denn zuhörte und nicht den 9. Mai nicht nur als Tag des Sieges über Nazi-Deutschland rühmte, sondern vielmehr den 78. Jahrestag des Kriegsendes dazu missbrauchen würde, dem Westen vorzuwerfen, er versuche „Russland zu zerstören“. Wenn Putin aufhören würde davon zu reden, dass dieser Westen „gegen unser Vaterland einen Krieg entfesselt“ hätte. Er sprach von Krieg und nicht mehr von der russischen Spezialoperation und vom internationalen Terrorismus gegen Russland. Dabei war und ist es doch eine russische Invasion, sind es Bomben und Raketen Russlands gegen die Ukraine seit Februar 2022. Es gibt Menschen in Russland, die Putins Narrativ nicht glauben, weil sie den Krieg hassen, weil Krieg Tod bedeutet, Zerstörung, noch mehr Hass und Feindschaft bringt. Die SZ hat ein Gespräch mit einem ehemaligen russischen Soldaten geführt, der sich auflehnt gegen die Lügen des Kreml-Chefs. Der Mann mit seinen 98 Jahren weiß, wovon er redet, Versöhnung ist ihm lieber als Krieg.
Wenn am heutigen Tag russische Fahnen nicht nur in Berlin gezeigt werden, würde ich das hinnehmen, auch wenn damit Putins Angriffskrieg legitimiert werden sollte. Stattdessen stünde uns Deutschen Demut gut zu Gesicht und Schweigen angesichts der Millionen Opfer auf sowjetischer Seite. Wer will, kann sich noch bedanken für die Befreiung, an der die Rote Armee beteiligt war, die auch dafür sorgte, dass das schlimmste KZ der Nazis in Auschwitz am 27. Januar 1945 befreit wurde. Man kann sich das russische Denk- und Mahnmal angesichts der Zehntausenden von Toten auf den Seelower Höhen anschauen, wo die letzte Schlacht stattfand, ehe es um Berlin ging. Ich war vor Jahren da mit meinem Schwager, der dort als 17jähriger Soldat seinen rechten Arm verlor und von sowjetischen Ärzten zusammengeflickt wurde, wie er später schilderte. Sonst wäre er verblutet. Auch das gehört zur Geschichte.