Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) hat angekündigt, ihren vor zehn Jahren erworbenen Doktortitel nicht mehr zu führen, um „weiteren Schaden“ von Familie, Amt und Partei abzuwenden. Der bereits entstandene Schaden ist nur schwer abzuschätzen, aber ihre Doktorarbeit, berufsbegleitend zur Tätigkeit in der Berliner Kommunalverwaltung angefertigt, wird ihre eigene politische Karriere zumindest bremsen und die FU Berlin nicht aus der Pflicht entlassen, den Plagiatsvorwürfen in einem neuen Prüfverfahren nachzugehen. Der Scherbenhaufen, den das erste Verfahren hinterlassen hat, das mit einer umstrittenen „Rüge“ endete, ist für die FU nicht einfach so zu beseitigen. Einen Doktortitel kann man ohnehin nicht zurückgeben, erst ein formelles Prüfverfahren führt zu einer Belassung oder einem Entzug des Titels.
Geschadet hat die Ministerin auch ihrem Haus, dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Denn nur zwei Tage vor ihrem „Verzicht“ veröffentlichte das BMFSJF den 16. Kinder- und Jugendbericht. Ein derartiger Bericht muss in jeder Legislaturperiode des Bundestags vorgelegt werden, diesmal sind es über 600 Seiten geworden. Das Hauptthema ist der kritische bis mangelhafte Zustand der politischen Bildung insbesondere junger Menschen. Die Medien haben darüber bisher allenfalls am Rande berichtet, trotz aktueller Bezüge zur Corona-Krise, in der das Lernen von Kindern und Jugendlichen stark beeinträchtigt ist und sich soziale Ungleichheiten weiter verschärfen. Die Chance für die Ministerin, daraus ein Thema zu machen, ist zumindest vorerst verpasst.
Der Bericht bestätigt eigene Beobachtungen, die ich seit Jahren im Kontakt mit Studierenden, also unserer zukünftigen Bildungselite, mache. Es mangelt sehr häufig an Wissen und Kompetenz um die banalsten politischen Zusammenhänge und aktuellen Themen. Selbst viele derjenigen, die z. B. Journalisten werden wollen, haben keine Zeitung, die sie regelmäßig lesen, keine TV-Magazine, die sie zumindest hin und wieder konsumieren. So verständlich es ist, dass sie die Flut der Talkshows im Fernsehen ignorieren, so wenig kann man nachvollziehen, dass sie sich in erster Linie durch die sozialen Medien ausreichend informiert fühlen. Das ist aus meiner Sicht ein Beleg für mangelnde Informationskompetenz.
Der Kinder- und Jugendbericht zur „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“, erarbeitet von einer 14-köpfigen Sachverständigenkommission, nimmt viele unterschiedliche Facetten des Themas in den Blick, unter anderem auch die Folgen der Digitalisierung für die politische Bildung. Zum Informationsverhalten in Zeiten von WhatsApp, YouTube und Co. heißt es z. B.: „Jugendliche bevorzugen zur eigenen Information kurze Videos und Texte. Das heißt, die Realität ergibt sich nicht mehr aus redaktionellen Erzählungen, sondern wird aus Clips und Textversatzstücken assoziativ zusammengesetzt. Filterblasen können dann für ein ‚persönliches Informationsuniversum‘ sorgen, da sowohl Suchmaschinen als auch soziale Netzwerke algorithmusbedingt vorwiegend ausgewählte Informationen anzeigen, die zu dem eigenen Profil und den eigenen Interessen passen. Meinungsdiskurs findet nicht mehr statt.“
Nun ist die Relevanz von „Filterblasen“ in der Kommunikationsforschung umstritten bzw. deren Bedeutung sollte nicht überbewertet werden, da es durchaus noch andere Informationsquellen gibt, aus denen sich Jugendliche informieren. Aber in der Tat ist die mangelnde Tiefe der Informationen in den sozialen Medien, das Fehlen von fundiertem Hintergrund und kritischer Analyse, also die im Bericht so genannte „redaktionelle Erzählung“, auch für mich des Pudels Kern. Apropos Goethe oder um mit Faust zu sagen, worum es geht: „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält.“
Der Bericht kritisiert in diesem Zusammenhang auch unser Rundfunksystem, dessen Fragmentierung schon lange erkennbar ist und bereits seit der Einführung der Fernbedienung den Slalom um Informations- und Bildungsprogramme herum zu einem Breitensport gemacht hat. Insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk kriegt sein Fett weg: „Von den Angeboten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten fühlen sich Jugendliche … kaum noch angesprochen, sie bevorzugen neben YouTube das unterhaltende Infotainment der privaten Sender. Nachrichten werden außerdem oft dort rezipiert, wo sie leicht auffindbar und in die Alltagskommunikation eingebettet sind – also auch in den Angeboten auf Social-Media-Plattformen.“
Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der eine elementare öffentliche Aufgabe hat, die das Bundesverfassungsgericht in all seinen Rundfunkurteilen immer wieder hervorzuheben bemüht war, sollte folgender Satz ein Alarmsignal sein: „Die Kommission sieht es als gravierendes Problem an, dass der gebührenfinanzierte audiovisuelle öffentlich-rechtliche Rundfunk mit Ausnahme des Onlineangebots ‚funk‘ Jugendliche als potenzielle Zielgruppe dramatisch vernachlässigt und damit gesellschaftliche Legitimität verspielt. Insbesondere eine Grundversorgung mit professionellen Medienangeboten für Kinder und Jugendliche im Bereich politisch bildnerischer Formate wird gebraucht, um Grundbedingungen für eine demokratisch-digitale Selbstbestimmung und ein kritisch-reflexives Bewusstsein zu schaffen.“
Über manche Beobachtungen und Analysen des Berichts lässt sich trefflich streiten, hierüber meines Erachtens aber nicht. Die parlamentarischen Beratungen zum Thema stehen erst noch bevor. Man kann nur hoffen, dass die öffentliche Rezeption nicht zu sehr durch die politischen Turbolenzen, in die Ministerin Giffey geraten ist, beeinträchtigt wird. Der Bericht enthält deutliche Hinweise auf Handlungsbedarfe nicht nur für die politischen Akteure. Es wäre wichtig, wenn daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet würden, die den Ursachen für die beklagte fehlende politische Bildung auf den Grund gingen und dort gegensteuerten, wo es noch möglich ist. Die traditionellen Medien, also Presse und Rundfunk, spielen dabei für mich neben Familie und Schule eine wesentliche Rolle. Wenn die Medien nicht nur über den „Fall Giffey“, sondern auch über den 16. Kinder- und Jugendbericht umfassend informierten, wäre beides ein Beitrag zur politischen Bildung – auch für Erwachsene.