Der 8. Mai 1945 ist der Tag der Kapitulation von Nazi-Deutschland. Ein Tag der Befreiung, wie Richard von Weizsäcker es uns bei seiner bewegenden Rede am 8. Mai 1985, also 40 Jahre danach, ins Stammbuch schrieb. Befreit durch die Alliierten vom Joch der Hitler-Diktatur, durch Amerikaner, Briten, Franzosen und Sowjets. Weite Teile des Landes waren zerstört, Bilder, die ich gestern Abend im Bayerischen Rundfunk sah aus Anlass des 80. Geburtstages des Kabarettisten, Komikers und Schauspielers Gerhard Polt. Das zerstörte München. Trümmer, nichts als Trümmer, Bilder, die erinnern an aktuelle Bilder aus Kiew, Mariupol und wie die von russischen Bomben und Granaten zerschundenen ukrainischen Städte auch heißen.
Bleiben wir noch bei München, das ich ersetzen könnte durch Hamburg, Berlin, das Ruhrgebiet, Würzburg, Köln. Man kann das nachlesen in einem feinen Buch aus Anlass des 75jährigen Bestehens der „Süddeutschen Zeitung“. Es ist aus der Feder von Werner Friedmann, Gründungs-Herausgeber der SZ. Er schrieb in der Nummer zwei des Blattes seine Eindrücke über seine geliebte Stadt München nach 12 Jahren NS-Herrschaft nieder, erschütternd: „..die strahlende Stadt, die vom anklagenden Gerippe der Frauenkirche bis zum Siegestor, von der Bavaria bis zur zerschmetterten Peterskirche, vom Nockherberg bis zum Nymphenburger Schloss nur noch ein Torso ist- aus tausend Wunden blutend.“ Und er macht die Menschen dafür verantwortlich, „die in ihr wohnten und Irrwege gingen, die unüberlegt oder verführt, den Sinn des Lebens mißverstanden und heitere Lebenslust in finstere Eroberungssucht umwandelten.“ Die „die ehrwürdigen Traditionen einer Musenstadt mit den fröhlichen Begleitkulissen des Starkbiers und des Oktoberfestes vergaßen und statt dessen marschierten, uniformierten, sich zu Sklaven einer angriffslustigen Kriegsmaschinerie machten und sich von verlogenen, wahnwitzigen Parolen locken ließen.“ Aus der Musenstadt München mit all ihren Tempeln der Fröhlichkeit und der Kunst wurden tote Steine, getürmte Trümmer.Vergessen wir das nie.
Aber trotz allem findet der große Journalist und Verleger Friedmann Worte des Trostes und der Hoffnung in all dem Elend, das sich seinen Augen bietet, denn München soll kein Grab werden, „das ewige München darf nicht sterben, nach den schwersten Jahren seiner vielhundertjährigen Geschichte“. Man möge „einander die Hände geben und gemeinsam den Irrtum einer Generation bezahlen und aufbauen, dass aus ausgebrannten Steinhöhlen und zerschmetternden Fassaden ein neues München wachse- schön und strahlend wie ehedem.“ Große Worte eines Mannes, der Verfolgung und Krieg erlebte und überlebte.
Ende der Schreckensherrschaft
Ich schreibe das heute auf, am 8. Mai 2022, weil die meisten Menschen hier und anderswo nicht mehr wissen, wie es war, als es zu Ende ging mit der Schreckensherrschaft der Nazis in weiten Teilen Europas. Am 8. Mai 1945 begann eine neue Zeit, nicht die Stunde Null, die es nicht gibt, wie Weizsäcker uns lehrte. Aber es begann die Zeit der Demokratisierung von Deutschland-West, während der Osten, gemeint die neue DDR, die die Nazi-Herrschaft gegen die kommunistische tauschte. Damit will ich ausdrücklich keinen Vergleich anstellen. Aber frei waren die Menschen in Mitteldeutschland nicht, sie genossen keine Presse- und Meinungsfreiheit, keine Reisefreiheit, und das Wahlrecht, das sie hatten, war verlogen. Denn es herrschte eine Partei, die SED, die SPD war verboten, die anderen waren praktisch die Steigbügelhalter der KP-Genossen um Walter Ulbricht, die wiederum von der Sowjetmacht gestützt wurde.Dazu die Stasi, eine kriminelle Organisation des SED-Staates.
Wie es damals hier im Westen aussah, beschreibt auch Ian Kershaw in seinem Buch „Höllensturz“, Europa 1914 bis 1949. Als Alfred Döblin(Berlin, Alexanderplatz) nach 12 Jahren Exil nach Deutschland zurückkehrte, sah er Städte, „von denen wenig mehr als die Namen existierten.“ Eisenbahnnetze, Kanäle, Brücken, Straßen von Bomben oder Truppen auf dem Rückzug zerstört, vielerorts kein Gas, Strom oder Wasser. Nur unter großen Schwierigkeiten, schildert Döblin, seien Lebensmittel und Medikamente zu bekommen, der Winter nahte und Heizmaterial sei knapp gewesen. Viele litten an Unterernährung, wurden krank vom nagenden Hunger. Dazu die Wohnungsnot, die meisten Häuser waren beschädigt oder völlig kaputt. 12 Millionen-oder waren es 14- Flüchtlinge und Vertriebene waren auf dem Weg vom Osten in den Westen und suchten eine Unterkunft, irgendwo, irgendwie. Bei Kriegsende hätten 50 Millionen Menschen in Deutschland nur behelfsmäßig in Trümmern und Ruinen leben müssen. Um das nicht zu vergessen: Im westlichen Teil der von den deutschen Besatzern verwüsteten Sowjetunion hätten 25 Millionen Menschen kein Dach über dem Kopf gehabt. So Ian Kershaw.
Soll man feiern oder gedenken? Wer damals überlebte, war froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Wie Werner Friedmann und Millionen andere. Aber seine Generation musste auch mit dem Makel leben, die Nazis gewählt und diese gestützt, mitgemacht zu haben. Weit über zehn Millionen Mitglieder zählte die NSDAP, die sogar wegen des großen Andrangs einen Aufnahmestopp in die Partei verhängte. Nach 1945 wollte keiner dieser Partei angehört haben, plötzlich waren viele Widerständler. Und wer Richard von Weizsäckers Rede am 8.Mai 1985 noch im Ohr hat, vergisst nicht, was er den Älteren sagte, ins Gewissen redete, dass sie weggeschaut hatten, als die Gestapo jüdische Mitbürger abholte, um sie in die KZs zu treiben, wo sie vergast wurden, erschossen, verhungerten. Sechs Millionen Juden ermordeten die Nazis. 27 Millionen Opfer gab es im Gebiet der Sowjetunion , 9 Millionen Tote hatte die Ukraine zu beklagen.
Ein geschundenes Land
8. Mai 2022. Es ist wahr, die Ukraine ist ein geschundenes Land. Denn unter Stalin ging es den Menschen dort kaum besser. Der Holodomor, die von Stalin angeordnete Hungersnot, kostete sechs Millionen Ukrainern das Leben. Sie gedenken des Endes des 2. Weltkrieges am 8. Mai, sie feiern nicht mehr wie Putins Russland den Sieg über Hitler-Deutschland am 9. Mai. Ich kann sie verstehen, die Ukrainer, aber auch die Russen, ich meine hier nicht Putin. Die Russen feiern den Sieg im großen vaterländischen Krieg, als Stalin und die Rote Armee unter riesigen Verlusten die Nazi-Wehrmacht, die kurz vor den Toren ihrer Hauptstadt Moskau stand, von ihrem Territorium vertrieb. Bei all den Besuchen in Moskau und Gesprächen mit Russen tat ich mich wie andere Deutsche schwer, auf die Verbrechen der Sowjets, begangen an Deutschen, hinzuweisen. Schließlich hatten die Deutschen die Sowjetunion überfallen am 22. Juni 1941. Und sie hatten, was ihnen über den Weg lief, umgeknallt, oder festgenommen und die sowjetischen Soldaten zur Zwangsarbeit gezwungen, Hunderttausende gefangene Soldaten hatten die Nazis schlicht und einfach verhungern lassen. Und ich verstehe die Ukrainer, wenn sie sagen: Was gibt es denn zu feiern? Zumindest nicht am 9. Mai gemeinsam mit den Russen, dem eigentlichen Brudervolk, das aber durch Putins Angriffskrieg Kiew und andere Teile des Landes zerstören will. Es ist so sinnlos, was die Russen in der Ukraine machen, bomben und töten, zerstören, vernichten. Wollen sie die Ukraine oder große Teile des Landes unbewohnbar machen? Wer soll das verstehen?
Nie wieder, hieß es nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland, nie wieder Krieg. Wir haben, ich habe keinen Krieg persönlich erlebt, den 2. Weltkrieg habe ich nur durch die Sirenen in der Erinnerung, die uns nachts wachrüttelten, damit die Eltern mit uns Kinder in die nächsten Bunker eilen konnten. Aber seit 1945 hat die Bundesrepublik keinen Krieg erlebt. Das Motto des ukrainischen Gedenktages heißt: Nie wieder, wenngleich das Land schon 2014 wieder eine Besatzung erlebte, die Krim, die Putin annektieren ließ. Nie wieder, heißt für die Ukrainer auch nie wieder vergessen, was man ihr und ihren Menschen angetan hat und antut. Nie wieder Krieg und Verbrechen. Befreiung von Furcht und Terror, von Bomben, von Angst, Leben in Sicherheit und Wohlstand. Wie sollen sie feiern, wenn das Land in Alarmbereitschaft ist vor dem russischen Feiertag?!
77 Jahre Frieden
8. Mai 1945. Das sind 77 Jahre her. 77 Jahre Frieden in Deutschland, man kann auch sagen: Frieden vor Deutschland, weil wir eingebunden sind in die Nato, die Europäische Union. Niemand muss sich vor uns fürchten, auch nicht vor der EU oder der Nato, der bald Finnland und Schweden beitreten wollen, das Baltikum ist längst integriert wie auch Polen und Tschechien, Länder, die früher dem Einflussbereich der Sowjetunion angehörten. Die Furcht ist groß in den Ländern, dass der großmannssüchtige Wladimir Putin sie mit Gewalt zurück ins Sowjet-Reich holen will, was sie aber nicht wollen.
77 Jahre Frieden. Heißt, 77 Jahre Konflikte gemeinsam gelöst, friedlich die Interessen ausgeglichen, nicht durch Kriege. Das ist uns selbstverständlich geworden. Wie unsere Demokratie, die aber auch Demokraten braucht, die darauf achten, dass sie niemand zerstört, dies notfalls mit Kampf. Denn es gibt natürlich auch bei uns im Lande Kräfte, die das politische System untergraben wollen. Nicht umsonst gibt es hier und da die Warnung: Wehret den Anfängen!
Bundeskanzler Olaf Scholz hat Recht mit seiner Mahnung: Wir werden der bedrängten Ukraine jede mögliche Hilfe an Waffen und Geld, an moralischer Unterstützung zukommen lassen, aber wir werden auch darauf achten, dass der Krieg Putins nicht überschwappt auf die übrige Welt, dass es keinen Atomkrieg gibt. Putin muss das wissen. Krieg kennt nur Verlierer, Tote und Zerstörung, Hass statt Liebe. Denken wir daran, wenn wir gedenken oder feiern.
77 Jahre Frieden in Europa? Der Angriffkrieg auf Jugoslawien war demnach nur eine militärische Spezialoperation?