Es war eine Revolte der Arbeiter im sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat DDR, als am 17. Juni 1953 in der gesamten Ostzone, wie wir das Land nannten, eine Million Menschen auf die Straßen gingen, um für bessere Löhne zu demonstrieren, dann aber auch für freie Wahlen. Die Sowjetherrschaft in Ostberlin setzte ihre Panzer in Marsch, die den Aufstand zermalmten. Es kam zu mindestens 55 Toten. Nachher war dieser Tag für uns im Westen ein Feiertag, der Tag der Einheit, wie er hieß, der besser Tag der Demokratie geheißen hätte, der Meinungsfreiheit, überhaupt der Freiheit. Das SED-Regime konnte sich nur mit Hilfe der Sowjets retten und deren Militär. Oder wie der Berliner „Tagesspiegel“ es in seiner Sonntagsausgabe formulierte: „Es sind die gleichen Panzer, die Deutschland und die Welt wenige Jahre zuvor vom Nationalsozialismus befreit haben. Panzer, die nun die kommunistische DDR retten sollen, die sich nur noch mit Gewalt an der Macht halten kann.“
Wir haben über den 17. Juni im Geschichts-Unterricht nicht diskutiert, leider. Wichtiger war für den Lehrer der Unterricht über die wilhelminische Zeit, über den 1. Weltkrieg, die Weimarer Republik, Hitler und der Nationalsozialismus fanden in der Schule nicht statt. Noch einmal: Leider. Es wäre spannend gewesen, gerade von unserem Studienrat in Deutsch, Französisch und Geschichte mehr über die Zeit zu erfahren, zumal Adam N. aus Rumänien stammte. Er hasste verständlicherweise den Kommunismus, das war es dann auch bis zum Abitur. Wir machten unsere Berlin-Fahrt, das war spannend, Berlin hinter Mauer und Stacheldraht zu erleben. Eine andere Welt in ein und derselben Stadt, die geteilt war. Wie die Welt geteilt war und Berlin war das Symbol dafür. Und die Teilung und die damit einhergehenden Beschränkungen für die Menschen wurden Russland angelastet, der Sowjetunion, Stalin. So prägte sich uns das Bild ein vom Kommunismus, der angeblich die Welt erobern wolle mit aller Gewalt.
Als Stalin starb
Der 17. Juni 1953. Dazu gehörte, dass Josef Stalin am 5. März starb. Einer der schlimmsten Diktatoren. Der „Tagesspiegel“ zitiert ein paar Verse auf den Sowjetherrscher: „Gedenke Deutschland, deines Freunds, des besten. O danke Stalin, keiner war wie er.“ Zeilen aus der Feder des DDR-Dichters Johannes R. Becher, „wohl aus Furcht, dass ohne Stalin die schwache DDR scheitern würde.“ Vermutet der Autor der wirklich lesenswerten Tagesspiegel-Story „Der verdrängte Aufstand“, Robert Ide, der in Berlin-Pankow aufgewachsen ist. Und der über Stalin äußert: „Der Mann, der im Pakt mit Hitler gewaltsam Polen aufteilte. Der Mann, der Deutschlands Weltkrieg vor Stalingrad stoppte. Der Mann, der Millionen Menschen rettete durch die Erlösung vom Nationalsozialismus. Der Mann, der Millionen Menschen tötete für seinen Wahn von der sozialistischen Weltmacht Sowjetunion. Der Mann, der Deutschland mit den Westalliierten in zwei Hälften teilte.“ Stalin war der Mann mit der „allumfassenden terroristischen Gebrauch der Staatsgewalt“, der Millionen Sowjetbürger zum Opfer fielen. (Heinrich August Winkler: Werte und Mächte) So viel Angst und Schrecken verbreitete Stalin, „dass seine engsten Untertanen ihn nach einem Schlaganfall in seiner Villa tagelang verenden ließen- aus Furcht, das Falsche zu tun, taten sie nichts.“(Tagesspiegel)
Die DDR und Demokratie? Nein, das war es nie, was man in Ostberlin politisch aufzog. Man vereinte KPD und SPD zur SED, mit Gewalt allerdings geschah dies. Gegner landeten oft in Gefängnissen. Meinungsfreiheit wurde bestraft, im Lande hatte allein die SED das Sagen. Menschen flohen in Massen Richtung Westen, wo der Aufschwung dank des Marshall-Planes funktionierte und es vielen zusehends besser ging, während das Normen-System den Arbeitern mehr abverlangte, ohne dass es sich in ihrem Geldbeutel bemerkbar machte. So wuchs die Unzufriedenheit. Und als man dann die Normen erhöhen wollte, knallte es in der DDR. Man rief zu Streiks auf angesichts der miserablen Wirtschaftslage. Auf der Stalin-Allee in Berlin legen erste Arbeiter die Arbeit nieder. Die Rote Armee wurde von ihren Sommermanövern in die Kasernen zurückbeordert. Es herrschte Alarmstimmung in Berlin. Der „Rias“(Rundfunk im amerikanischen Sektor, Chefredakteur ist ein gewisser Egon Bahr) sendet: „Die Arbeiter haben durch ihren Streik und ihre Demonstrationen bewiesen, dass sie in der Lage sind, den Staat zur Bewilligung ihrer berechtigten Forderungen zu veranlassen. Die Arbeiter werden von der Möglichkeit jederzeit wieder Gebrauch machen, wenn die Organe des Staates und der SED nicht unverzüglich folgende Maßnahmen einleiten: 1. Auszahlung der Löhne nach den alten Normen…2.Sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten. 3.Freie und geheime Wahlen. 4. Keine Maßregelung der Streikenden und ihrer Sprecher.“
Am nächsten Tag, dem 17. Juni, kam es zu Aufständen in Bitterfeld, Halle, Jena, Magdeburg, in Leipzig fuhren Panzer auf, so der Tagesspiegel. In Dörfern hätten Bauern die örtliche SED-Führung abgesetzt. Eine Million Menschen hätten in 700 Orten des Landes demonstriert.
Mit Steinen gegen Panzer
Und doch nannte die DDR-Führung den Aufstand später „als vom Westen gesteuert“. Unter Berufung auf den Sender Rias, der die Forderungen der Streikenden verbreitet hatte. Dabei war es der Westen, war es der US-Direktor des Rias, der Egon Bahr anwies, wie die Zeitung schreibt, die Forderungen nicht länger zu senden. „Wollen Sie, dass der Rias einen dritten Weltkrieg auslöst?“ habe der US-Direktor Egon Bahr gefragt.
Man kennt die Bilder, als Menschen in Ostberlin Steine gegen Panzer warfen. Kindisch, mag man einwenden, ich kann mich an ein Foto erinnern, das einen jungen Steinewerfer zeigte, wie er anscheinend furchtlos einen Stein auf den Panzer warf. Ich hoffe, der Junge hat überlebt, ist nicht verletzt oder verhaftet worden.
Robert Ide betont in seinem Report, der 17. Juni sei “ ein erstes Aufbegehren in Europa gegen den Imperialismus des Kreml“ gewesen. Es folgten weitere 1956 in Ungarn, niedergeschlagen von Panzern. Tausende flohen ins benachbarte Österreich, fast die gesamte berühmte Fußball-Nationalmannschaft mit Ferenc Puskas(1954 im Endspiel um die WM gegen Deutschland mit Fritz Walter 2:3 verloren) verließ das Land. Puskas spielte dann bei Real Madrid, Jahrzehnte später sah ich ihn kurz in Bonn, da übernahm der älter gewordene Puskas kurz die Betreuung der Fußball-Elf des deutschen Bundestages. 1968 kam es zum Aufstand in Prag gegen das kommunistische System, Panzer beendeten die Träume von freien Wahlen und Reisefreiheit, den sogenannten „Prager Frühling“. Später folgte die „Solidarnosc“ in Polen mit Lech Walesa. Ehe 1989 die Mauer fiel, weil Michail Gorbatschow keine Panzer mehr in Marsch setzte gegen Freiheitsbewegungen in Osteuropa.
Der Tagesspiegel erinnert auch an einen gewissen Wladimir Putin, den früheren Geheimdienstagenten, „der die ruhmreiche Sowjetunion wieder auferstehen lassen will“. Er erinnert an den Imperialismus des Kreml und den Terrorkrieg Russlands mitten in Europa. Ja, man darf am 17. Juni daran erinnern, an den Mut der Menschen, aufzustehen und zu protestieren, zu demonstrieren für Freiheit und Gerechtigkeit.
„Von westlichen Agenten initiierter faschistischer Putschversuch“, so die Deutung der SED des Aufstands vom 17. Juni 1953. Robert Ide verweist auf das Buch von Katja Hoyer(ich habe es noch nicht gelesen), in dem die Autorin versuche, die DDR-Diktatur weich zu zeichnen. Frau Hoyer könne die SED-Deutung des Aufstands durchaus nachvollziehen. Das hat es schon mehrfach gegeben, wodurch die Interpretation nicht richtiger wurde. Die DDR war nie eine Demokratie. Es gab nie freie Wahlen, keine freie Presse, keine Reisefreiheit. Durch den Mauerbau schloss man sich ein und die 16 Millionen Menschen dahinter mit. Es gab einen Schießbefehl. Wer die Mauer überwinden wollte, musste damit rechnen, erschossen zu werden. Es gab mindestens 140 Tote zwischen 1961 und 1989. Darüber hinaus starben mindestens 251 Reisende während oder nach Kontrollen an Berliner Grenzübergängen. Dazu das Stasi-System, Tausende und Abertausende wurden überwacht, terrorisiert, eingesperrt. Ich habe das Gefängnis Hohenschönhausen in den 2000er-Jahren besichtigt, hier waren politische Gefangene inhaftiert, eine Hölle auf Erden.
Die DDR kein Unrechtsstaat? Womit ich nicht behaupten will, dass wir im Westen bessere Menschen waren. Wir hatten nur das Glück, auf der richtigen Seite leben zu dürfen. Uns ging es materiell besser. Ich habe mich damals gefreut, als die Mauer fiel, weil sie hässlich war, weil ich sie für unmenschlich hielt, sie trennte über Jahrzehnte Familien und Freunde. Aber ich habe mich nicht über die Menschen im Osten erhoben. Oder auf sie herabgeschaut. Warum auch? Sie haben wie andere eine Lebensleistung vorzuweisen, blicken auf Erfolge und Misserfolge, wie wir. Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl hat einmal- Jahre ist es her- in einer Diskussion gesagt: „Ich wüsste nicht, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich drüben hätte leben müssen“. Damit hat der Mann, der als Kanzler der deutschen Einheit gilt, eigentlich alles gesagt. Helden sind selten, man schaue auf die Friedhöfe. Lassen wir die Heuchelei.
Zuletzt ein Zitat von Bertolt Brecht, entnommen dem Tagesspiegel: „Nach dem Aufstand am 17. Juni ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes in der Stalinallee Flugblätter verteilen, auf denen zu lesen war, dass das Volk das Vertrauen in die Regierung verscherzt habe und es nur durch doppelte Arbeit zurückerobern könne. Wäre es da nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes.“
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